Gerhard, Johann - Heilige Betrachtungen - Von der wahren Erkennung der Sünden.

Gerhard, Johann - Heilige Betrachtungen - Von der wahren Erkennung der Sünden.

Das Mittel der Genesung ist das Bekenntniß der Krankheit.

Heiliger Gott, gerechter Richter, meine Sünden stehen vor meinen Augen und vor meinem Geiste. In jeder Stunde denke ich an den Tod; denn der Tod steht mir in jeder Stunde bevor. An jedem Tage denke ich an das Gericht; denn von jedem Tage werde ich Rechenschaft geben müssen im Gericht. Ich durchforsche mein Leben, und stehe, es ist ganz eitel und abscheulich. Eitel und unnütz sind viele meiner Handlungen, eitel sind noch mehrere meiner Reden, eitel sind noch dazu die meisten meiner Gedanken. Nicht bloß eitel ist mein Leben, sondern auch abscheulich und schändlich. Ich finde nichts Gutes in ihm. Wenn etwas Gutes in ihm zu fein scheint, so ist es doch nicht wirklich gut und vollkommen; denn die Erbsünde und das natürliche Verderben, das nichts unberührt läßt, hat es geschändet. Der Heilige Hiob sprach (9,28.): Ich fürchte alle meine Schmerzen. Wenn der Heilige so klagt, was soll der Gottlose thun? Alle unsere Gerechtigkeit ist wie ein unfläthig Kleid Jes. 64,6. Wenn unsere Gerechtigkeit so ist, wie in aller Welt wird da unsere Ungerechtigkeit sein? Wenn ihr alles gethan habt, spricht unser Heiland, was euch befohlen ist, so sprechet: Wir sind unnütze Knechte Luc. 17,10. Wenn wir aber unnütze sind, selbst wenn wir gehorchen, so werden wir ja ganz gewiß abscheulich sein, wenn wir übertreten. Wenn ich mich selbst und all mein Vermögen, auch wenn ich nicht sündige, dir, heiliger Gott, schuldig bin, was werde ich da für meine Sünde als Lösung geben können? Selbst unsere Gerechtigkeit, oder was wir so dafür halten, ist im Vergleich zur göttlichen Gerechtigkeit eine volle Ungerechtigkeit. Im Finstern steht man wohl eine Lampe leuchten; aber stellt man sie in die Strahlen der Sonne, da ist's aus mit ihrem Leuchten; ein Holz hält man oft für gerade, wenn man das Richtscheit nicht anlegt, thut man das aber, so findet man, wie es hie oder da gekrümmt ist und anläuft; oft wohl wird es den Anschein haben für die Blicke der Betrachter, als sei das Bild irgend welcher Gestalt vollkommen dargestellt, und doch ist's in den Augen des Künstlers im hohen Grade unvollkommen. So ist oft voller Flecken, wenn es der Richter zur Entscheidung vornimmt, was herrlich leuchtet, wenn es der wägt, der es gethan hat. Denn die Gerichte Gottes sind anders als die der Menschen. Vieler Sünden bin ich mir mit Schrecken bewußt; aber die Zahl derer, die ich nicht einmal weiß, ist noch größer: Wer kann merken, wie oft er fehlet? Verzeihe mir, Herr, die verborgenen Fehle Ps. 19,13! Ich wage es nicht meine Augen zum Himmel zu erheben, denn ich habe an dem gesündiget, der im Himmel wohnet; und auch auf der Erde finde ich keine Stätte der Zuflucht, denn welche Gunst dürfte ich bei den Geschöpfen zu hoffen wagen, da ich an dem Herrn der Geschöpfe gesündiget habe?

Mein Widersacher, der Teufel, verklagt mich. Billigster Richter, spricht er zu Gott, richte, daß jener mein ist aus Schuld, der dein nicht hat sein mögen aus Gnade; dein ist er nach der Schöpfung, mein ist er nach der Theilnahme an der Uebertretung; dein ist er kraft der Versöhnung, mein kraft der Ueberredung; dir widerstrebt er, mir gehorcht er; von dir hat er das lange, prächtige Oberkleid der Unsterblichkeit und Unschuld empfangen, von mir dieß lumpige Unterkleid des armseligsten Lebens; dein Kleid hat er weggeworfen, mit dem meinigen kommt er zu dir. Richte, daß jener mein und mit mir der Verdammniß zu weihen ist.

Es verklagen mich alle Elemente. Der Himmel spricht: Ich habe das Licht dir zum Troste dargereicht. Die Luft spricht: Ich habe dir alle Gattung der Vögel zum Dienste gestellt. Das Wasser spricht: Ich habe dir die mancherlei Gattungen der Fische zum Essen gegeben. Die Erde spricht: Ich habe Brot und Wein dir zur Nahrung gegeben; aber du hast alles deß zur Schändung unsers Schöpfers gemißbraucht; alle unsere Segnungen mögen sich daher für dich in Unsegen verkehren. Das Feuer spricht: Meine Flamme soll ihn verzehren. Das Wasser spricht: Meine Woge soll ihn verschlingen. Die Luft spricht: Mein Sturm soll ihn umtreiben. Die Erde spricht: Meine Tiefe soll ihn verzehren.

Es verklagen mich die heiligen Engel, die mir Gott hier zum Dienste und dort zur Gesellschaft gegeben hatte; aber durch meine Sünden habe ich mich für dieses Leben ihres Heiligen Dienstes und für das zukünftige der Hoffnung ihrer Gemeinschaft beraubt. Auch die Stimme Gottes, das ist das göttliche Gesetz, verklagt mich. Entweder muß ich das göttliche Gesetz erfüllen, oder sterben; aber es ist mir unmöglich, das Gesetz zu erfüllen, und unerträglich ist's, in Ewigkeit verloren zu sein. Es verklagt mich Gott, der sehr strenge Richter, der allmächtige Vollzieher seines ewigen Gesetzes. Ihn kann ich nicht täuschen, denn er ist die Wahrheit selbst; ihm kann ich mich nicht entziehen, denn er herrschet allenthalben mit Gewalt. Wohin also soll ich fliehen? Zu dir, o lieber Christus, du unser einiger Erlöser und Seligmacher. Meine Sünden sind groß, aber deine Versöhnung ist größer; meine Ungerechtigkeit ist groß, aber deine Gerechtigkeit ist größer. Ich erkenne das an, du verzeihe; ich gestehe das, du bedecke; ich enthülle das, du verhülle; in mir ist nichts, was mir nicht zur Verdammniß gereichte; in dir ist nichts, was nicht meine Seligkeit wirkte. Ich habe vieles begangen, weshalb ich mit allem Rechte verdammt werden kann, aber du hast nichts unterlassen, wodurch du mich nach deiner Barmherzigkeit selig machen kannst. Ich höre eine Stimme im Liede der Lieder (Hohel. 2,14), die heißt mich meine Zuflucht nehmen in den Felslöchern; du bist der festeste Fels, die Löcher des Felsen sind deine Wunden; in diesen will ich mich verbergen vor den Anklagen aller Geschöpfe. Meine Sünden schreien zum Himmel, aber kräftiger schreiet Hein Blut für meine Sünden vergossen. Meine Sünden sind vermögend genug, mich vor Gott zu verklagen, aber dein Leiden ist viel vermögender, mich zu schützen. Mein durch und durch ungerechtes Leben ist vermögend, mich in Verdammniß zu stürzen; aber dein Leben voller Gerechtigkeit ist vermögender, mich selig zu machen. Von dem Throne der Gerechtigkeit bringe ich meine Sache vor den Thron der Barmherzigkeit und begehre nicht anders vor das Gericht zu treten, als wenn dein heiligstes Verdienst in's Mittel gestellt wird zwischen mich und dem Gericht.

Die Uebung in der Buße um des Leidens des Herrn willen.

Siehe an den leidenden Christus!

Siehe an, o gläubige Seele, den Schmerz, die Wunden und Marter des am Kreuze leidenden, hängenden und sterbenden Christus! Jenes Haupt, vor dem die himmlischen Geister anbeten, wird von Dornen rings verwundet; das Angesicht, lieblicher als das der Menschenkinder, wird entstellt durch die Gottlosen, die es verspeien; die Augen, heller als die Sonne, erbleichen im Tode; die Ohren, welche die Loblieder der Engel vernehmen, werden durchtönt von den Schmähungen und Spottreden der Sünder; der Mund, der göttliche Rede führet und die Engel lehrt, wird mit Galle und Essig getränkt; die Füße, zu deren Schemel angebetet wird, werden mit Nägeln angeheftet; die Hände, die den Himmel ausgebreitet haben, sind am Kreuze ausgestreckt und mit Nägeln befestiget; der Leib, der heiligste Sitz und die lauterste Wohnstätte der Gottheit, wird geschlagen und mit einem Speer verwundet, und nichts bleibt an ihm verschont als die Zunge, damit er bete für die, welche ihn kreuzigen. Der im Himmel herrscht mit dem Vater, wird am Kreuze von den Sündern auf das Traurigste gepeinigt. Gott leidet, Gott vergießt sein Blut Ap. Gesch. 20,281). An der Größe des Lösegeldes erkenne die Größe der Gefahr; an dem hohen Preise des Heilmittels erkenne die Gefahr der Krankheit. Groß fürwahr sind die Wunden, die nur durch Wunden des lebendigen und des lebendig machenden Fleisches haben geheilt werden können; groß fürwahr ist die Krankheit, die nur durch den Tod des Arztes hat geheilt werden können. Siehe an, o gläubige Seele, den so heftig brennenden Zorn Gottes. Zum Fürbitter war nach dem Falle des ersten Menschen der ewige, eingeborne und einzig geliebte Sohn Gottes bestimmt; und doch war sein Eifer noch nicht gestillt. Der trat in's Mittel, durch den er die Welt gemacht hat und jener höchste Liebhaber unsers Heils nahm die Schuld der Elenden auf sich; und doch war sein Eifer noch nicht gestillt. Der Heiland kleidete sich in unser Fleisch, um das sündhafte Fleisch, nachdem die Herrlichkeit der Gottheit mit ihm in Gemeinschaft getreten war, von seiner Schmach zu reinigen, auf daß die heilende Kraft der vollkommenen Gerechtigkeit, dem Fleische mitgetheilt, die verderbte, unserm Fleische anhängende sündhafte Eigenschaft tilgte, und unserm Fleische Gnade zu Theil würde; und doch war sein Eifer noch nicht gestillt. Die Sünde und deren Schuld nimmt er auf sich; der Leib wird gebunden, geschlagen, verwundet, durchstochen, am Kreuz getödtet, in's Grab gelegt; das Blut fließet gleich wie Thau reichlich aus allen Gliedern des Leidenden hervor; die heiligste Seele trauert über die Maßen, ja bis an den Tod wird sie betrübt und den Schmerzen der Hölle unterworfen; der ewige Sohn Gottes ruft laut, daß er von Gott verlassen sei; eine solche Menge blutigen Schweißes vergießt er, so große Qualen empfindet er, daß er, von dem alle Engel ihre Macht haben, der Stärkung eines Engels bedarf; er, der allen das Leben gibt, stirbt. Was will am dürren werden, so man das thut am grünen Holz? Was will an den Sündern werden, wenn man das thut an dem Gerechten und Heiligen? Wie wird der die eigenen Sünden strafen oder so voll Zorn gewesen ist über die fremden? Wie wird der an den Knechten das immer dulden, was er am Sohne so hart straft? Was werden die leiden, welche er verwirft, wenn der so großes leidet, den er einzig liebt? Wenn Christus, der ohne Sünde gekommen, nicht ohne Schläge aus der Welt gegangen ist, wie vieler Streiche werth werden die sein, welche mit der Sünde in die Welt kommen, in der Sünde leben und mit der Sünde aus dem Leben gehen? Der Knecht freuet sich, während um seiner Sünde willen der geliebte Sohn so schweren Schmerz empfindet. Der Knecht häuft den Zorn des Herrn, während der Sohn so große Mühe und Arbeit hat, um den Zorn des Vaters zu lindern und zu besänftigen? O des unbegrenzten Zornes Gottes! O des unsäglichen Eifers! O des außerordentlichen Ernstes der Gerechtigkeit! Der so streng gegen den einzigen, geliebtesten und seines Wesens theilhaftigen Sohn verfährt, nicht um irgend einer eigenen Sünde willen, sondern weil er für den geringen Knecht bittet: was wird er dem Knechte thun, der in Sünden und Missethaten sicher beharrt? Der Knecht fürchte sich und erschrecke und traure über das, was er verdient hat, während der Sohn gestraft wird wegen deß, was er nicht verdient hat. Der Knecht fürchte sich, der nicht aufhört zu sündigen, während der Sohn so leidet für die Sünde. Das Geschöpf fürchte sich, das den Schöpfer am Kreuze getödtet hat; der Knecht fürchte sich, der dem Herrn das Leben genommen hat; der Gottlose und Sünder fürchte sich, der den Frommen und Heiligen so beleidiget hat. Geliebteste, lasset uns hören den Rufenden, lasset uns hören den Weinenden. Er ruft vom Kreuze herab: Siehe, Mensch, was ich für dich leide; dich rufe ich, weil ich für dich sterbe; siehe die Strafen, die ich dulde, siehe die Nägel, mit denen ich angeheftet bin; es ist kein Schmerz wie mein Schmerz am Kreuze: ist der äußere Schmerz schon so groß, so ist die innere Trauer noch schwerer, da ich sehe, wie du so undankbar bist. Erbarme dich, erbarme dich unserer, du einiger Erbarmer, und bekehre unsere steinernen Herzen zu dir!

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Siehe das Vorwort.
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