Gerhard, Johann - Tägliche Uebung der Gottseligkeit – Das sechste Capitel.

Gerhard, Johann - Tägliche Uebung der Gottseligkeit – Das sechste Capitel.

Nachweisung, daß wir uns öfters fremder Sünden theilhaftig machen.

Heiliger Gott, gerechter Richter, du hast mir nicht nur die Sorge für meine, sondern auch für des Nächsten Seele übertragen. Aber wie oft leidet der Nächste durch meine Nachlässigkeit großen Schaden an der Gottseligkeit! Wie oft strafe ich ihn in seinen Sünden nicht freimüthig und beherzt genug; wie oft hält mich Furcht oder Gunst zurück, seine Fehler freimüthig zu tadeln. Für sein Heil zu beten, bin ich träg; seine Sünden zu strafen, furchtsam; sein Heil zu fördern, nachlässig; so daß du mit allem Rechte das Blut meines Nächsten von mir fordern könntest, wenn er verloren geht. Wenn eine völlige und reine Liebe gegen den Nächsten in mir wäre, so würde ja auch aus derselben eine ganz freimüthige Bestrafung hervorgehen. Wenn in meinem Herzen das Feuer einer reinen Liebe brennete, so würde es ja auch heller zu einer Inbrunst des Geistes im Gebete für des Nächsten Heil ausbrechen. Für sich selbst zu beten, treibt die Nothwendigkeit; aber für das Heil des Nächsten zu beten, die Liebe. So oft ich daher das Gebet für des Nächsten Heil versäume, so oft spreche ich mir selbst das Urtheil, das Gebot der Liebe verlegt zu haben. Mein Nächster stirbt den Tod des Leibes, und siehe, ich erfülle Alles mit Trauer und Seufzen, da doch der Tod am Leibe dem Frommen keinen Nachtheil bringt, sondern vielmehr den Uebergang zum himmlischen Vaterland bereitet.

Mein Nächster stirbt den Tod der Seele, indem er Todsünden begeht; und siehe, sorglos sehe ich ihn sterben, und betrübe mich gar nicht, da doch die Sünde der wahre Iod der Seele ist, durch welche ein unberechenbarer Verlust der göttlichen Gnade und des ewigen Lebens, entsteht. Mein Nächster beleidigt den König, der den Leib tödten kann, und siehe, ich suche auf alle Weise ihn auszusöhnen; er beleidigt den König aller Könige, der Leib und Seele in die Hölle senden kann; und siehe, sorglos sehe ich dies an, und denke nicht daran, daß diese Beleidigung ein grenzenloses Unglück sey. Mein Nächster stößt an einen Stein, und ich eile hinzu, bereit, ihn am Falle zu hindern, oder vom Falle aufzuheben; er stößt an den Eckstein unsers Heiles, und siehe, sorglos übersehe ich dies, und arbeite nicht mit der schuldigen Sorgfalt und Fleiß daran, ihn wieder aufzurichten. Meine eigenen Sünden sind zahlreich und schwer genug, und doch fürchtete ich mich nicht, auch an fremden theilzunehmen. Sey gnädig, o Gott, dem großen und allzu schwer beladenen Sünder. Ich nehme meine Zuflucht zu deiner Barmherzigkeit in Christo, die mir auch durch Christum verheißen ist; ich nahe mich diesem Leben, der ich in Sünden erstorben bin; ich nahe mich diesem Wege, der ich auf dem Pfade der Sünden irre; ich nahe mich diesem Heile, der ich um der Sünden willen die Verdammniß verdiene. Belebe, leite und rette mich, du mein wahres Leben, Weg und Heil in Ewigkeit! Amen.

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