Gerok, Karl von - Andachten zum Psalter - Psalm 137.
(1) An den Wassern zu Babel saßen wir, und weinten, wenn wir an Zion gedachten. (2) Unsere Harfen hingen wir an die Weiden, die darinnen sind. (3) Denn daselbst hießen uns singen, die uns gefangen hielten, und in unserem Heulen fröhlich sein: Lieber, singt uns ein Lied von Zion. (4) Wie sollten wir des Herrn Lied singen im fremden Lande? (5) Vergesse ich dein, Jerusalem, so werde meiner Rechten vergessen. (6) Meine Zunge müsse an meinem Gaumen kleben, wo ich deiner nicht gedenke, wo ich nicht lasse Jerusalem meine höchste Freude sein. (7) Herr, gedenke der Kinder Edoms am Tage Jerusalems, die da sagen: Rein ab, rein ab, bis auf ihren Boden. (8) Du verstörte Tochter Babel, wohl dem, der dir vergilt, wie du uns getan hast. (9) Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt, und zerschmettert sie an den Stein.
„Selig sind, die da Heimweh haben, denn sie sollen nach Hause kommen.“ An diesen schönen Sinnspruch des frommen Heinrich Stilling kann uns auch wieder der eben vernommene Psalm erinnern. Er ist ein Lied des Heimwehs, ein Lied von wunderbarer Schönheit, voll tiefer Schwermut und glühender Sehnsucht. Ein Lied freilich zunächst des leiblichen Heimwehs nach dem irdischen Vaterland, gesungen in der Gefangenschaft zu Babel von einem frommen Israeliten während der siebzig Jahre der Verbannung. Aber schon in der Seele des frommen Sängers ist die Sehnsucht nach der irdischen Heimat zugleich eine Sehnsucht nach dem Herrn, ein Heimweh nach dem Haus des Herrn, nach den schönen Gottesdiensten des Herrn, wie sie auf Zion und Moria ihre Wohnung hatten; und so findet dieses schöne Trauerlied gewiss heute noch Anklang in jeder frommen Seele, weil wir darin gleichnisweise ausgesprochen finden die Sehnsucht nach dem Herrn, das Heimweh nach dem Himmel, nach jenem neuen Jerusalem, das uns die Abendlektion des vorigen Sonntags mit den Worten der Offenbarung Johannis gleichsam in den Wolken gezeigt hat, wo es heißt: „Siehe da eine Hütte Gottes bei den Menschen, und er wird bei ihnen wohnen und sie werden sein Volk sein und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerzen wird mehr sein; denn das erste ist vergangen.“
Aber selig sind, die da Heimweh haben, denn sie sollen nach Hause kommen. Das hat sich leiblich und wörtlich erfüllt an jenen klagenden Israeliten, als sie nach erschöpftem Strafgerichte Gottes den heimatlichen Boden wieder betreten, die Mauern Jerusalems wieder aufrichten und im neugebauten Tempel an jenem ersten Laubhüttenfest, davon das Buch Esra meldet, wieder fröhlich in die langverstummte Harfe greifen und lobsingen durften: „Dankt dem Herrn, denn er ist freundlich und seine Güte währt ewiglich.“ Und auch wir, meine Lieben, wer von uns je den Druck dieser argen bösen Welt, das Joch der irdischen Knechtschaft mit Schmerzen gefühlt hat auf seiner gottgeschaffenen Seele, auf seinem unsterblichen Geiste; wer von uns, je recht innig das Verlangen nach Gott, die Sehnsucht nach der Ewigkeit, das Heimweh nach dem Himmel verspürt hat, der tröste sich der Hoffnung, die uns das Wort Gottes so feierlich in all seinen Verheißungen verbürgt und die unser eigen Herz in seinem innersten Grund immer wieder ergreift und durch nichts sich rauben lässt: „Selig sind, die da Heimweh haben, denn sie sollen nach Hause kommen.“
In diesem Sinn wollen wir unsern schönen Psalm uns auslegen und aneignen als:
Ein Lied des Heimwehs nach Jerusalem. Der fromme Sänger spricht aus:
- Die Schmach in der Fremde, V. 1-4.
- Die Sehnsucht nach der Heimat, V. 5-6.
- Den Zorn über die Feinde, V. 7-9.
1) Die Schmach in der Fremde
schildert uns der Psalmist gar rührend und ergreifend in den drei ersten Versen:
V. 1: „An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten.“ Babylonien war ein wasserreiches, fruchtbares Land, wie schon Sanherib es den Juden lockend schilderte, als er sie zum Abfall von ihrem König Hiskia aufforderte, 2. Kön. 18, 32: Ich will euch holen in ein Land, das eurem Lande gleich ist, da Korn, Most, Brot, Weinberge, Ölbäume, Öl und Honig innen ist. Die Stadt Babel war eine prachtvolle Residenz, ein Wunder der Welt, mit ihren zwei großen Königsburgen, mit ihren herrlichen Palästen, mit ihren hängenden Gärten, von der Königin Semiramis auf Dächern und Mauerterrassen gepflanzt, mit ihren ungeheuren Mauern, auf denen oben sechs Wagen nebeneinander fahren konnten, und mit ihren zwei Millionen Einwohnern. Der Euphrat, der seine Fluten mitten durch Babylon wälzte, war ein majestätischer Strom, mit dem der kleine stille Jordan sich an Größe nicht vergleichen konnte. Und doch unter all diesen Herrlichkeiten einer üppigen Natur, in diesem rauschenden Getümmel einer prächtigen Hauptstadt konnte es einem frommen Israeliten nicht wohl werden. Und wenn es auch an leichtsinnigeren, weltlich gesinnten Juden nicht fehlte, die sich fesseln ließen von den Reizungen der Fremde, die um Gewerbes und Gewinnes willen sich festsiedelten im Heidenland und nicht mehr heim wollten, auch als Cyrus die Erlaubnis gab, der echte Sohn Abrahams, der konnte über der Fremde die Heimat, über dem Euphrat seinen Jordan, über Babels Palästen seine Zionsburg, über dem äußeren Behagen die tiefe Schmach seines Volks nicht vergessen; der sah zürnend auf Babels Prachtpaläste, der saß schwermütig an des Euphrats rauschenden Wogen: „An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten.“
V. 2: „Unsere Harfen hingen wir an die Weiden, die darinnen sind.“ Gewiss hatten Tempelsänger und Leviten beim Wegführen aus der Heimat mit andern lieben Geräten auch ihr Liebstes mitgenommen, Psalter und Harfe, um vielleicht in der Fremde sich und ihr Volk durch Saitenspiel zu trösten und zu ermuntern, wie oft ein Heimwehkranker in der Fremde eins seiner heimatlichen Lieder sich selbst zum Troste singt, oder wie oft einem unterdrückten Volk in der Schmach der Knechtschaft wenigstens seine Nationallieder noch zur Aufrichtung und zur Vereinigung dienen, und eh es zum Schwert greifen kann, greift es zur Leier und sucht durch patriotische Gesänge die Herzen zu ermutigen, wie es in Deutschland unter der Franzosenherrschaft geschah vor 45 Jahren. Aber die trauernden Kinder Israels fanden keinen Mut und keine Lust zum Singen im fremden Land. Der Druck der Knechtschaft lastete zu schwer auf ihren Seelen, und wenn sie auch etwa hinauszogen ans Wasser, an ein stilles grünes Plätzchen, um da in der Einsamkeit fern vom Getümmel der Heidenstadt sich untereinander zu lehren und zu vermahnen mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen, lieblichen Liedern: nach den ersten Tönen erstickten Tränen ihre Stimme, nach den ersten Griffen sank ihnen das Saitenspiel aus der Hand und mutlos legten sie's beiseite, klanglos hingen ihre Harfen an den Ästen der Weiden, die das Ufer des Euphrat beschatteten.
V. 3: „Denn daselbst hießen uns singen, die uns gefangen hielten, und in unserem Heulen fröhlich sein: Lieber singt uns ein Lied von Zion.“ Fremde gesellen sich zu den trauernden Juden, Einwohner von Babel bleiben stehen im Vorübergehen und reden sie an, sei's mit gutmütigem Trost: Seid fröhlich statt zu weinen, ist's denn bei uns nicht gut wohnen? Oder mit unzarter Neugier: Ei lasst uns doch einmal eins eurer Tempellieder hören, spielt uns einen eurer Davidspsalmen auf. Oder gar mit leichtfertigem Spott: So, ihr hochmütigen Juden, ist euch das Singen denn ganz vergangen? könntet ihr uns nicht vielleicht eine eurer frommen Litaneien preisgeben? Aber:
V. 4: „Wie sollten wir des Herrn Lied singen im fremden Land?“ so antworten sie voll Zorn und Wehmut. Im fremden Land, wo man unsere Sprache doch nicht versteht; im fremden Land, wo man andern Göttern dient; im fremden Land, wo man unseres Glaubens spottet, nein da wäre es ja Frevel, da wäre es Entweihung, da hieße es die Perlen vor die Säue werfen und das Heiligtum den Hunden geben, wollten wir eins unserer heiligen Tempellieder preisgeben, wollten wir einen unserer erhabenen Davidspsalmen euch aufspielen, wie ein Bänkelsänger ums Geld sein Stücklein auf der Drehorgel herleiert! Wohlgesprochen, ihr Knechte vom Hause des Herrn. Ja, wir können uns ganz hineinfühlen in diesen heiligen Unmut über die Schmach der Gefangenschaft.
Ist's doch einem Bürger des geistlichen Zions, einem wahren Christen und echten Gotteskind heutzutage oft auch, als säße er gefangen an den Wassern zu Babel. Wenn wir das eitle Treiben der Welt mit ansehen, das Rennen nach Geld und Gut, das Jagen nach Lust und Genuss, das Zanken um Mein und Dein, das Lügen und Lästern über jedermann, das Leben in Laster und Sünde rings um uns her: ist's uns da nicht oft, als lebten wir in einem Babel statt mitten in einem christlichen Lande? Fasst uns da nicht oft ein tiefer Ekel an dieser Welt? - Wenn wir die Schmach ansehen, die auf dem Christentum, die namentlich auf unserer evangelischen Kirche heutzutage liegt, wie sie auf ihrem eigenen Grund und Boden sich muss misshandeln lassen nicht nur von Ungläubigen, sondern auch von solchen, die sich selber Christen, ja zum Teil von solchen, die sich evangelische Christen nennen, wie sie ihre Versammlungen muss verhöhnen, ihre Gottesdienste verlästern, ihre Bestrebungen verleumden, ihre Predigten verdrehen, ihre Ordnungen untergraben lassen, heißt's da bei einem redlichen Sohn seiner Kirche nicht auch manchmal: „Wir weinten, wenn wir an Zion gedachten?“ Wahrlich, da kann einem auch das Singen vergehen; da kann man oft auch nur mit Seufzen tun, was seines Amtes ist, nur mit gepresstem Herzen sein Morgen- und Abendgebet sprechen, und am liebsten möchte man seine Harfe an die Weiden hängen und seinen Hirtenstab dem Herrn zurückgeben. Und wenn man uns dann heißt, in unserem Heulen fröhlich sein; wenn dann die Leichtsinnigen sagen: Ei, lasst euch das nicht kümmern, haltet's mit uns, singt ein lustiges Lied; können wir das? Oder wenn dann die Ungläubigen sagen: Stimmt einen andern Ton an in euren Liedern und Predigten, predigt wie wir's gern hören, spielt auf nach unsern Noten, tanzt nach unserer Pfeife, gebt dem Zeitgeist nach, dürfen wir das? Wäre es nicht Verrat an unserm Teuersten, wäre es nicht Frevel am Heiligsten? Müssen wir nicht auch entgegnen: „Wie sollten wir des Herrn Lied singen im fremden Land?“ Das ist die Schmach der Fremde, von der wir in unserem Liede gesungen:
Muss ich nicht in Pilgerhütten unter strengem Kampf und Streit,
Da so mancher Christ gelitten, führen meine Lebenszeit,
Da oft wird die beste Kraft durch die Tränen weggerafft!
Aber in solcher Schmach glüht dann um so heißer auf:
2) Die Sehnsucht nach der Heimat,
wie der fromme Sänger sie ausspricht V. 5. 6.
V. 5: „Vergesse ich dein, Jerusalem, so werde meiner Rechten vergessen.“ Das heißt: vergesse ich soweit meine Pflichten gegen Jerusalem, dass ich mit dieser meiner Hand den Heiden aufspiele, wie sie's verlangen, so strafe mich Gott an meiner Rechten und lasse sie verdorren.
V. 6: „Meine Zunge müsse an meinem Gaumen kleben, wo ich deiner nicht gedenke, wo ich nicht lasse Jerusalem meine höchste Freude sein.“ Das heißt: wenn ich meine Zunge missbrauche in Babels Dienst statt zu Jerusalems Preis, so möge sie vertrocknen und verstummen. Welch heiße Sehnsucht nach der Heimat, welch feurige Liebe zum Vaterland, die auch viele Ströme nicht mögen auslöschen, die alle Wasser Babylons nicht können ersäufen! Ja, Kind Gottes, vergiss nicht deiner Heimat; lass die Sehnsucht nicht erlöschen, die in der Fremde das einzige Band ist zwischen dir und ihr. Als der mächtige Perserkönig Xerxes mit seinem gewaltigen Heer von den Griechen geschlagen und mit Schmach zurückgekehrt war in sein Land, da musste von dort an jeden Tag bei Tafel ein Sklave ihm in die Ohren rufen: Herr, gedenke der Griechen! damit er nicht vergesse, seine Erschlagenen zu rächen und seine Schmach wieder abzuwaschen im Blute der Feinde. Und als der junge Daniel in Glanz und Ehren zu Babylon lebte am Hofe des Königs Darius, da ließ er an seinem Sommerhaus offene Fenster bauen gegen Jerusalem und betete dreimal des Tags an diesen offenen Fenstern mit dem Antlitz gen Jerusalem, obgleich es bis dorthin 170 Meilen war.
So, meine Lieben, sollten auch wir Jerusalems, d. h. der Kirche Christi nicht vergessen mitten in ihrer Schmach. So sollten auch wir die Fenster offen, das Auge offen, das Herz offen behalten nach der himmlischen Heimat. Ja, vergesse ich dein, Jerusalem, so werde meiner Rechten vergessen! Schande über mich, wenn ich meinen Glauben verleugnete, meine Kirche im Stich ließe um der Schmach willen, die auf ihr liegt. Gerade um dieser ihrer Schmach willen soll sie mir um so teurer sein. Um so treuer soll ich zu ihr stehen, um so freier soll ich für sie zeugen, um so eifriger soll ich für sie wirken, um so lieber soll ich für sie geben, um so heißer soll ich für sie beten, um so fester soll ich für sie hoffen auf die Verheißung des Herrn: Dass auch die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen dürfen. Wehe mir, wenn ich unter den Leiden und Freuden dieser vergänglichen Welt nicht meine Fenster offen ließe gegen die Heimat, nicht Jerusalem ließe meine höchste Freude sein und meinen süßesten Trost; jenes Jerusalem, wo der Tod nicht mehr sein wird, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerzen; jene himmlische Heimat, wo Gott abwischen wird alle Tränen von den Augen der Seinen und wo die hienieden gesät haben mit Tränen, ernten werden mit Freuden. Aber wohl dem Pilger Gottes, der diese Heimat im Auge behält in guten wie in bösen Tagen und von Herzen einstimmt in den Seufzer frommer Sehnsucht:
Oder auserwählten Stätte voller Wonne, voller Zier,
O dass ich doch Flügel hätte, mich zu schwingen bald von hier
Nach der neuerbauten Stadt, welche Gott zur Sonne hat.
Aber nicht in solch sanften Tönen verklingt unser Lied, sondern nun greift der Psalmist in heißem Schmerz noch einmal grimmig in seine Harfe und singt in grellen Tönen:
3) Seinen Zorn über die Feinde,
V. 7-9, und ruft Gottes Rache über sie herab. Der Edomiter gedenkt er zuerst V. 7, die als böse Nachbarn schadenfroh zugesehen hatten beim Fall Jerusalems und die Feinde noch aufgehetzt: „Herr, gedenke der Kinder Edoms am Tage Jerusalems, die da sagen: Rein ab, rein ab, bis auf ihren Boden.“ Dann wendet er seinen Klageschrei und Racheruf gegen Babel selber:
V. 8: „Du aber, verstörte Tochter Babel (oder auch Zerstörerin), wohl dem, der dir vergilt, was du uns getan hast.“ Ja, noch mehr:
V. 9: „Wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt und zerschmettert sie an den Stein.“ Das ist freilich eine grelle Dissonanz, in welcher dieser Psalm endet; ein Ton, in welchen wir auf unserem neutestamentlichen Standpunkt nicht einstimmen können und dürfen. Wenn jetzt drüben in Ostindien jene wilden Muhamedaner und Heiden, die gegen die englische Herrschaft sich empören, solche Gräuel begangen, Frauen und Mädchen auf teuflische Weise misshandelt und dann in Stücke gehauen und Kinder vor den Augen ihrer Eltern am Stein zerschmettert haben, so empört sich jeder Blutstropfen in unsern Adern, dass solche Gräuel noch möglich sind in unserem Jahrhundert. Und wenn das englische Volk mit Recht die unerbittliche Rache des Gesetzes fordert gegen diese Unmenschen, so steht ihm als einem christlichen Volk bei aller gerechten Erbitterung dennoch der Grundsatz fest, es darf nicht Gräuel mit Gräuel vergolten, es darf nicht der Unschuldige mit dem Schuldigen vernichtet, es darf nicht gegen schwache Frauen und schuldlose Kinder gewütet werden.
Dass solche Grundsätze unerschütterlich feststehen im Bewusstsein der Christenheit, das, meine Lieben, verdanken wir dem milden Geist und sanften Gebot dessen, der da sprach: Liebt eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen.
Um aber doch diese furchtbaren Schlussworte unseres Psalms wenigstens zu verstehen, dürfen wir einige Punkte nicht außer acht lassen. Einmal schon das mehr äußerliche: Es ist ein Dichter, der hier spricht im Feuer der Begeisterung, und dieselbe Hand, die hier diesen scharfen Griff in die Saiten tut, hätte drum nicht auch mit dem Schwert in der Hand ausgeführt, was sie hier auf den Saiten lobt und billigt. Und dann: Die Kriegführung war damals noch eine so mörderische und barbarische, dass solche Gräuel von der Eroberung einer Stadt fast unzertrennbar waren. Weiter aber das Tiefere: Es ist nicht nur die Privatrache, welche der Sänger hier ausspricht, sondern er ist sich bewusst: es handelt sich um die Sache des Herrn, um die Ehre Gottes, und nur durch völlige Vernichtung seiner Feinde kann ihm der Triumph werden, der ihm gebührt. Wie denn endlich dieses Strafgericht über Edom und Babel durch Prophetenmund bereits angesagt war und bald nachher an Babylon namentlich durch Cyrus wirklich mit göttlicher Zulassung vollstreckt worden ist. Damit aber wir auch aus diesen scheinbar allzu herben Rachewünschen für uns noch eine Frucht und einen Segen mitnehmen, so wollen wir uns von den alten Auslegern erinnern lassen, dass jedes unter uns trägt noch einen Rest von Babel in seiner eigenen Brust, nämlich das ungöttliche Ich, das Fleisch mit seinen Lüsten und Begierden, und da gilt's auch die jungen Kindlein auszurotten, auch die kaum geborene Brut nicht zu schonen, nämlich die argen Gedanken und bösen Lüste, ehe sie groß werden und heranwachsen. So nur können wir gereinigt werden zu Gotteskindern und Zionsbürgern, würdig einzugehen ins himmlische Jerusalem, dessen Tore nur den reinen Herzen offen stehen. Dieser Kampf gegen alles Ungöttliche um uns und in uns, das sei unsere heiligste Aufgabe Tag für Tag. Dann erst werden wir einst als Sieger dorthin kommen, wo wir unsere Harfen von den Weiden nehmen und ein fröhliches Triumphlied anstimmen dürfen. Dann erst können wir zum Herrn bitten und hoffen:
Komm doch, führe mich mit Freuden aus der Fremde hartem Stand;
Hol mich heim nach vielen Leiden in das rechte Vaterland,
Wo dein Lebenswasser quillt, das den Durst auf ewig stillt!
Amen.