Gerok, Karl - Hirtenstimmen - 1. Predigt am Adventfest.
(1850.)
Röm. 13,11-14.
Und weil wir solches wissen, nämlich die Zeit, dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf (sintemal unser Heil jetzt näher ist, denn da wirs glaubten), die Nacht ist vergangen, der Tag aber herbei kommen, so lasst uns ablegen die Werke der Finsternis, und anlegen die Waffen des Lichts. Lasst uns ehrbarlich wandeln, als am Tage, nicht in Fressen und Saufen, nicht in Kammern und Unzucht, nicht in Hader und Neid: sondern zieht an den Herrn Jesum Christ, und wartet des Leibes, doch also, dass er nicht geil werde.
Gelobt sei der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosiannah in der Höhe! So, geliebte Mitchristen, tönt heut unser Festgruß durch alle Wolken und Nebel der Erde zum Himmel empor, von wo ein seliges Licht, ein ewiger Tag herableuchtet ins Dunkel dieser Welt.
In dieser unsrer Zeit mit ihren schweren Verwicklungen, mit ihren trüben Aussichten, mit ihrer bangen Ungewissheit möchte man wohl einmal ums andere fragen wie dort beim Propheten (Jes. 21,11): „Hüter, ist die Nacht schier hin? Hüter, ist die Nacht schier hin?“ Und die Antwort des Hüters lautet auch heut wie dort: „Wenn der Morgen schon kommt, so wird es doch Nacht sein. Wenn ihr schon fragt, so werdet ihr doch wieder kommen und wieder fragen.“ Es will nicht hell werden, es will nicht besser kommen; die Zeit gestaltet sich nur trüber und ungewisser von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde. Aber siehe, in dieses bange Dunkel der Zeit fällt wie ein himmlischer Lichtstrahl, wie ein tröstlicher Morgengruß das heutige Fest, indem es uns ein Licht aufgehen lässt und einen Tag ankündet, der siegreich und trostvoll leuchtet durch alle Wolken dieses Erdenlebens.
Hat schon eines unter euch einmal eine Nacht auf seinem Lager durchwacht in bangen Sorgen oder peinlichen Schmerzen? Du zähltest Stund um Stunde und war dir als ob die Nacht ewig dauerte, und verstricktest dich immer tiefer in deine kranken Phantasien, und endlich, endlich hörtest du den Wächter unter deinem Fenster den Tag anrufen: „Steht auf im Namen Jesu Christ; der helle Tag vorhanden ist“, und sahst das erste Morgenlicht in deine Kammer hereindämmern, und nun ward dirs wieder leichter und wohler ums Herz, nun kam wieder Trost und Mut, Glaube und Hoffnung in deine bange Seele; so und nicht anders, o Christenheit, sollte dir heute zu Mut werden am Adventfest; denn so und nicht anders lautet die Adventsbotschaft in unsrer Epistel. Wir wollen diese Botschaft beherzigen und in Andacht vernehmen:
den Morgengruß des Adventfestes:
„Steht auf im Namen Jesu Christ;
Der helle Tag vorhanden ist!“
Jesu, süßes Licht! nun ist die Nacht vergangen,
Nun hat dein Gnadenglanz die weite Welt umfangen;
O gib, dass jedes Herz, vom Schlummer aufgeweckt,
Mit heiliger Begier sich dir entgegenstreckt! Amen.
Steht auf im Namen Jesu Christ; der helle Tag vorhanden ist! So, Geliebte, ruft uns das heutige Fest, so ruft uns unsre Epistel zu.
Lasst uns
- das Trostwort erwägen: der helle Tag vorhanden ist, und
- den Weckruf beherzigen: Steht auf im Namen Jesu Christ!
1) Der helle Tag vorhanden ist!
So rufen wir heut in die Christenheit hinein, indem wir hinblicken auf eine finstre Nacht die vergangen ist, auf einen schönen Morgen der angebrochen ist, auf ein helles Tageslicht das uns umleuchtet.
Auf eine finstre Nacht die vergangen ist. „Die Nacht ist vergangen“, ruft der Apostel seinen römischen Christen zu. Damit weist er sie hin auf die Finsternis des Heidentums, in der sie zuvor gewandelt; damit weist er uns hin auf die Todesschatten der Sünde, welche die Welt bedeckten, ehe Christus erschien, das Licht der Welt. Da hieß es in Wahrheit: Finsternis bedeckte das Erdreich und Dunkel die Völker.
Wohl hat auch den Völkern der Vorwelt Gottes natürliche Sonne geleuchtet, dass sie in ihrem Scheine des Lebens sich freuten. Aber das Himmelslicht göttlicher Wahrheit, die Gnadensonne göttlicher Erbarmung in Christo Jesu die haben sie nicht gekannt.
Wohl hat auch ihnen ihr Schöpfer das innere Vernunft- und Gewissenslicht in Kopf und Herz gepflanzt, aber wie war das verfinstert und fast gar erloschen in Irrtum und Sünde; da wars Nacht und immer tiefere Nacht.
Wohl war diese Nacht erheitert durch manchen lieblichen Traum. Die Kunst und Dichtung, womit jene Heiden, die Griechen und Römer, sich das Leben schmückten und den Tod verschönten, das waren gleichsam liebliche Traumbilder; aber es waren doch nur Traumbilder, hold aber trügerisch, reizend aber flüchtig. Wohl brannte hie und da ein Licht in dieser Nacht, da und dort saß ein Weiser, der über den gemeinen Aberglauben sich erhob; aber diese Weisheit war doch nur ein menschliches selbstzugerichtetes Lämplein, nicht das große Himmelslicht, das Allen leuchtet, und während ein Sokrates und Plato beim Lampenlicht ihrer Weisheit nachdachten über Gut und Bös, über Gott und Welt, über Zeit und Ewigkeit, war es draußen Nacht, stockfinstre Nacht über Tausenden und Abertausenden.
Wohl fuhr da und dort ein Blitz durch die Nacht; eine Sehnsucht nach Erlösung, eine Ahnung des ewigen Lichtes durchzuckte hin und wieder ein Herz. Aber der Lichtstrahl verlosch wieder in der Nacht. Es war Nacht, tiefe Nacht; eine Nacht der Unwissenheit, da die arme Menschheit nicht mehr wusste woher sie kam und wohin sie ging, nichts mehr wusste von ihrem Ursprung und von ihrer Bestimmung, von ihrem Schöpfer und ihrem Richter; eine Nacht der Sünden, da man nicht mehr wusste was gut sei und böse, und in tausend Gräueln gedanken- und gewissenlos dahinlebte; eine Nacht des Todes, da man ohne Trost durchs Leben und ohne Hoffnung aus dem Leben ging. Finsternis bedeckte das Erdreich und Dunkel die Völker.
Ein Volk zwar gabs, da war die Nacht wenigstens sternhell. Das war das Volk des alten Bundes, dem die großen Gottesverheißungen wie Sterne über dem Haupte funkelten, das von einer Morgenwache zur andern dem kommenden Tag des Heils entgegenharrte. Aber auch da noch wie viel Finsternis der Herzen; wie banges Sehnen und Warten; wie schmerzlich die Frage: Hüter, ist die Nacht schier hin? wie bitter die Klage desselben Propheten (Jes. 59): Wir harren auf das Licht, siehe so wird es finster; auf den Schein, siehe so wandeln wir im Dunkeln. Finsternis bedeckte das Erdreich und Dunkel die Völker.
Und nun, Geliebte, wenn wir zurückblicken auf diese lange schwere Nacht, unter welcher die Menschheit seufzte Jahrtausende lang, in der auch die Besten vergebens nach einem Strahl der Wahrheit rangen, nach einem Stern des Trostes suchten im Leben und Sterben; - wenn wir hinblicken auf die schwere bange Nacht, welche heute noch auf Millionen armer Heidenseelen lastet, die in diesem Jammertal dahinleben und dahinsterben ohne Licht von oben; sagt: womit haben denn wir es verdient, dass unser Gott uns vorgezogen hat und hat uns aufgehen lassen das Licht seiner Wahrheit, so dass nun ein Schulkind mehr weiß von den Wahrheiten des Heils, als einst die Weisesten unter den Weisen; dass nun der ärmste Taglöhner seliger leben und leiden und sterben kann, als einst Könige und Propheten? Sagt, müssen wirs dann an einem Fest wie das heutige nicht mit Freudentränen vernehmen: die Nacht ist vergangen, und mit Jauchzen einander zurufen: Danksagt dem Vater, der uns tüchtig gemacht hat zum Erbteil der Heiligen im Licht, welcher uns errettet hat von der Obrigkeit der Finsternis und hat uns versetzt in das Reich seines lieben Sohnes? Der helle Tag vorhanden ist! so rufen wir heut aus, indem wir zurückblicken auf eine finstre Nacht die vergangen ist.
Und auf einen schönen Morgen der angebrochen ist. „Der Tag ist herbeigekommen,“ ruft der Apostel. Damit mahnt er uns an die Zeit des Sonnenaufgangs im Reich Gottes. Heut am Adventfest gedenken wir insbesondere jener seligen Zeit als Christus uns erschien, und in ihm der Welt zuerst der Tag anbrach und die Sonne aufging. O ein seliger Morgen, ein schöner, frischer, junger Tag!
Die Bußpredigt des Täufers Johannes war gleichsam der letzte Hahnenruf gewesen vor Sonnenaufgang und nun als die Zeit erfüllt war, ging die Sonne auf dort über Bethlehems Bergen, mild und sanft, groß und voll, hell und golden, Jesus Christus, die Sonne der Gerechtigkeit, und übergoss die Welt mit den Strahlen himmlischer Liebe, mit den Strömen des Versöhnungsbluts, wie mit einem purpurnen Morgenrot. Und wie die Lerchen im Morgenrot jubeln, so haben die Apostel im neuen Sonnenlicht sich emporgeschwungen und das neue Lied über die Erde hingesungen: Christus Jesus ist in die Welt gekommen, die Sünder selig zu machen. Und wie der Morgenwind durch Feld und Wald hinrauscht, so ist die Botschaft des Evangeliums hingebraust durch die Welt, und die Zedern auf dem Libanon und die Eichen in den Wäldern unsrer Voreltern haben erbebt vor diesem Rauschen und sich geneigt vor dem der da kommt im Namen des Herrn. Und wie der Morgentau im Grase blinkt, so wurden die Gnadengaben des heiligen Geistes ausgegossen reichlich über die Gläubigern und spiegelten in allerlei Farben die Eine Sonne, den Einen Herrn und seine Herrlichkeit wieder. Und wie in den Frühstunden des Morgens noch ein heiterer Friede, eine fromme Stille herrscht über der neuerwachten Erde, so waltete noch ein heiliger Sabbats-Friede, eine selige Eintracht in der jungen Gemeinde.
O ein schöner Morgen, da der Tag anbrach im Reiche Gottes. Ein schöner Morgen auch heute noch, wenn das Licht Christi zuerst aufgeht in einer Seele oder in einem Volk, wenn ein Herz oder eine Gemeinde brennt vom Feuer der ersten Liebe. Da kündet auch zuerst der Hahnenschrei des erwachten Gewissens den nahenden Morgen an, und die scharfe Morgenluft der Buße geht dem Sonnenaufgang voran. Und dann, o Freude, wenn die trüben Wolken, welche die Seele bedeckten, sich färben vom ersten Morgenrot der Gnade, von den ersten Verheißungen des ewigen Erbarmens. Und dann, o Wonne, wenn Christus selber aufgeht in der Seele wie eine Sonne, groß und rein, mild und warm, und sie füllt mit dem Glanze seiner Liebe. Und dann, o Seligkeit, wenn die ersten Gnadengaben wie Morgentau das dürstende Herz erquicken und das Wehen des heiligen Geistes wie Morgenwind durch die Seele geht, reinigend und belebend, und die Danklieder und Jubelpsalmen wie Lerchengesang aufsteigen aus den Gründen des Herzens und es hinrufen über alle Höhen und Tiefen: Mir ist Erbarmung widerfahren! Kennst du, o Seele, diesen frohen Morgen der jungen Gnade, der ersten Liebe, dieses erste Adventsfest Christi in einem Herzen? O wir alle könnten, wir alle sollten davon wissen, denn uns allen ist ja längst erschienen die heilsame Gnade Gottes in Christo Jesu; wir alle haben schon so manches Adventfest gefeiert; wir alle sind über die ersten Morgenstunden unsres Christenlaufs hinweg und der Tag ist vorgerückt.
Der helle Tag vorhanden ist! rufen wir heut im Hinblick auf den hellen Tag der uns umleuchtet. Die Nacht ist vergangen, der Tag aber herbeigekommen. Wenn das Paulus schon vor achtzehnhundert Jahren der Christenheit zurief: wie viel mehr gilt es uns Spätgebornen, denen so lange schon das Licht des Evangeliums leuchtet!
Wohl ist der helle Tag nicht mehr so lieblich wie der frühe Morgen. Die Sonne, wenn sie höher steigt, verschwindet oft hinter den Wolken; auch unsre Sonne Jesus Christus ist höher gestiegen und hat sich unsrem irdischen Blick verborgen seit der Himmelfahrt. Der frische Morgenwind legt sich in der Schwüle der späteren Stunden; auch das frische Brausen des heiligen Geistes ist zum leisen Wehen geworden im Verlauf der Zeit. Der bunte Morgentau verzehrt sich in der Glut des Tages; auch der Morgentau jener wunderbaren Gnadengaben ist verschwunden aus der Christenheit. Das Morgenlied der Vögel verstummt im Geräusche des Tages; auch jene heiligen Zeugen, jene begeisterten Apostel haben ausgeredet und ausgesungen. Der fromme Friede der ersten Morgenstunden verliert sich im Gelärm, im Gezänk und Geschrei des Tages; auch in der Christenheit gehts nimmer so friedlich und selig her wie damals als es hieß: die Menge der Gläubigen war Ein Herz und Eine Seele.
Und doch Gottlob, dass wirs sagen dürfen: es ist Tag in der Christenheit, der helle Tag vorhanden ist. Ob auch unsre Sonne Jesus Christus hoch oben jetzt am Himmel steht und vom Wolkenvorhang unsrem Aug entzogen ist, doch auch vom hohen Himmel herab, doch auch durch Wolken hindurch sendet sie uns ihr holdes Licht.
Im Lichte dieser Sonne sehen wir den Himmel; schauen hinein in ein Vaterauge das über uns wacht, in ein Vaterherz das uns liebt, in ein Vaterhaus das unser wartet.
Im Lichte dieser Sonne verklärt sich uns die Erde; wird uns die Welt ein Schauplatz göttlicher Allmacht, Gerechtigkeit, Weisheit und Liebe; erkennen wir die Spuren göttlicher Gnade, die Führungen göttlicher Weisheit in Leid und Freud das uns widerfährt; sehen wir deutlich den schmalen Weg, der durch diese Welt zum Himmel führt.
Im Lichte dieser Sonne verklärt sich uns selbst das Grab zu einer Pforte der Ewigkeit, finden wir durchs finstre Todestal den Weg zum ewigen Leben.
Ja es ist Tag um uns, heller Tag im Reiche Gottes. Und ob auch die Wolken der Trübsal noch so trüb herunterhängen über die Menschheit: es ist doch Tag, so lange Christus uns leuchtet und sein Evangelium. Ob auch die Sünden wie ein dicker Nebel aufsteigen gen Himmel: es ist doch Tag, die Sonne der ewigen Liebe blickt doch siegreich durch alle Nebel hindurch. Ob auch der Unglaube seine giftigen Pfeile seit Jahrhunderten abschießt, die Sonne auszulöschen, die da heißt Jesus Christus, um das Licht der Welt vom Himmel herabzuschießen: es ist doch Tag, kein Pfeil hat noch die Sonne getroffen, er sinkt machtlos nieder und sie glänzt ruhig weiter. Ob auch die Zeit vorgerückt ist im Reich Gottes, schon manches Gnadenjahr vorüber, und oft, zumal in dieser Zeit es uns scheinen will, als wolle der Tag sich neigen und der Abend kommen: es ist doch Tag; noch ists Tag, noch ists Zeit, und eine neue Gnadenstunde bricht mit dem neuen Kirchenjahr uns an.
So lass dirs denn gesagt sein, o Volk des Herrn, zum Trost auch in deinen Nöten; lass dirs gesagt sein, o Seele, zum Trost auch in trüber Zeit: der helle Tag vorhanden ist. Ins Stüblein des Armen wie ins Gemach des Reichen, ins Kämmerlein des Betrübten wie an den Tisch des Fröhlichen, aufs Bette des Sterbenden wie in die Wiege des Neugeborenen fällt gleich freundlich dieses Tageslicht, das in Christus der Welt leuchtet. Alle sollens hören, alle sollens glauben, alle sollen sich drob freuen, die Christum kennen und nennen, das Licht der Welt: der helle Tag vorhanden ist.
Ja komm in unsre Herzen,
Jesu, du Licht der Welt,
Lass uns wie das Rund der Erden
Helle werden,
Seelensonne, gehe auf!
Wir sind finster, kalt und trübe,
Jesu, Liebe,
Komm, beschleunige den Lauf!
So bitten wir den Herrn. Aber auch euch bitten wir, und das ist heut unser Weckruf:
2) Steht auf im Namen Jesu Christ!
Weil wir solches wissen, nämlich die Zeit, dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlafe, sintemal unser Heil jetzt näher ist, denn da wirs glaubten - erst drauf hofften die Nacht ist vergangen, der Tag aber herbeikommen; „so lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts“ das heißt kurz gesagt: Steht auf im Namen Jesu Christ. Zu solchem Aufstehen gehört dreierlei: die Augen auftun, das Nachtkleid abtun, das Tagsgewand antun.
Die Augen auftun, das ist das erste. Tausende in der Christenheit gehen mit geschlossenen Augen, gehen schlafend, gehen träumend von einem Tag zum andern, von einem Jahr ins andere. Warum bleibt so manche Seele taub bei allen Mahnungen des göttlichen Ernsts, bei allen Lockungen der göttlichen Liebe? Warum läuft so manche Seele geflissentlich ihrem zeitlichen und ewigen Verderben entgegen? Man kann sichs nicht anders erklären, als: sie schläft, sie träumt, sie hat die Augen zu. Denn wahrlich wenn sie nur Einmal, nur eine Stunde lang zu sich selber käme, sie müsste erschrecken, sie müsste aufstehen, sie müsste anders werden! Aber wie? Seele, ist es denn Nacht, ist es denn Schlafenszeit? umleuchtet dich nicht das helle Licht des Evangeliums? Tönt dir nicht der Stundenschlag der eilenden Zeit, tönt dir nicht der Hirtenruf deines treuen Heilandes, tönen dir nicht die Donner der nahenden Gerichte ins Ohr? Und du kannst schlafen in deinen Sünden? kannst träumen in deinen Eitelkeiten? Sieh, wie der heilige Sohn Gottes schlafen konnte im Sturm unter dem Schirm seines himmlischen Vaters, das kann ich begreifen; aber wie ein armer Sünder, wie ein eitles Weltkind schlafen kann seinen Seelenschlaf, fortträumen kann seine Torenträume in dieser ernsten Zeit, wo die Wogen so hoch gehen und der Sturm so drohend in der Ferne heult, das ist schwer zu begreifen. Wache auf der du schläfst und stehe auf von den Toten, so wird dich Christus erleuchten! Nur einmal die Augen auf; nur Einen ernsten Blick in dein Herz hinein, wie es da aussieht, und in deine Bibel, was die dir sagt, in dein Leben zurück, wie das bestellt ist, in deine Zukunft hinaus, wie das werden soll, in deines Gottes Auge und in deines Heilands Herz, in dein Grab hinein und in die Ewigkeit hinüber. Nur Einen ernsten Blick und es muss anders, es muss besser mit dir werden! Die Augen auf! das ist das Erste beim Aufstehen im Namen Jesu Christi.
Und das Zweite ist: das Nachtkleid ab! Es gibt Manche, meine Lieben, die wohl einen Augenblick die Augen auftun. Ein Blitzstrahl göttlicher Gerichte oder ein Sonnenstrahl göttlicher Gnade öffnet ihnen die Augen. An einem Grabe oder bei einem Abendmahl, in einer Predigt oder beim Zuspruch eines Freundes, an einem Advent- oder Neujahrsfest zuckts durch ihr Herz: So kanns nicht fortgehen, es muss anders mit mir werden. Aber beim Zucken bleibts. Das Bett ist so weich und warm, der Schlaf ist so süß und bequem, das Fleisch ist so schwach und träge, man wendet sich um, man schließt das Auge wieder, man schläft fort, schläft fort bis hinein in die lange Nacht des Grabes, schläft fort bis zum großen Morgen der Ewigkeit. Liebe Seele, kannst du das verantworten, die Augen auftun und doch wieder schlafen; dein Elend erkennen und doch nicht aufstehen von Sünden? Nein, weil wir wissen, dass es Zeit ist aufzustehen vom Schlafe, so lasst uns ablegen die Werke der Finsternis; abtun das Nachtkleid der Sünden. Und wäre das Lager deiner Sünden noch so weich und warm: du musst dich losreißen; und wäre das Schlafgewand deiner Trägheit noch so bequem: du musst es von dir werfen; und wären die Werke der Finsternis noch so verborgen: du musst sie hassen und lassen. Denn es ist Tag, heller Tag. Sieh, wenn es Nacht wäre, wenn du in der Finsternis des Heidentums lebtest, nicht wüsstest was gut und böse, so möchte man dich entschuldigen bei deinem Sündendienst. Nun aber ist es Tag, heller Tag: in dir das Licht deines Gewissens; neben dir die Leuchte des göttlichen Worts; über dir das allsehende Auge Gottes; vor dir der Feuerglanz der Ewigkeit und du kannst der Sünde dienen und der Finsternis frönen? O Geliebte, auf wie viel Werke der Finsternis, in wie viel Winkel der Sünde, in wie viel Höhlen des Lasters fällt das heilige Tageslicht dieses Adventfestes auch in dieser unsrer Stadt! in wie manches Haus der Üppigkeit und Völlerei könnte man das Strafwort unsres Textes hineinrufen: Nicht in Fressen und Saufen! In wie manchen dunklen Sündenwinkel das andre: Nicht in Kammern und Unzucht! In wie manche friedlose Haushaltung das dritte: Nicht in Hader und Neid! Christen, lasst uns ehrbarlich wandeln als am Tage! Was sich nicht sehen lassen darf am Sonnenlichte des Herrn, heut an seinem Adventfest da er aufs neue einzieht in seiner Gemeinde, und einst am Tage seiner Wiederkunft da er sein Volk richten wird, kommet, das wollen wir abtun, das wollen wir begraben mit dem alten Kirchenjahr: der Zornige seinen Zorn, der Neidische seinen Neid, der Lügner seine Lügen, der Betrüger seinen Betrug, der Schlemmer seine Unmäßigkeit, der Unkeusche seine böse Lust. Das alles sind die Nachtkleider der Sünde, das alles sei abgetan in Gottes und des Heilands Namen. Das Volk im heutigen Evangelium hat dem Herrn die Kleider auf den Weg gebreitet, dass er drauf trete; kommet, so wollen wir die alten Nachtkleider unsrer Sünde auch hinwerfen auf seinen Weg, und dann nicht mehr anziehen, sondern verbrennen hier an seinem Altar, an dem heut so viele von uns gestanden sind, verbrennen in den Flammen einer heißen Buße und im Feuer einer neuen Liebe.
Das Nachtkleid der Sünden abtun und das Lichtgewand Christi antun. „Und anlegen die Waffen des Lichts.“ Wer aufsteht am Tage, der zieht sich so an, dass er sich sehen lassen kann vor den Leuten. Kennt ihr die Kleider, in denen wir uns sehen lassen können vor Gott und Menschen, die Festgewänder, in denen wir auch heute vor dem Antlitz unsres Herrn stehen sollten, Alt und Jung, Mann und Weib, Arm und Reich? Es ist nicht Samt noch Seide es ist alles, was gerecht, was keusch, was ehrbar, was wahrhaft, was etwa eine Tugend, etwa ein Lob ist! Zieht an, als die Auserwählten Gottes, Heilige und Geliebte, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld, und jegliche Tugend; dann seid ihr wohlgeschmückt und köstlich angetan. Ja dann habt ihr nicht nur Kleider des Lichts, die sich sehen lassen dürfen am Tag, sondern auch Waffen des Lichts, mit denen ihr widerstehen könnet allen Mächten der Finsternis, allen Feinden eurer Seligkeit. Und wisst ihr, wie ihr zu solch kostbarem Lichtgewand, zu solch edler Waffenrüstung am sichersten, am leichtesten, ja allein kommt? Der Apostel sagts zum Schluss: „Zieht an den Herrn Jesum Christ!“ Ihn stellt euch vor Augen als euer Vorbild, ihm wandelt nach als eurem Führer, in ihn wachst hinein wie die Reben in den Weinstock, ihn lasst eine Gestalt in euch gewinnen, ihn lasst in euch wirken durch seinen heiligen Geist: dann seid ihr wohlgeschmückt und köstlich angetan. So hats Augustinus gemacht, der große Kirchenlehrer. Er war ein wilder Weltmensch in seiner Jugend. Aber auch ihm kam des Herrn Advent. Die Tränen und Gebete seiner frommen Mutter Monika drangen gen Himmel. Die Predigten des großen Bischofs Ambrosius trafen sein Herz. Die Bekehrung zweier rohen Soldaten, von der er hörte, beschämte ihn im Innersten. In heftigen Tränen ging er eines Tags in seinen Garten hinab und warf sich unter einem Feigenbaum auf sein Angesicht: „Herr, wie lange willst du zürnen? Gedenke nicht meiner Sünden! Wie lange soll ich sagen: morgen; warum nicht heute mich bekehren?“ Da wars ihm als hörte er aus der Luft eine Kinderstimme rufen: „Nimm das Buch und lies!“ Er schlug seine Bibel auf und stieß auf die Worte unsrer Epistel: „Nicht in Fressen und Saufen“ usw. bis: „Zieht an den Herrn Jesum Christ!“ - Auf einmal ward es licht in ihm, er gab Jesu sein Herz, zog Christum an und ward ein Licht der Kirche.
Christum anziehen, das ist das beste Kleid. Das kostbarste, denn kein Königspurpur kann daneben bestehen, und doch das wohlfeilste; denn dem ärmsten Sünder wird es geschenkt aus Gnaden. Christi Gerechtigkeit das sei auch unser aller Kleid; unser Festkleid, in dem wir im Hause Gottes und vor seinem Altare erscheinen; unser Werktagskleid, in dem man uns schauen soll auch beim Tagewerk, auf jedem Schritt und Tritt unsres Lebens; unser Sterbekleid einst, in dem man uns zur Ruhe legt, und unser Ehrenkleid droben, in dem wir hintreten vor Gottes Thron. Selig, wer mit diesem Kleid wandelt durchs neue Kirchenjahr, er wird sicher wandeln durch Winterfrost und Sommersglut, er wird wohl bestehen vor Gott und Menschen. - Auf denn, Geliebte, zieht Christum an: Steht auf im Namen Jesu Christ, der helle Tag vorhanden ist!
Ach Herr, es will Abend werden und der Tag hat sich geneigt. Auch in deinem Reich ists als wollt es Abend werden; auch unser Lebenstag neigt sich vielleicht bald zu Ende. - Und noch schlafen so viele. Noch ists bei so manchen unter uns nicht zum Aufwachen gekommen, geschweige zum Aufstehen und zum Anziehen und zum Wandeln in dem Licht! wecke du uns auf durch das holde Licht deines Evangeliums, damit du uns nicht musst aufwecken durch die Blitze deiner Gerichte. Lass das neue Kirchenjahr recht vielen unter uns, ach lass es uns allen ein Gnadenjahr, ein Heilsjahr, ein Rettungsjahr werden! Leben wir in diesem Jahr, so lass uns dir leben, sterben wir in diesem Jahr, so lass uns hinfahren in deinem Frieden; halte deinen Advent in unsern Herzen, damit wir dir einst an deinem großen Adventstag mit Freuden können entgegengehen.