Geibel, Johannes - Ermunterung zur Verläugnung des ungöttlichen Wesens.

Geibel, Johannes - Ermunterung zur Verläugnung des ungöttlichen Wesens.

Ueberhäuft mit den verschiedenartigsten Geschäften habe ich diese Predigt geschrieben, und war nicht im Stande, sie mit der jeder Druckschrift gebührenden Sorgfalt auszuarbeiten. Sie blieb indeß nicht ohne Wirkung auf meine Zuhörer, und mehrere derselben wünschten, daß ich durch den Druck diese Wirkung befestigen und allgemeiner machen mögte. Dieser Wunsch, verbunden mit meiner Ueberzeugung, daß der Inhalt der Predigt sehr beherziget zu werden verdiene, und mit dem Gedanken, daß durch den Verkauf etwas für die große Anzahl meiner nothleidenden Mitbürger gewonnen werden könnte, bestimmten mich zu thun, was ich unter andern Umständen nicht gethan haben würde – sie drucken zu lassen. Gott gebe, daß es nicht vergeblich geschehe!

Gebet.

Wir kommen zu dir, o Gott, denn du bist der Herr, unser Gott! Wir nahen dir mit demüthigem, dankbarem, kindlichem Sinne! Was wären wir, wenn deine Gnade nicht unserer sich erbarmet hätte? wenn du nicht zu rechter Stunde erschienen wärest ein Retter, ein Helfer? O daß wir der Tage, die wir erlebt haben, nie vergessen mögten! daß sie uns sich lebhaft vergegenwärtigten in jeder Stunde des Leichtsinns, des Uebermuths, des schnöden Dienstes der Welt! Aber auch in frohen Tagen laß sie uns nahe sein, damit immer wach bleibe unser Dank gegen dich, den weisen Erzieher, den Vater! Ja, Dank dir, denn immer beweisest du dich als Vater! Nur aus weisen Absichten sendest du uns Leiden und Uebel, und in dem Drucke der Leiden und Uebel erscheinet stets deine Huld tröstend, leichternd, zum Bessern wendend. Wer sollte dir nicht danken für die innige Sorgfalt, für die unter vielen Sorgen und Arbeiten unermüdliche Treue unserer Obrigkeit? Wer nicht danken, daß in unserm Unglücke ein Fürst in unserer Mitte war, der, gerührt von der allgemeinen Noth, so manches zu unserer Erleichterung that? Wer nicht danken, daß unter uns so viel wahrer Menschensinn, so viel wechselseitige Theilnahme, so viele Bestrebungen die Noth zu mindern sichtbar wurden? Wer nicht danken, daß auch auswärts, daß besonders in unserer Schwesterstadt so viele Herzen bewegt wurden, um für die dringendsten Bedürfnisse unserer verarmten Mitbürger zu sorgen? O es sei diese Dankbarkeit uns ein inniger Antrieb immer treu deinen heiligen Willen zu erfüllen, dir uns ganz hinzugeben, für dich ganz zu leben! Alles Ungöttliche sei aus unserm Wesen verbannt, und züchtig, gerecht, und gottselig sei unser Wandel! Gieb uns Kraft uns als deine Kinder zu beweisen, so sind gewiß deine weisen Absichten an uns erreicht, und du wirst jedes schwere, warnende, demüthigende, züchtigende, zu dir mit Macht hinweisende Schicksal von uns abwenden, weil wir dann immer bei dir sind. Gieb uns Kraft zu tragen was noch auf uns liegt, und lasse keinen von den vielen, die jetzt kaum die dringendsten Lebensbedürfnisse sich verschaffen können, verzweifelnd das Schlechte ergreifen, und an dir, an sich selbst und der Menschheit irre werden! Lindere du ferner, tröste, rette, helfe! Laß dich finden von uns allen in unserem Innern, und in unserer Noth uns die Erfahrung machen, daß wir nicht dich träumten, sondern daß du bist. Auf unsere Erfahrung müsse sich stützen unser Glaube, fest wie unser Glaube sei unser Vertrauen zu dir, innig und treu wie unser Vertrauen sei unser Gehorsam, unsere Liebe! Gieb daß auch wir sagen können, wie einst dein unvergleichbarer Sohn sagte: der Vater lässet sein Kind nie allein! Mit den Worten unseres Heilandes beten wir: Unser Vater etc.

Text: Tit. 2, 11-14.

Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen, und züchtiget uns, daß wir sollen verläugnen das ungöttliche Wesen und die weltlichen Lüste, und züchtig, gerecht und gottselig leben in dieser Welt, und warten auf die selige Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes und unseres Heilandes Jesu Christi; der sich selbst für uns gegeben hat, auf daß er uns erlösete von aller Ungerechtigkeit und reinigte ihm selbst ein Volk zum Eigenthum, das fleißig wäre zu guten Werken.

Innigste, geistige Verbindung mit Gott ist das wahre Leben des Menschen, theuerste Mitchristen; Eins sein mit dem über alles Erhabenen, mit dem Wesen der Wesen sein eigentlicher Karakter, seine Hoheit und Würde; Liebe zu dem überschwenglich Liebenden seines Lebens Seele, das Triebwerk aller seiner Bewegungen; und ein Wandel vor dem Angesichte Gottes, ein Wirken in Gotteskraft, ein Vollbringen des heiligen Willens des himmlischen Vaters und ein Gefühl der Nähe desselben seine Freude, seine Seligkeit.

Wie herrlich bist du, o Mensch! Wie ist dir erschienen die heilsame Gnade Gottes, da sie so hoch dich stellte, zu solcher Seligkeit dich berief! – Aber bist du noch in diesem ursprünglichen, wahrhaften Zustande deiner Natur? Ist das Leben aus und in Gott noch dein Leben?

Nein, Christen. Abgewichen von Gott ist der Mensch, entfernt hat er sich von dem Wesen der Wesen, sich hinwendend zum Nichtigen und Vergänglichen und sich festhaltend an demselben, als ob es das Wesen wäre und die Wahrheit; matt glimmt nur noch, beinahe ist erstorben des innern Lebens Glut, die heilige, göttliche Liebe; ihre eigenthümliche Richtung hat verloren seine Kraft, und Kraft ohne eigenthümliche Richtung ist das noch seine Kraft? ists überhaupt noch Kraft? – Nicht doch! fast zu einer bloßen Masse ist herabgesunken sein Leben, bald träge die Erde drückend – ein erbärmlicher Anblick! – bald von fremden Gewalten geworfen zerschmetternd alles, was in den Weg ihm kommt. Und ohne Kraft, was ist des Menschen Freude? – Der Wiederschein eines glänzenden Gegenstandes auf einer Wasserblase. Nicht aus dem Innern geht hervor ihr Glanz, denn hohl ists im Innern, und zerstört wird sie vom leisesten Hauche der Luft. Wie reich auch zuweilen die äußere Freude scheint, doch ist ihr Reichthum nur ein buntes Mancherlei der Armuth. Sehet die welkenden Pflanzen, sehet die Blätter des Baumes im Herbste – auch ihre Farben sind bunter und reicher, als ihr einfaches jugendliches Grün im Frühling, und doch sind sie nichts anders als Spuren des Todes, des schnell nahenden Todes. Nur wo des Menschen Kraft gerichtet ist auf Gott, da ist wahre Kraft; nur wo Liebe zu Gott im Innersten brennt, da ist wahres Leben. Wo die Liebe nicht ist, da herrscht, da ist der Tod! –

So sehr aber die Natur des Menschen verändert ist, so ist doch Gott unverändert, er ist, der da war und sein wird, die reinste, unerschöpfliche Liebe. Auch derer, die sich entfernt hatten von ihm, nahm er immer sich väterlich an, sorgte für ihre wesentliche Bedürfnisse, erweckte die Sehnsucht nach ihm und das Gefühl seines Daseins, nährte den noch in ihnen glimmenden Funken der Liebe, und ließ sie erfahren seinen Beistand, seine Hülfe, seinen Schutz. Jeder der nur wollte, konnte wahrnehmen die Fülle seiner heilsamen Gnade. Ein Noah, ein Abraham, ein Isaak, Jacob, Joseph, und wie sie alle heißen die Gottbegnadigten, wie gab ihr Leben, ihre eigene Erfahrung ihnen die feste Ueberzeugung, Gott sei die Liebe!

Aber am herrlichsten, am beseligendsten erschien die heilsame Gnade Gottes in seinem Sohne, in Christo Jesu. Wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit. Und diese Gnade erschien nicht blos diesem und jenem, nicht einer besondern Menschenklasse, einem auserwählten Volke, sondern allen Menschen. „Also hat Gott die Welt geliebt,“ sagt unser Heiland, „daß er seinen eingebornen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben. Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Gehet hin,“ trug er seinen Jüngern auf, „in alle Welt und lehret alle Völker!“ Das ganze Menschengeschlecht soll in ihm einen Heiland, einen Erlöser, einen Seligmacher haben; es soll durch ihn erneut, wieder hergestellt, gereinigt, gestärkt, vergöttlicht werden. Alle sollen durch ihn mit Gott wieder in die innigste Verbindung kommen, sich wieder fühlen und erkennen als Kinder des Vaters im Himmel. Nicht die Gerechten ruft er zur Buße, sondern vor allen die Sünder. Da ist keiner, wie unvollkommen er auch seyn möge, der nicht durch ihn ermuthiget werden könnte und Kraft erhielte zur Vollkommenheit emporzustreben; keiner, wie sehr er auch niedergedrückt würde von dem Bewußtsein seiner Sünden, der nicht bei ihm Erleichterung fände und Vergebung; keiner, wie unwissend er auch wäre, der nicht durch ihn erführe, daß Gott sei, und wer er sei. Wie des Frühlings Milde hervorruft die Keime in der Erde und aufschließt des Baumes Knospen, so entwickelt Er in des Gemüthes Tiefe die Keime des himmlischen Lebens, entzündet Liebe in der Brust, und erregt Großmuth im Geiste; erfüllt mit Licht, das erhellt des Lebens Tiefe und der Dinge Verhältnisse, und rüstet aus mit Kraft, die die Welt überwindet, die Leiden besiegt und den Tod; theilt mit seinen Geist den Seinen, den Geist der Wahrheit und des Trostes, und giebt ihnen eine Gewißheit ewiger Seligkeit, die sie hinweghebt über die Schrecken der Vergänglichkeit und die Schmerzen der Trennung, und an welcher jede Gewalt des Zweifels sich zerschlägt, weil sie sich gründet auf eigene, obgleich nur unvollendete Erfahrung. Denn in ernsten und heiligen Momenten senkt sich die zukünftige Seligkeit herab in unsern dunkeln Lebensgang wie eine balsamisch duftende Blumenkette, umstrahlt von göttlichem Glanze; wirkt auf der Ahndung klar und fernsehendes Auge und bringt in die Seele den Genuß des Friedens Gottes, der höher ist als alle Vernunft, und der eine Zuversicht erzeugt, die stärker ist als der Tod.

Ja, sie ist erschienen in einem überschwenglichen Maaße die heilsame Gnade Gottes in Christo Jesu. O daß sie auch uns allen erschienen wäre! daß wir alle erfahren hätten ihre Herrlichkeit, ihre Seligkeit! Wessen Herz berührt wurde von ihr, der wird im Gefühle namenloser Wonne ausrufen: o Herr ich bin nicht werth der Barmherzigkeit, die du an mir bewiesen hast, aber deiner mich freuend soll mein Leben lauter Dank sein! du hast mich zuerst geliebt, ich will dich wieder lieben mit ganzer Seele! Laß mich ganz dein sein, dir leben und dir sterben! Wer noch nicht von ihr beseligt wurde, der strebe aus allen Kräften nach ihr, der bete ohn Unterlaß, der sei treu im Kleinen, damit er immer über Mehreres gesetzt werde! Zuversichtsvoll wende er sich an den Herrn, und der Herr, der will daß allen geholfen werde, und alle zur Erkenntniß der Wahrheit kommen, der wird auch ihm helfen, und er wird an sich selbst erfahren, daß Gott ein gnädiger Gott, ein huldvoller Vater, daß Gott die Liebe sei! –

Aber die mannichfaltigen Leiden der Erde, werdet ihr sagen, wie lassen sich denn diese vereinen mit der Gnade, der Liebe Gottes? Wie kann der huldvolle Vater so schwere Schicksale über uns verhängen, uns in Lagen versetzen, in welchen die Erinnerung an das Vergangene gräßlich, die Gegenwart drückend und finster, die Aussicht in die Zukunft Sorgen erweckend, bang, furchtbar ist? – Christen, wie dürfte ich, wie irgend einer der Sterblichen es wagen, zu rechten mit dem Herrn? Was kann ich sagen als: Es liegt auf der Menschheit und ihren Angelegenheiten ein großes Geheimniß? Wer ist in des Herrn Rathschluß gewesen? Wunderbar sind seine Wege, und Frevel ist es bei jedem derselben bestimmt ein Warum und Wozu wissen zu wollen! Statt zu grübeln über den Gang der Weltregierung verstummt meine Seele in dem frohen Bewußtsein, daß ich bin und daß ich Gottes bin, und fühlt sich durchdrungen von seinem Leben und seiner Seligkeit, indem sie fühlen kann seine Liebe und ihn zu lieben vermag. Läge mir alles im Dunkel, hab’ ich nur ihn, weß bedarf ich mehr? – Doch, Christen, Gott selbst hat über vieles uns Licht gegeben, und in seinem Lichte zu sehen, und in seinem Lichte zu wandeln, das ist Leben des Menschen, Menschenberuf!

Auch über die Uebel und Leiden, die uns treffen, ward uns göttliches Licht zu Theil. Zwar wissen wir nicht alles im Einzelnen zu deuten, aber die allgemeine Bedeutung unserer Leiden und Widerwärtigkeiten ward uns kund. Der Gesichtspunkt aus welchem wir dieselben zu betrachten haben, wird uns in unserem Texte angegeben. Die heilsame Gnade, heißt es in demselben, züchtiget uns durch sie, erzieht uns, bringt uns auf dem Leidenswege zu unserm Ziele. Dies laßt uns etwas näher betrachten!

So wenig das Licht der Finsterniß Quell sein kann, so wenig kann unmittelbar von Gott Leiden und Uebel kommen. Er liebt nur, will nur erfreuen und segnen. Von ihm, dem Seligen, kann Seligkeit nur ausströmen. Außer Gott müssen wir also der Leiden Ursprung suchen. Wie außer Gott etwas Ungöttliches sein könne – siehe da, das Geheimniß des Lebens und des Todes! Den Schleier wegziehen von diesem Geheimnisse kann ich nicht, ich mag auch, um mich nicht zu verirren und einzulassen in die tiefste Untersuchung, nicht enthüllen, was meiner ahndenden Seele vorschwebt. Das aber kann ich mit der festesten Ueberzeugung und mit der Beistimmung eines jeden sagen, daß die Begierden und Leidenschaften und die aus denselben hervorgehenden körperlichen Schwächen der Menschen die nächsten Quellen des menschlichen Elends seien.

Wenig sind der unentbehrlichen äußeren Bedürfnisse der Menschen, und reich ist die Natur an den mannichfaltigsten Gütern, reich der menschliche Geist an Kraft sich anzueignen und zu gebrauchen diese Güter. Wüßte jeder nur sich zu begnügen, die Gewalt der Begierden zu beherrschen, verstände er die Kunst zu leben und leben zu lassen, in dem Aeußeren zu vernehmen den verborgenen Geist und das Sichtbare anzuwenden zum Dienste des Unsichtbaren – Mensch zu sein unter Menschen: wie würde dann verschwinden jegliche Spur des Elends, wie würde Freude unter uns wohnen und Friede den Erdkreis schmücken, wie würde die sichtbare Welt das Gepräge tragen des geistigen Lebens, gleichsam nur sein eine verkörperte höhere Welt! Aber da stürmen wild die Begierden dahin, nach dem Rechte nicht fragend und nach den Wünschen des Andern, fallen her über den Gegenstand, der ihnen Nahrung verheißt, und im Ergreifen der Nahrung wächst der wüthende Hunger. Durch Befriedigung vergrößern sich immer die Bedürfnisse, das Gewöhnliche, das Einfache, das Natürliche kann nicht mehr genügen, und jetzt wird erkünstelt, tausendfältig zusammengesetzt, bis zum Unnatürlichen, zum Eckelhaften verfeinert jeder Genuß. Erschlaffter und reizbarer zugleich werden die Organe des Genusses, und so bemächtigt sich Wollust des Menschen, die auslöscht allen Adel der Seele; feige und weichliche Erbärmlichkeit, die dem Geiste die Schwingen zerbricht, und über dem Nichtigsten und Unbedeutendsten sich freuen und ängsten kann, als ob es das Köstliche wäre; karakterlose Treulosigkeit, die jetzt vor dem Heiligsten kniet, jetzt Hohn spricht demselben und lästert, die süßzüngelnd vergiftet, küssend den Freund ihm den Dolch in die Brust stößt, und nicht einmal weiß, was sie will und was sie thut! – Oft aber treibt die Begierde nicht zum Genusse der äußern Güter, sondern zum bloßen Haben derselben. Neigung zum Genusse ruft diese Begierde gewöhnlich hervor, aber Besorgniß nach dem Genusse wieder darben zu müssen, läßt sie zusammenhalten ihre Güter, Schätze aufhäufen, immer den Besitz vergrößern. Rastlos mit dem Sammeln beschäftigt hat sie größtentheils nicht Ruhe zu genießen, und wenn sie Ruhe dazu bekommen soll, so muß sie gewiß sein, richtig berechnet haben, daß der Genuß ihr keine Aufopferungen kostet, sondern daß höchstens andere deshalb entbehren müssen. Geiz ist die Wurzel alles Uebels, heißt es in der heiligen Schrift. Kalt und hart, wie sein Metall, wird endlich des Geizigen Herz, unempfindlich gegen fremde Noth, mag sie herkommen, woher sie will, ja mag er selbst derselben Urheber sein. Der Geist, immer nur gerichtet auf das Irdische, wird ein Fremdling in seiner wahren Heimath, verliert seinen freien und weiten Blick, seine Beweglichkeit und erstarrt in dem engen Kreise des äußern Lebens, in welchem er nur mechanisch hin- und herbewegt wird; jeder Maasstab für das Wahre, Edle, Schöne, Große wird ihm entzogen, und er kennt nichts mehr, was an und für sich Werth hätte. Schätzen kann er nur Besitz, Gewinn und Vortheil, und freuen sich nur dessen, was ihm ein Mittel wird zu diesen ihm allein schätzbaren Gütern. Oft endlich geht die Begierde weder auf das Genießen, noch auf das Haben, sondern blos auf das Scheinen, Gelten und Können. Wer blos scheinen will ohne zu sein, heißt eitel. Wer alle seine Kräfte aufbietet um sich geltend zu machen, um seine wenn auch noch so willkührliche Plane auszuführen, ist ehrsüchtig. Eitelkeit und Ehrsucht sind schädliche, furchtbare Gifte, die die Bande der Menschheit zerfressen; ungöttlich sind beide, sie machen das Ich zum Götzen. Klein zwar und oft selbst lächerlich erscheint die eitele Seele, wenn sie erkannt wird, aber dennoch sind schrecklich oft die Wirkungen, die sie hervorbringt. Welche Greuel stellt uns die Geschichte nicht auf, welche lediglich gereizte Eitelkeit zur Quelle hatten? – Die Ehrsucht, stärker wie jene und reicher gewöhnlich an Mitteln, wird zwar oft von ihren eigenen Flammen verzehrt, oft aber auch braußt sie dahin, ein glühender Strom, Felsen stürzen unter ihr, über blühende Fluren macht sie verheerend sich Bahn, verwandelt in Trümmer die Wohnungen des Glücks und des Friedens, und über den Trümmern ergreift sie am Ziele den Ruhm. –

Soll ich noch mehr Quellen aufzeigen des menschlichen Elends? oder schildern das Elend, das aus jenen Quellen kommt, um euer Herz zu rühren? – Nein, ich rede zu Menschen, ich rede vor einer christlichen Versammlung, und einer solchen brauche ich nur Winke zu geben. Aber Menschen, Christen, Brüder! das frage ich euch vor dem allwissenden Gott: Liegt nicht auch in euch die Quelle des Elends? Das laßt uns alle vor dem Angesichte Gottes uns fragen: Sind nicht unsere Begierden und Leidenschaften zu mächtig in unserm Innern? Hat nicht die Welt, haben nicht weltliche Lüste uns gefangen genommen? Gehen nicht unsere Neigungen zu lebhaft nur auf sinnliche Freuden? Dürsten wir nicht zu sehr nach vergänglichem Genusse, nach Wohlleben, nach äußeren glänzenden und rauschenden Vergnügungen? Hängt nicht unser Herz zu fest an irdischen Gütern? Ist nicht unser Tichten und Trachten zu mächtig gerichtet auf Erwerb und Gewinn? Sind wir nicht vielleicht, nur an uns denkend, auf unser Fortkommen, unsern Wohlstand sinnend, ungerecht, hart, lieblos gegen unsere Brüder? Hat nicht Scheinsucht sich unserer bemächtigt? ein thörigter und schädlicher Hang es andern zuvorzuthun, andere zu überglänzen uns bezwungen? Ist nicht unser Luxus, unser Aufwand, selbst für glückliche Zeiten, hier und da zu groß? Schlummern oder regen sich nicht feindliche, die Gesellschaft zerstörende Neigungen in unserem Herzen? Wohnt nicht Neid, Haß, Schadenfreude, Verkleinerungssucht, Verläumdung, Tücke in unserem Innern? Lenket nicht Eitelkeit, Ehrsucht, Stolz, Hoffart unsere Schritte? Christen, bei dem Gotte, der das Herz sieht, beschwöre ich euch: Laßt uns nicht bei diesen Fragen an den oder jenen denken, nicht andere darnach beurtheilen wollen! Uns selbst, unserm tiefsten Innern laßt sie uns vorhalten, laßt uns stille sein und hören, was uns innerlich für eine Antwort wird, und ehrfurchtsvoll vor dieser Antwort uns beugen. Fühlen wir bei manchen Fragen uns frei und leicht, so laßt uns Gott danken in Demuth, der uns bewahret hat. Fühlen wir uns schuldig, o so laßt uns mit inniger Reue zu Gott uns wenden, bei ihm laßt uns Kraft suchen, ihm dem hilfreichen, dem rettenden, laßt uns vertrauen; der wird uns Hilfe senden unserer inneren Noth und mit der innern zugleich auch die äußere fernen. Denn das ist der Zweck, den die Leiden und Widerwärtigkeiten, die Gott zuläßt, an uns erreichen sollen, daß sie uns frei machen von der Gewalt unserer Begierden und Leidenschaften, daß sie verbannen alles ungöttliche Wesen aus unserm Innern, wecken unsern ursprünglichen Lebenstrieb, und die mit demselben verbundene Sehnsucht nach Gott. So wenig Gott angesehen werden kann als die unmittelbare Quelle unserer Leiden, so wenig dürfen wir auch glauben, daß er uns lassen könne in dem Gedränge der Noth, in welche wir selbst uns stürzten, oder gestürzt wurden, weil wir nicht waren, was wir sein sollten. Er läßt sie nur zu um uns so durch die Folgen unserer Thorheit, unserer Verirrungen und Vergehungen wieder zu heilen. Züchtigungen sind sie des liebenden Vaters, Erziehungsmittel des gnädigen Gottes; reinigen, bessern, stärken, größer machen sollen sie uns. Haben sie diese seine Absichten an uns erreicht, so wendet er sie zuverlässig von uns wieder ab. Aus Liebe zu uns läßt er uns leiden zu unserm Besten. Und selbst so lange wir gedrückt werden von Leiden, beweißt er sich uns nicht als die Liebe? Versüßt er uns nicht mit manchem Tropfen unaussprechlicher Wonne den bittern Kelch? Läßt er uns nicht so manches erfahren, was den Geist hebt, den Muth stärkt, das Herz leichtert, was wir später um keinen Preis nicht erfahren haben mögten? Wird uns nicht, gerade in den trübsten Stunden, der Freundschaft, der Liebe, des seltensten Vertrauens Heiligthum eröffnet? Werden nicht größtentheils in Mühen und Gefahren die edelsten Vorsätze, die heiligsten Empfindungen, die festesten Entschlüsse geboren, die schönsten Tugenden ins Leben geführt?

Christen, es ist die heilsame Gnade Gottes, die uns durch Leiden züchtiget! O laßt uns gegen ihre Züchtigungen uns nicht verhärten, nicht gleichgültig bleiben gegen die väterliche Erziehung, nicht durch einen fortgesetzten ungöttlichen Wandel noch strengere Erziehungsmittel nothwendig machen! Das sei jetzt unser ernstester Vorsatz, daß wir verläugnen alles ungöttliche Wesen und die weltlichen Lüste, und züchtig, gerecht und gottselig leben in dieser Welt; daß wir trachten nach dem, was droben ist und nicht nach dem, das auf Erden ist! Gott hat uns gerufen mit ernster Stimme, laßt uns hören auf seinen Ruf und kindlich ihm folgen! Eine schwere Zeit ist über uns gekommen; aber sie wird eine Zeit des Segens sein, wenn sie unsern Geist bestimmt sich über sie zu erheben und zu Gott zu kommen; in ihr ist auch uns erschienen die heilsame Gnade Gottes, wenn sie uns antreibt unsere Zuflucht zu nehmen zu Christo, der seine Arme, der sein Herz für uns geöffnet hat, damit wir bei ihm Frieden fänden; wenn sie uns veranlaßt ächtes Christenthum zum bleibenden Gegenstande unserer Sehnsucht zu machen und in ihm zu suchen des Herzens Freude! – Es verschwinde aus unserer Mitte aller unmäßige Luxus; unterlassen werde, auch von denen die noch Kräfte dazu haben, jede Zurüstung zum Wohlleben, zu glänzenden Festen! Die Zeit verbeut es jetzt. Was sonst wohl erlaubt sein mag, jetzt ists Sünde. Jetzt, wo noch so viele Wunden bluten, wo noch so manche heiße Thräne des Schmerzes geweint wird, wo tausende unserer Mitbrüder mit den nothwendigsten Lebensbedürfnissen zu kämpfen haben, wo jeder der nicht leichtsinnig ist, noch immer sorgenvoll in die Zukunft schauen muß – jetzt, dem Unglücke gegenüber, noch im Glanz und Prunk schwelgen, und im Angesichte so vieler Trostlosen herrlich und in Freuden leben, – das heißt menschliches Gefühl verläugnen, das heißt Hohn sprechen den blutenden Herzen, das ist dumpfe Roheit, heidnische Barbarei! O verzeiht mir, wenn ich hier vielleicht von Dingen rede, die keinem von uns in die Seele gekommen sind, noch kommen werden, verzeiht es meinem durch unsere Noth gebeugten Herzen, meinem durch den Anblick so vieler Leiden erschütterten Sinne; seht es an als einen starken, lebendigen Ausdruck meines innigsten Wunsches, daß wir uns alle in die Zeit schicken mögen, weil es eine böse Zeit ist! Unsere Lebensart, unsere Art manche Dinge anzusehen, und zu handeln, kann und darf nicht mehr die alte bleiben. Sie ist verschwunden die alte Zeit, eine neue ist da! Was sie bringen wird die neue, wer mags enthüllen? Die Ruhe kehrt uns wohl wieder, auch der Friede, der köstliche, wird nicht ausbleiben; aber die alte Zeit, sie kommt nicht wieder! Laßt uns edel sein, hilfreich und gut, die Thränen trocknen des Weinenden, trösten den Betrübten, den Kranken pflegen und dem zurückgekommenen und zurückbleibenden Bruder mild und kräftig die Hand bieten. Ein edler Gemeingeist beseele uns alle, in dem Wohle aller finde jeder sein Glück; zu dienen strebe jeder, und wer am meisten, am treusten dient, der heiße der Größte; kein thörigtes Vorurtheil, kein verjährtes Herkommen, kein versteinerter Eigensinn müsse das Verständige, das Rechte, das Gemeinnützige, das Wahre, Schöne und Gute hemmen! Die Liebe führe uns vorwärts, die Liebe hebe uns empor! Mit einem Worte: Laßt uns Christen sein, und die neue Zeit wird eine bessere, wird wahrlich eine glückliche Zeit werden! –

Ihr sehet, daß ich nicht zu ängstlich die Gegenwart ansehe, nicht zu kleinmüthig in die Zukunft schaue. Nein, unter allen meinen Schmerzen wohnt eine feste, eine freudige Hoffnung in meiner Seele – die Hoffnung des Christen! – Je trüber die Zeit ist, desto glänzender hebt diese Hoffnung sich empor. Nahe aneinander gränzen Furcht und Hoffnung, beide werth dem, der ihre Bedeutung kennt. Furcht und Hoffnung sind die entgegengesetzten Seiten, die rauhe und die glänzende des dünnen Lebensblattes. Zur Erde ist gekehrt die rauhe Seite, um einzusaugen die aufsteigenden Dünste der Erde, es soll die Furcht verzehren die irdischen Begierden; die glänzende Seite aber breitet sich dem Himmel entgegen um aufzufangen das milde Licht und zurückzustrahlen der Sonne hehres Bild, die Hoffnung soll auffassen des Himmels Herrlichkeit und mit göttlichem Strahl uns das Leben verschönen. Ja, Christen, wir können, wir dürfen nicht ängstlich, nicht kleinmüthig sein! Nur das Unsere laßt uns thun, und gewiß ist uns die Hoffnung der Erscheinung der Herrlichkeit unseres großen Gottes und unseres Heilandes Jesu Christi. Es läßt der Herr sich finden von dem, der ihn mit ganzer Seele sucht; dem Lichtfähigen sendet er Licht, und Kraft giebt er dem der höhere Kraft gebrauchen kann. Ein lebendiger Gott ist unser Gott, der keinem sich unbezeugt läßt, ein hörender, ein antwortender, ein helfender! Ein Helfer der Seinen, ein Arzt der Kranken, ein Retter in Gefahr und Noth, ein unaussprechlich liebender Bruder erschien er in Christo Jesu, that sich kund als den, der da ist das Licht, die Auferstehung und das Leben. Was er war, das ist er noch. Sein Name ist Wunderbar, Kraft, Held, ewiger Vater, Friedensfürst. Jesus Christus ist gestern und heute und in alle Ewigkeit derselbe. Nahe ist er uns. Haben wir Glauben an ihn, er wird innerlich uns erscheinen, berühren, durchdringen wird uns seine Kraft, einströmen in unser Herz seine überschwengliche Liebe. Was die Apostel einst, was die ersten Christen erfuhren, auch wir werden etwas der Art erfahren können. Glaube, Vertrauen ist der Schlüssel zu immer größerer, immer herrlicherer Erfahrung. Seinen Geist verhieß er seinen Jüngern, aber nicht blos den damaligen, sondern allen, die durch ihr Wort an ihn würden gläubig werden. Auch uns ist er verheißen der Geist des Herrn! Christen, laßt uns uns fähig machen der höheren Einwirkung, laßt uns uns darstellen als Tempel des Geistes Gottes! O wie herrlich, wie selig wird dann unsere Erfahrung sein; wie wird sich uns das Leben verjüngen; wie wird alles uns göttlich werden! Nicht wir werden leben, sondern Christus lebet in uns! Gott wird durch uns wirken, lieben werden wir mit seiner Liebe, und wie groß unsere Liebe ist, so groß wird unsere Kraft auch sein. Den Willen Gottes zu thun ist dann unsere Freude, sein Werk zu treiben unsere Seligkeit! Und wenn dann der Herr erscheinen wird an jenem großen Tage ein Richter der Welt, wie namenlos wird dann unsere Seligkeit sein! Selig sind die beharren bis ans Ende, sie werden die Krone des Lebens empfangen. Gehet ein zu eueres Herrn Freude und ererbet das Reich, das euch bereitet ist! Mit diesem Zuruf wird uns empfangen der Herr! –

O! es hebt fröhliche Begeisterung den Geist mir empor, und der Hoffnung himmlischer Strahl durchdringt meine Seele! Ein neues Geschlecht seh’ ich, ein reines, ein göttliches, ein Volk fleißig zu allen guten Werken, ich sehe, wie unsere Leiden zerbrochen haben unsere Herzen, und wie das himmlische Saatkorn aufgehet in denselben, schön und immer schöner hervortreibt, endlich herrliche fruchtvolle Aehren ansetzt, die reif sind am Tag der Garben! Ists ein Traum, was mit Wonne des Himmels mich erfüllt? ists Wahrheit? – O Christen laßt es zur Wahrheit uns machen! Laßt uns treu sein in unserm Berufe, uns selbst verläugnen, unser Kreuz auf uns nehmen und ihm nachfolgen, der gelitten hat und uns ein Vorbild gelassen, daß wir treten sollten in seine Fußstapfen. Schwer ists freilich, und wehe thuts sich loszureissen von der Welt; aber hat uns denn der Herr nicht erleichtert dieses Losreissen durch die Lage, in die wir versetzt wurden? Kann es uns zu schwer werden, wenn den Blick auf Jesum wir richten? O sehet den Dulder ohne Gleichen, sehet ihn der aus Liebe zu uns das Schwerste, das Furchtbarste litt, der sich selbst für uns dahin gab und sein theures Blut vergoß, damit er uns erlösete von aller Ungerechtigkeit, und ihm reinigte ein Volk zum Eigenthum, das fleißig wäre zu guten Werken! Nein, Herr, es wird uns nicht zu schwer werden, dein Beyspiel stärkt uns, dein Muth belebt den unsrigen, deine Liebe nimmt uns unser Herz, deine Kraft geht auf uns über. Sei du mit uns! Sei du in uns Schwachen mächtig! Beweise du dich als Helfer der Deinen, damit durch Beweise des Geistes und der Kraft wir uns als deine Jünger erweisen! Lob und Preis sei dir in alle Ewigkeit! Amen.

Eine Predigt, gehalten am 30sten November 1806 bei der Wiedereröffnung des Gottesdienstes in der reformirten Kirche nach der Schlacht bei und in Lübeck, von Johannes Geibel, Prediger der evangelisch reformirten Gemeine.
Zweite Auflage.
Zum Besten der durch die Kriegsübel verarmten Einwohner Lübecks.
Preis 8 Schilling.
Lübeck, gedruckt bey G. F. J. Römhild.

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