Gerok, Karl - Der Heimat zu - 5. Trinitatis.
1888.
(Matth. 6,9-13.)
(9) Darum sollt ihr also beten: Unser Vater in dem Himmel. Dein Name werde geheiligt. (10) Dein Reich komme. Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel. (11) Unser tägliches Brot gib uns heute. (12) Und vergib uns unsere Schulden, wie wir unseren Schuldigern vergeben. (13) Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel. Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.
Gleich einer grünen Aue voll würziger Kräuter und lieblicher Blumen liegt so ein Abschnitt aus Jesu Bergpredigt vor uns, wie er jetzt allsonntäglich in unseren Evangelien sich uns auftut, und auch heute kann uns die Wahl wehtun, an welcher Stelle unseres Textes wir am liebsten unsere Herzen weiden, welche von diesen Blumen wir diesmal pflücken und nach Haus nehmen sollen.
Nun, meine Lieben, als die lieblichste der Blumen gilt die Rose, deren Blütezeit jetzt ist. Und wenn man uns fragte: Welches ist wohl die Rose auf der Blumenau unseres heutigen Evangeliums? welches ist unter all den köstlichen Sprüchen, die wir da vernehmen aus Jesu Mund, der köstlichste, der uns am lieblichsten zu Herzen spricht? ich denke, wir alle würden sagen: Es ist das liebe Vaterunser, dieses beste, vollkommenste und schönste Gebet.
Hier auf diesem Berg von Galiläa, wo der Herr seine Jünger zuerst das Vaterunser gelehrt, hier ist gleichsam die Heimat und der Fundort dieser unverwelklichen Rose. Wir wollen sie daher heute frisch brechen, aufs neue einmal wieder betrachten und an die Brust stecken und mit heimnehmen.
Auf hunderterlei Weise hat man das Gebet des Herrn schon betrachtet und angewendet. Man hat es in Musik gesetzt; man hat schöne Bilder dazu gemalt; man hat es durch fromme Erzählungen erläutert; man hat es z. B. ausgelegt als einen Wegweiser durchs Menschenleben mit seinen Altersstationen vom Kindlein an, das stammelt: Unser Vater in dem Himmel! bis zum Greis, der da bittet: Erlöse uns von dem Übel, nimm mich in Gnaden von diesem Jammertal zu dir in den Himmel!
Man hat es als eine Seelenspeise verteilt auf die sieben Wochentage vom Sonntagmorgen an, wo es in der Gemeinde heißt: Geheiligt werde dein Name! bis zum Samstag Abend, wo wir die Woche schließen mit dem Preisgebet: Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen.
Wir wollen's heute betrachten als einen Wegweiser für jeden Tag unseres Lebens. Das liebe Vaterunser ist ein himmlisches Geleit durch unsere irdischen Tage, indem es:
- Für unsere Tagesarbeit eine himmlische Weihe,
- für unsere Tagessorgen einen himmlischen Trost uns beut.
Du bist alles Guten Fülle, dass wir beten, ist dein Wille, Du verschmähst, o Vater, nicht deiner Kinder Zuversicht; Und du hast so vielen Segen, weit mehr als wir bitten mögen, Reich und Kraft und Herrlichkeit, Gott, ist dein in Ewigkeit. Amen.
Das liebe Vaterunser ist ein himmlisches Geleite durch unsere irdischen Tage, indem es uns:
1) Für unsere Tagesarbeit eine himmlische Weihe bringt.
Und zwar schon:
Mit dem Eingang: „Unser Vater, der du bist in dem Himmel.“ Gott will uns damit locken, sagt Luther, dass wir glauben sollen, er sei unser rechter Vater und wir seine rechten Kinder. Und der fromme Matthias Claudius schreibt in seiner kindlichen Weise: „Wenn ich das Vaterunser beten will, so denke ich erst an meinen seligen Vater, wie der so gut war und so gern geben mochte. Und dann stell ich mir die ganze Welt vor als meines Vaters Haus und alle Menschen in allen Weltteilen als meine Brüder und Schwestern und Gott sitzt im Himmel auf einem goldenen Stuhl und hat seine Rechte segnend ausgestreckt über Land und Meer und seine Linke voll Heil und Gutes, und dann fang ich an: Vater unser, der du bist in dem Himmel.“
„Vater!“ Das ist der erste Morgengruß, den ein Kind Gottes gen Himmel ruft beim Erwachen.
Ein Kind, wenn es morgens in seinem Bettlein aufwacht, so sieht es zuerst nach dem Vater hinüber oder der Mutter und sagt ihnen seinen guten Morgen, und wär einmal eines Morgens der Vater fort oder die Mutter nicht mehr da, so wär's ein betrübtes Erwachen. Ein Mensch, wenn er morgens aufsteht, so tritt er gern ans Fenster und sieht nach dem Himmel und wenn die Sonne heiter zu seinem Tagewerk leuchtet, so greift er es fröhlicher an, als wenn sie hinter Wolken sich verbirgt.
Nun was dem aufstehenden Menschen die liebe Sonne, was dem erwachenden Kind das liebe Vater- oder Mutterantlitz, das ist dem Christen der Vatername seines Gottes. Wer an den nicht denkt oder nicht glaubt, wer seine Erdentage antritt und hinbringt ohne Vater im Himmel, sei es dass er gar nichts will und weiß von dem Unsichtbaren über den Wolken, oder dass er den unbekannten Gott noch nicht durch Jesum als den Vater kennt, der verlebt im Grund trübe Tage hienieden: es fehlt seinem Tagewerk die himmlische Weihe, es fehlt über seinem Leben die Sonne der göttlichen Gnade.
Aber selig, wer gen Himmel blicken kann alle Morgen mit dem kindlichen Glaubensgruß: Abba, lieber Vater! So groß du bist, ich weiß, du bist mir nah wie ein Vater seinem Kinde; so schlecht ich bin, ich weiß, ich darf dir vertrauen wie ein Kind seinem Vater.
„Ich und die Meinen. Vater unser!“ beten wir im Gebete des Herrn. „Unser“, das ist das Wörtlein der Liebe, dadurch unser Herz in die rechte Liebesverfassung und Friedensstimmung gesetzt werden soll für den ganzen Tag.
Bei diesem „Unser“, lieber Christ, da denk an Weib und Kind und alle deine Lieben; da denk an Stadt und Land und alle deine Mitbürger und Mitchristen; da denk an deine Widersacher auch und an die ganze weite Welt und stelle dich mit ihnen allen vor den Gnadenthron deines himmlischen Vaters und befiehl sie mit dir in seinen allmächtigen Schutz und Segen.
Und wenn dir ein Zweifel kommen will: Aber es sind soviele Kinder, kann er denn an alle denken? Wird er denn auch meiner achten, des Körnleins im Sand, des Tropfens im Meer unter den Millionen seiner Geschöpfe? Dann gedenke: Es ist ein Vater im Himmel; erhaben über menschliche Endlichkeit und Beschränktheit wohnt er und thront er als ein himmlischer, als ein göttlicher Vater, ewig, allmächtig, allgegenwärtig, allwissend und allweise und kann überschwänglich tun über all unser Bitten und Verstehen.
So, meine Lieben, gibt einem andächtigen Beter schon der Eingang des Vaterunsers die himmlische Weihe für die Arbeit des Tages; das Herz wird dadurch geweiht für den ganzen Tag zu der rechten Stimmung kindlichen Glaubens, brüderlicher Liebe und getroster Hoffnung, und gewiss fröhlicher ginge unser Tagewerk vonstatten, friedlicher schlüge unser Herz vom Morgen bis zum Abend, wenn uns nur vom Morgengebt her die paar Worte nachklängen im Herzen: Vater unser, der du bist in dem Himmel!
Nun aber zur ersten Bitte: „Geheiligt werde deine Name.“ . Damit wird unser Mund geweiht für den ganzen Tag zu einem frommen Bekenntnis des göttlichen Namens.
Oder ist das etwa eine Bitte bloß für die Prediger, die Gottes Namen verkünden, oder bloß für die Kirche, da Gottes Ehre wohnt, oder bloß für den Sonntag, da Gottes Wort erschallt? Gilt's nicht für jedes christliche Haus, für jeden menschlichen Stand, für jeden Lebenstag hienieden: Geheiligt werde dein Name?“
Wer du bist, Mann oder Frau, alt oder jung, hoch oder nieder, geistlich oder weltlich, gelehrt oder ungelehrt - auch bei dir und von dir soll Gottes Name geheiligt werden durch fromme Anrufung und freudiges Bekenntnis.
Kein Beruf kann dich daran hindern, neben jedem Tagwerk kann das geschehen. Wenn der Hausvater seinen Morgensegen betet inmitten der Seinen; oder wenn die Mutter ihr Kindlein abends sein Schlafgebet sprechen lehrt; oder wenn der Landmann draußen bei seinem Geschäft unter dem Morgengesang der Vögel und in der stillen Pracht des Feldes einen Augenblick innehält und auf seine Haue gestützt denkt: Wie groß ist des Allmächtigen Güte! oder wenn ein Meister unter seinen Gesellen die Arbeit statt mit Flüchen mit guten Reden würzt, mit einem körnigen Spruch oder einer lehrreichen Erzählung das alles heißt: Geheiligt werde dein Name; und welchen ehrlichen Beruf du mir nennst, ich will dir sagen, wie du den Namen Gottes dabei heiligen kannst.
O welch schöne Weihe bekäme unser Tagewerk; vor wieviel Zungensünden würden wir bewahrt; wie mancher gottlose Fluch oder leichtfertige Spaß bliebe uns im Mund stecken; wie manches Samenkorn guter Lehre könnten wir ausstreuen unter den Unsrigen; wie manches männliche Zeugnis könnten wir ablegen vor der Welt; wieviel lieblicher und erbaulicher würde es hergehen in unseren Familienstuben, in unseren Werkstätten, in unseren Gesellschaften, auf unseren Straßen wenn wir's alle Morgen andächtig beteten und den Tag über manchmal bedächten: Geheiligt werde dein Name. Dann könnten wir auch weiter beten:
„Zu uns komme dein Reich.“ Damit soll unser Auge geweiht werden für den ganzen Tag zu einem frommen Ausblick ins Gnadenreich Gottes. Jedem Menschen liegt am Morgen zunächst sein eigenes Reich und Arbeitsfeld vor Augen, dem Landmann sein Feld, dem Gewerbsmann seine Werkstatt, dem Beamten seine Amtsstube, dem Lehrer sein Schulzimmer, dem Arzt seine Kundschaft, der Hausfrau ihre Haushaltung, der Hausmagd ihre Küche.
Gut, liebe Seele, nur vergiss nicht über deinem Reich Gottes Reich, über der sichtbaren Welt die unsichtbare, über deinem irdischen Beruf den himmlischen. Vergiss nicht, du Weingärtner, über deinem Weinberg, wo jetzt die Reben so schön und reich verblühen, jenen Weinberg Gottes, darin Christus der Weinstock ist und wir die Reben. Vergiss nicht, o Geschäftsmann, über deinem Rechnen und Zählen, Kaufen und Verkaufen die eine köstliche Perle, für die jener kluge Kaufmann alles gab. Versäume nicht, o Hausfrau, über deinen Marthageschäften das Mariateil, das Eine, was not ist. Bedenke, du Christ, das Reich Gottes soll nicht nur überm Wasser drüben zu den blinden Heiden kommen, sondern auch zu uns immer mehr in unsere Häuser und Herzen. Und du, evangelischer Christ, lass dich heut an dem Sonntag, an welchem wir sonst unser Reformationsfest feierten im Andenken an unser evangelisches Glaubensbekenntnis, erinnern insbesondere an die Segnungen und an die Sorgen unserer evangelischen Kirche, deren wir gedenken sollen bei der zweiten Bitte im Vaterunser.
So soll diese Bitte unseren Gesichtskreis erweitern und uns mahnen an ein seliges Himmelreich über dieser Welt, an ein unsichtbares Gnadenreich schon in dieser Welt, zu dem wir auch berufen sind.
Bloß für diese Welt zu leben ach das wäre oft des Aufstehens und Anziehens kaum wert am Morgen. Aber wenn ich diese Erdenwelt betrachte als eine kleine Provinz in Gottes unermesslichem Reich und mein Erdenleben als eine Saatzeit für die große Ewigkeit, dann hebe ich fröhlich über alle Mühen meines Tagewerks mein Auge empor und ermuntre mich mit der Bitte und mit der Hoffnung: Zu uns komme dein Reich!
Und dann kann ich auch mit Freudigkeit hinzusetzen: „Dein Wille geschehe auf Erden wie im Himmel.“ Damit, meine Lieben, werden unsere Hände geweiht und gestärkt zum vorgeschriebenen Tagewerk im Arbeiten wie im Dulden.
„Dein Wille geschehe!“ Schwer liegt oft am Morgen unser Tagewerk vor uns mit seiner Mühe und Arbeit. Verdrossen möchten wir oft unter des Tages Last und Hitze unsere Hand vom Pflug ziehen und sprechen: Es ist genug!
Aber dein Wille geschehe, nicht mein schwacher und träger, mein selbstsüchtiger und eigenmächtiger, mein oft törichter und böser, sondern dein guter und heiliger Wille geschehe auch durch mich und mein Tagewerk! So spricht ein treuer Knecht, eine fromme Magd des Herrn - und sein Joch wird ihm wieder sanft, seine Last wird ihm wieder leicht durch den Gedanken: Dein Wille geschehe!
Dunkel sind oft Gottes Wege und unbegreiflich seine Gerichte. Aber - dein Wille geschehe! Dies Wort kindlicher Ergebung, das der Herr in seiner Bergpredigt uns beten lehrt und das er in jener dunklen Stunde zu Gethsemane selber gebetet hat, es macht uns auch den finsteren Weg hell, den bittern Kelch süß. Dein Wille geschehe, du heiliger, alleinweiser Vater, auf Erden wie im Himmel.
Und wie geschieht er im Himmel? Da denk nur meinetwegen zunächst an die Sterne, die himmlischen Heerscharen, wie sie unverrückt wandeln in ihren von Gott angewiesenen Gleisen; da denk ferner an die Engel, die geflügelten Diener Gottes, wie sie seinen Willen tun willig, hurtig und mit Freuden; da denke auch an die Seligen droben, wie sie vor Gottes Stuhl stehen und dienen ihm Tag und Nacht in seinem Tempel; da denk endlich an deinen Herrn und Heiland, Gottes großen Knecht, wie er sprach: Das ist meine Speise, dass ich tue den Willen des, der mich gesandt hat.
So denk und so bete - und was auch von Aufgaben den Tag über an dich kommt nach Gottes Willen, deine Hand wird gestärkt, dein Tagewerk wird eine höhere Weihe bekommen in dem Gedanken: Gottes guter und heiliger Wille soll geschehen durch mich und an mir.
Dir dienen, Gott, ist Seligkeit;
gern tun, was dir gefällt,
Wirkt reinere Zufriedenheit,
als alles Glück der Welt!
So, meine Lieben, gibt das Vaterunser recht gebetet uns für unsere Tagesarbeit eine himmlische Weihe. Und ebendamit:
2) Für unsere Tagessorgen einen himmlischen Trost.
Zuerst für die leiblichen Sorgen in der vierten Bitte: „Unser täglich Brot gib uns heute!“ Die Sorgen der Nahrung: Was werden wir essen, was werden wir trinken, womit werden wir uns kleiden? sie fallen freilich manchem Vater und mancher Mutter gleich am Morgen schwer aufs Herz; sie begleiten manchen armen Mann wie sein Schatten durch seine Tagesstunden und auch beim Begüterten bleiben sie nicht aus, denn der Besitz bringt Sorgen so gut wie der Mangel.
Aber aus der vierten Bitte quillt Himmelstrost für Erdensorgen, der Trost der Genügsamkeit: „So wir aber Nahrung und Kleidung haben, so lasst uns genügen“; der Trost des Gottvertrauens: „Der die Vögel unter dem Himmel speist, der wird auch uns nicht lassen darben.“
Oder habt ihr auch je Mangel gehabt? So frage ich jeden hier, der kindlich betet ums tägliche Brot. Und ihr werdet antworten: Herr, nie keinen; bis hierher hat der treue Gott geholfen von einem Tag zum anderen und von einem Jahr zum anderen! Und ist er nicht jetzt eben wieder dran, uns und der ganzen Welt das tägliche Brot zu geben? Hat uns goldene Wochen herrlicher Witterung beschert, hat uns die Hoffnung des Friedens gestärkt, hat uns eine gute Ernte und einen reichlichen Herbst in Aussicht gestellt? Wohlan denn befiehl dem Herrn deine Wege und hoff auf ihn, er wird's wohl machen; schicke den Sorgengeist heim mit einem kindlichen: Gib uns unser täglich Brot heute!
„Und vergib uns unsere Schulden, wie wir vergeben unseren Schuldigern.“ Meine Lieben, es gibt eine Sorgenlast und Schuldenlast, die schwerer drückt als Nahrungssorgen und Zinsschulden. Das sind unsere Sündenschulden und Gewissenslasten, und manchem Menschen, der selber nicht weiß, warum er den Tag nicht ansehen mag, warum ihm das Herz schwer und das Leben entleidet ist, da er doch sein reichlich Brot hat und um keine Schulden eingeklagt ist, könnte man sagen: Und doch hast du Schulden, Freund, unbezahlte, unerkannte: das sind deine Sünden, die dich drücken und die du fortschleppst von einem Tag in den anderen, die dich nicht fröhlich aufstehen lassen am Morgen und nicht ruhig einschlafen am Abend, denn der Übel größtes ist die Schuld!
O lieber Mensch, so wirf dich einmal nieder, oder vielmehr wirf dich jeden Tag nieder vor deinem großen Schuldherrn da droben und bekenne deine Missetat und bitt ihn heut und bitt ihn morgen und bitt ihn alle Tage: Vater vergib mir nach deiner großen Barmherzigkeit! und siehe zu, ob du nicht heiterer aufstehen, leichter arbeiten, vergnügter essen, ruhiger schlafen wirst mit einem versöhnten Gewissen, mit dem Gnadentrost im Herzen: Dir sind deine Sünden vergeben!
Und dann gehe hin nicht als der unbarmherzige Knecht gegen deinen Mitknecht, wie jener große Schuldner im Gleichnis, sondern so oft dir den Tag über die Zornesader schwellen und die Galle überlaufen will gegen deinen Beleidiger, so. erinnere dich, was du am Morgen gebetet hast in der fünften Bitte und bedenke: So ihr den Menschen ihre Fehle nicht vergebt, so wird euch auch nicht vergeben!
Bist du aber losgesprochen von deinen vergangenen Schulden, so vergiss nicht zu beten um Bewahrung vor neuen Übertretungen. Unser Fleisch ist schwach und die Welt ist schlimm und der Weg ist schmal, der zum Leben führt. Wie vielerlei Versuchungen bringt nur ein Tag mit sich; Versuchungen von innen und von außen, Versuchungen der Einsamkeit und der Gesellschaft, Versuchungen des Temperaments und der Umstände, Versuchungen der Armut und des Reichtums, Versuchungen des Glücks und des Unglücks. Wie behutsam sollten wir da jeden Tag antreten im Gefühl unserer Schwachheit und wie manchmal haben wir Ursache, im Lauf des Tages zu bitten: Herr, führe uns nicht in Versuchung! Ja wie eine Engelwache sollte diese Bitte uns begleiten auf dem Weg durch die Versuchungen, wie ein himmlischer Warner könnte sie uns behüten vor manchem Fehltritt und uns durchhelfen bis zur Stunde der Erlösung.
Der blicken wir ja doch entgegen mit der letzten Bitte im Vaterunser: „Erlöse uns von dem Übel!“
Hienieden bleibt es eben doch dabei: Jeder Tag hat seine Plage. Und wenn auch auf die Arbeitstag manchmal ein Ruhetag, auf die Sorgenstunden hin und wieder eine Freudenstunde kommt - zu der Schlussbitte werden wir doch immer wieder gedrängt im tausendfachen Elend der Welt: Erlöse uns von dem Übel!
Wer das für sich nicht zu beten hätte, der müsste es ja für andere erbitten; wer es in guten Tagen noch nicht zu brauchen meint, der wird's in bösen noch lernen; wer es in der glücklichen Jugend noch nicht versteht, dem wird's im müden, satten Alter von Herzen kommen: Erlöse uns von dem Übel!
So tröste dich denn damit bei den Plagen deiner Erdentage und bete dir die Sorgen des Lebens, bete dir endlich auch die Angst des Todes vom Herzen weg und blick über alle Leiden dieser Zeit hinüber in eine selige Ewigkeit mit der Bitte: Erlöse uns von dem Übel! und mit der Hoffnung: Kreuz und Elende nimmt alles ein Ende.
In solcher Zuversicht dürfen wir dann auch unser Gebet fröhlich wie im Triumph schließen und den Trost und Segen des Vaterunsers uns besiegeln mit dem herrlichen Schluss: Denn dein ist das Reich du hast das Amt zu helfen; und die Kraft - du hast die Macht zum helfen; und die Herrlichkeit - du hast den Ruhm und die Ehre vom helfen, in Ewigkeit! Amen. Das heißt: Ja, ja, es soll also geschehen.
Auch wir, meine Freunde, müssen jetzt zum Amen kommen, denn unsere Zeit ist um. Aber wäre auch nur einem unter uns in dieser Andachtsstunde sein Vaterunser wieder lieber und werter geworden, dass er es von morgen an andächtiger betete und diese oder jene Bitte in ihrer Bedeutung und in ihrem Segen an sich selbst erführe, so brächten wir ja doch etwas heim vom Berge der Bergpredigt: Das walte Gott! Herr, lehre auch uns beten wie deine ersten Jünger. Lehre uns dein Vaterunser recht beten und durchs Vaterunser überhaupt recht beten, dann werden wir's auch immer besser erfahren: Wer beten kann, ist selig dran! Amen.