Geibel, Johannes - Christus allein - Gastpredigt

Geibel, Johannes - Christus allein - Gastpredigt

Gehalten am 17. Julius 1831 in der evangelisch-reformirten Kirche zu Braunschweig.

Herr! Oeffne Deiner Wahrheit die Herzen! Gib Deiner Wahrheit den Sieg! In Deinem Namen sind wir hier versammelt. Dein Name werde unter uns verherrlicht! Amen.

Text: 1 Kor. 2, 2.
Denn ich hielt mich nicht dafür, daß ich etwas wüßte unter euch, ohne allein Jesum Christum, den Gekreuzigten.

Jesus Christus ist des Christenthumes Mittelpunct. An Ihn, an Seine Person ist das Heil unseres ganzen Geschlechtes geknüpft, Es ist, sagt Petrus, in keinem Andern Heil, und ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, darinnen wir sollen seelig werden. In Christo allein ist also das Heil, und zwar in Ihm, nicht wie Dieser oder Jener in seinen Gedanken sich Ihn gestaltet, wie er nach seinem Gutdünken Ihn darstellt, sondern in dem geschichtlichen Christus, der geboren von Maria, der Jungfrau, gelitten hat unter Pontio Pilato, und am Kreuze gestorben ist; den aber, um Ihn kräftiglich als Seinen wahrhaftigen Sohn zu erweisen, der Vater auferwecket hat von den Todten am dritten Tage, und in den Himmel erhöhet, wo Er sitzet zu Seiner Rechten, bis Er wiederkommen wird zu richten die Lebendigen und die Todten. Dieser Christus wurde von allen Aposteln verkündigt in ihren mündlichen und schriftlichen Zeugnissen; von diesem erscholl durch alle Jahrhunderte hindurch die freudige Kunde, daß Er uns von Gott gemacht sei zur Weisheit, zur Gerechtigkeit, zur Heiligung, und zur Erlösung; und Tausende erfuhren das Heil in Ihm, und bewiesen es durch ihr ganzes Leben, daß sie nicht Träumer und Fantasien seien, sondern, daß eine göttliche Kraft ihr Leben durchdrungen, sie der Herrschaft der Selbstsucht und Weltlust, den Mächten der Vergänglichkeit entrissen, und zu Kindern Gottes und Erben des Himmels sie gebildet habe. - Ein christlicher Prediger kann und darf daher keinen andern Christum verkündigen, als diesen; er kann und darf keinen andern Weg weisen zur Weisheit, zur Gerechtigkeit, zur Heiligung und zur Erlösung, als den die Apostel gewiesen, und welcher Jesus Christus selbst ist; wie Er denn auch sagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, und Niemand kommt zum Vater, denn durch Mich.“ - Christus allein! Das ist in Beziehung auf sein ewiges Heil der Wahlspruch des Christen. Und wie nach unserm Texte Christus allein der Gegenstand war, auf welchen sich die ganze Belehrung des Apostels Paulus bezog unter den Korinthern und allenthalben: so sei auch Christus allein der Kern und Stern dieser schwachen Predigt, und, Gott gebe es! unseres ganzen Lebens. Wer anders könnte es auch sein? Denn in Christo allein ist ja

  • der Menschheit das Leben, die Liebe Gottes erschienen;
  • in Ihm allein kann der Sünder gerecht werden vor Gott;
  • in Ihm allein wird der Gläubige geheiliget;
  • in Ihm allein der Traurige und Leidende wahrhaft getröstet, und
  • in Ihm allein wird der Sterbliche des ewigen Lebens theilhaftig.

Diese fünf Puncte wollen wir nun mit Andacht erwägen, und bitten den Herrn, daß Er uns ihrer Wahrheit recht inne werden lasse!

1

In Christo allein ist der Menschheit das Leben, die Liebe Gottes erschienen, und dadurch ist ihr das höchste und tiefste Bedürfniß befriedigt, dadurch ist sie von aller Unsicherheit befreiet, und vor aller Verirrung bewahrt. Gott hat allerdings auch in der Natur und im Innern des Menschen sich geoffenbaret. Alles, was ist, zeuget von Ihm. Aber wer darf behaupten, wenn er auf die Geschichte und die tägliche Erfahrung hinblickt, daß durch diese allgemeine Offenbarung eine wahrhafte und lebendige Gotteserkenntniß bewirkt werde? Die Menschen, in das sinnliche und selbstische Leben verloren, achten entweder gar nicht darauf, und wenn sie auch nicht geradezu das Dasein Gottes leugnen, so leben sie doch so, als ob kein Gott wäre; oder wenn sie auch zum Nachdenken gekommen sind, so erhebt sich dasselbe bei Einigen doch nur zu einem allmächtigen Wesen, zu einem letzten Grunde der Dinge, dessen Leben und Verhältniß zu ihnen aber ein unbekanntes ist; bei Andern steigt es empor zu einem gerechten Richter, vor dem sie aber zittern; und wiederum bei Anderen wird es zu einem Traume von einer ewigen Liebe, die nicht zugleich eine gerechte ist, und bei welcher sie denn meinen, ungestört in ihrer Sinnlichkeit und Selbstsucht, in ihrer Sünde bleiben zu können. Doch wer mag sie alle aufzählen, die furchtbaren Verirrungen in Beziehung auf Gott und göttliche Dinge, in welche die Menschen, und selbst die denkendsten, bei der allgemeinen Offenbarung Gottes hineingerathen sind? - Wahrlich, der Mensch in seinem gefallenen Zustande bedarf einer besonderen geschichtlichen Offenbarung, die ihm in Zeichen, Wort und That entgegentritt; die das Wahrheitsbedürfniß nicht blos in ihm erweckt, sondern zugleich auch befriedigt; die das Sehnen und Ahnden seines Herzens belebt, und zugleich in der Stillung desselben sich ihm als unerschütterliche und beseeligende Wahrheit darstellt; die ihm auch sein inneres Auge wieder öffnet und hell macht für die Offenbarung Gottes in der Natur und im Innern. Eine solche besondere, geschichtliche Offenbarung gab Gott den Patriarchen, gab Er dem israelitischen Volke, und ließ so das Licht, das Er in Einzelnen angezündet halte, in die Menschheit hineinleuchten. In ihrer Vollendung aber erschien diese Offenbarung, da die Zeit erfüllet war, in Jesu Christo, Seinem Sohne. In Ihm trat das ewige Wort, der ewige Offenbarer Gottes, Mensch werdend, selbst in das Menschenleben ein. „Das Wort ward Fleisch und wohnete unter uns, und wir sahen Seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des Eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“ Da hatte nun das überschwengliche, verborgene Leben Gottes einen vollkommenen Ausdruck bekommen in der menschlichen Natur; da war der Unbegreifliche den Menschen so nahe gekommen, daß sie Ihn fassen, vernehmen und verstehen konnten in Wort und That; da war alles Göttliche, was in ihrem Innern sich regte, in bestimmter Gestalt, in vollendeter Wahrheit und Kraft äusserlich ihnen anschaulich geworden; sie sahen, wie es als Geist ein Menschenleben bestimmt und beherrscht. Da war die erbarmende Liebe Gottes in ihrer ganzen Herrlichkeit offenbar; denn „also hat ja Gott die Welt geliebt, daß Er Seinen Eingebornen Sohn gab, auf daß Alle, die an Ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ Der Sohn war ja in die Welt gekommen, „nicht daß Er der Menschen Seelen verderbe, sondern sie errette;“ Er war gekommen, „zu suchen und selig zu machen was verloren ist,“ „Sein Volk selig zu machen von ihren Sünden.“ Da war jedem, der sehen wollte, die Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes kund; denn nicht nur war Er, der Sohn, ohne alle Sünde, durchaus heilig, sondern Er forderte auch von den Seinen, daß sie heilig und vollkommen in der Liebe sein sollten, wie ihr Vater in dem Himmel heilig und vollkommen ist in der Liebe. Da hatte sich die Weisheit Gottes unter den Menschen verherrlicht; denn Sein ganzer Rathschluß zur Erlösung unseres Geschlechtes war nun lichthell hervorgetreten, und Keiner sollte durch Zwang und Gewalt dem Verderben entrissen werden, sondern durch bewirkten und begründeten Glauben, durch freie Ueberzeugung, durch eigene, aus der Erfahrung der Liebe Gottes hervorgehende That. Da hatte die Macht Gottes in dem Menschen sich wirksam bewiesen als Obmacht über die Natur, und alle dem Geiste widerstrebende Gewalten besiegend; der Sohn that die Werke des Vaters. Des Vaters Leben ohne alle Trübung und Unterbrechung offenbarend, konnte Er also sagen: „Wer Mich stehet, der stehet den Vater,“ „Wo Ich bin, da ist der Vater,“ „Ich und der Vater sind Eins.“ Und dieses Leben in Christo schauend, mußten nicht die Apostel des Herrn ausrufen: „Wir sahen Seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des Eingebornen Sohnes vom Vater!“ Mußten sie nicht Allen zurufen: „Das Leben ist erschienen, und wir haben gesehen, und zeugen, und verkündigen euch das Leben, das ewig ist, welches war bei dem Vater, und ist uns erschienen.“ - Und wer diesem ihrem Zeugnisse glaubt, weil es innerlich und äusserlich bestätigt ist, und noch täglich bestätigt wird, ist der nicht auch zum Hellesten und freudigsten Gottesbewußtsein gekommen? Ist ihm das Leben, die Liebe Gottes in Christo Jesu, nicht erschienen, so, daß alle Unsicherheit aus seinem Innern verschwunden, aller leere Dunst selbstischer Weisheit vertrieben, und er nun Gottes und Seines herrlichen Lebens gewiß ist, wie seines eigenen Lebens? Ja, in Christo allein ist das Leben Gottes der Menschheit erschienen, und zwar in der ganzen Fülle, in welcher es von ihr erkannt und aufgenommen werden kann, und eben darum ist Er der wahrhaftige Sohn Gottes!

2

In Christo allein kann aber auch der Sünder vor Gott wieder gerecht werden. Eine Offenbarung, welche uns blos sagte, was Gott ist, und was wir sein sollen, würde uns nicht helfen, denn wir sind Sünder. In dem Bewußtsein unserer Sünde und Schuld aber fühlen wir uns von Gott getrennt, Seiner Liebe nicht werth, und unser Herz ist eben so wenig fähig sie aufzunehmen, wie ein krankes Auge das Licht. Wir fürchten und fliehen Gott als einen gerechten Richter, ob wir gleich uns selbst sagen müssen, daß wir Ihm nicht ausweichen können. Eine unheilbare und zerstörende Angst ist in uns, bis wir göttlich gewiß sind, daß uns alle unsere Sünden vergeben seien. Dann erst erhalten wir wieder Muth und Freudigkeit, uns Gott zu nahen; dann erst wird das Herz fähig, sich von Seiner Liebe wieder durchdringen zu lassen. Allein eben gegen diese göttliche Gewißheit der Vergebung der Sünde sträubt sich der Mensch, so lange er noch nicht Christum als den Erlöser und Versöhner kennen gelernt hat. Er fragt: Wie kann Gott Sünden vergeben, da Er doch gerecht ist? Hat Er nicht dem Uebertreter Seines Gesetzes Strafe gedrohet? Und bin ich nicht ein Uebertreter? Muß mich daher nicht die gedrohete Strafe treffen? - Sehet, darum mußte der Sohn Gottes das Werk der Erlösung und Versöhnung der sündigen Menschheit mit Gott vollbringen, und zwar so, daß die aus dem tiefen Gefühle der Gerechtigkeit Gottes hervorgehenden Zweifel zerstört, und die Sünder selbst zu der Einsicht erhoben würden, der gerechte Gott könne unbeschadet Seiner Gerechtigkeit ihnen die Sünden vergeben. - Wie hat Er nun das große Werk vollbracht? - Der Sohn Gottes, der aus erbarmender Liebe zur gefallenen Menschheit Mensch geworden war, stand da in der Welt als der andere Adam, die Sache seines ganzen Geschlechts führend, im Namen des ganzen Geschlechts handelnd, und machte in Seiner Person die verdorbene Sache der Menschheit wieder gut. Er bestand in allen, auch den schwersten Prüfungen, erhielt sich rein und frei von aller Sünde, alle Feinde der Menschheit, vertilgte durch den ewigen Geist, den Er mit in die Welt brachte, Alles, was in der von Ihm angenommenen Menschennatur dem Geiste widerstrebte, und machte sie zu einem willigen, vollkommenen Werkzeuge des Geistes. Er leistete seinem Vater den treuesten Gehorsam, einen Gehorsam unter den bittersten Leiden, einen Gehorsam bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuze, und so that Er der göttlichen Gerechtigkeit vollkommen genug. Sein Leben war ein Leben im Geiste, dessen Thätigkeit durch Nichts gehemmt werden konnte; ein Leben der Liebe, die alles Selbstische verleugnete, alles Sinnliche und Zeitliche, selbst das zeitliche Leben willig dahingab. Da Er aber alles, was Er that und litt, nicht für sich, sondern für uns, für uns Sünder that und litt, so heißt Er mit Recht das Opfer für die Sünden der Welt; und da Er Alles im Namen der Menschheit that, so hat die Menschheit in Seiner Person alles Selbstische, Sinnliche und Zeitliche dem Ewigen geopfert; und gerade ihr äußerer Untergang war das Hervortreten ihrer völligen Freiheit, der Sieg des Lebens über den Tod. Das war nun das wahre und ewig giltige Opfer, von welchem alle früheren Opfer nur Schatten und Vorbilder waren, und die somit aufhören mußten, sobald es geschehen war; das wahre Versöhnopfer, in welchem die Menschheit selbst fehlerlos und vollendet Gott dargebracht, mit Gott vereinigt wurde. - Und durch dieses Sein Opfer, durch Seinen vollkommnen Gehorsam, durch Seine fleckenlose Gerechtigkeit hat sich Christus vor Seinem Vater und vor dem Angesichte der ganzen vernünftigen Schöpfung das Recht und die Macht erworben, der Erlöser Seiner Brüder zu sein, und in Allen, die glaubend sich Ihm hingeben, durch Seinen Geist dasselbe Leben zu entzünden, das in Ihm war. Damit aber jeder Zweifel daran, daß Er der wahrhaftige Sohn Gottes, der Erlöser der Menschen, der Heiland der Sünder sei, verschwände: so hat Ihn der Vater am dritten Tage, wie Er es vorausgesagt hatte, von den Todten wieder erwecket, und dann Ihn gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe. In freudiger Begeisterung schreibt daher Paulus: „Christus hat dem Tode die Macht genommen, und das Leben und ein unvergängliches Wesen an's Licht gebracht, durch das Evangelium!“ Dieses Evangelium, diese Freudenbotschaft der vollbrachten Erlösung, rufet nun allen Sündern zu: Glaubet an Christum! In Ihm, dem Gerechten, und um Seinetwillen sind euch alle eure Sünden vergeben. An Christo haben wir die Erlösung durch Sein Blut, nämlich die Vergebung der Sünden. Gott, der Gerechte, kann sie euch in Ihm vergeben, wie Er, der Liebende, sie euch vergeben will; denn glaubend an Christum stehet ihr mit Ihm in Lebensgemeinschaft; Er ist in Euch, und ihr seid in Ihm; Er ist euer Lebensgeist, und ihr seid Glieder Seines Leibes. Um dieser eurer Gemeinschaft willen mit Ihm betrachtet und behandelt euch Gott als Gerechte, weil ihr in eurem innersten Wesen, in Eurem Glaubensleben, wirklich Gerechte seid. Christus, in euch lebend, ist eure Gerechtigkeit! - So kann also in Christo allein der Sünder vor Gott gerecht werden.

3

In Christo allein wird der Gläubige geheiliget. So gewiß der Christ, sobald er an Christum wahrhaft glaubt, in seinem innersten Wesen seiner Verbindung wegen mit Christo gerecht ist: so gewiß hat doch diese Gerechtigkeit noch nicht sogleich sein ganzes Leben durchdrungen. Innerlich ist er erneuet, von Neuem geboren; aber das alte Leben, die sinnlichen und selbstischen Neigungen und Begierden, die früheren Gewohnheiten stehen ihm noch feindlich entgegen. Sein Leben in Christo kann sich daher nur als ein Kampf darstellen, als ein unermüdlicher Kampf des Geistes wider das Fleisch. Er darf keine sündliche Lust mehr in sich dulden, sondern er muß rastlos darnach streben, daß Christi Liebe, Christi Demuth und Sanftmuth, Christi ganzer Sinn und Wandel auch in seinem Leben die Herrschaft erhalte und sich darstelle. Freilich wird in diesem Kampfe der Sieg noch oft schwankend erscheinen, und auch der Gläubigste wird nicht ohne alle sündliche Befleckung, ohne alle Rückfälle in das alte Leben bleiben. Aber so gewiß er in Christo ist, so gewiß wird jedes Innewerden der menschlichen Schwachheit ihn nur antreiben, sich inniger und fester an seinen Herrn und Heiland anzuschließen, um aus Ihm stärker zu werden. - Ungerecht ist es daher, das ganze Leben eines Christen zu verwerfen, weil noch menschliche Schwachheiten an demselben offenbar werden. Aber gar zu sagen, das biblische Christenthum, und namentlich die Lehre von der Rechtfertigung um Christi willen, lähme den sittlichen Ernst, es mache gleichartig gegen die Sünde, das ist eine furchtbare Lästerung, die entweder nur aus gänzlichem Unverstande, aus völliger geistiger Blindheit, oder aus bösem, durchaus verkehrten Willen hervorgehet! O wie sollten wir, durch Christum von der Sünde erlöset, uns noch mit ihr einlassen können? Wie sollten wir in der Sünde leben wollen, der wir doch im Glauben abgestorben sind? - Nein, streiten müssen wir wider sie bis an's Ende, streiten mit der gewissen Hoffnung des Sieges! Denn wir streiten nicht aus eigner Kraft. Der sinnliche und selbstische Mensch vermag dies gar nicht, er hat keine Lust, und kann keine haben, wider sich selbst Gewalt zu gebrauchen, sich selbst zu überwinden. Aber der Geistmensch, der mit dem Herrn verbunden ist, in dem Sein Geist wirkt, der ist der Streiter; oder was Eins ist, der Herr selbst streitet mit ihm vereint, und gibt ihm auch endlich den Sieg. Darum ist in diesem Kampfe auch nicht eigene Ehre, nicht selbstischer Ruhm zu erringen, sondern alle Ehre, aller Ruhm gebühret dem Herrn. Bei dem Christen heißt es immer: „Aus Gnaden seid ihr seelig worden durch den Glauben; und dasselbige nicht aus euch, Gottes Gabe ist es; nicht aus den Werken, auf daß sich nicht Jemand rühme!“ Dieser fortwährende Streit wider die Sünde in der Kraft des Herrn, in Seinem Geiste, heißt in der Heil. Schrift die Heiligung. Sie ist uns überall in derselben zur heiligen Pflicht gemacht; aber wenn sie auch nicht geboten wäre, so würde sie von selbst aus dem Glaubensleben hervorgehen. In Christo allein wird also der Gläubige geheiligt.

4

In Ihm allein wird auch der Traurige und Leidende wahrhaft getröstet. Wir können Alle nur durch viel Trübsal in das Reich Gottes eingehen. Schon das erste Erwachen in's Geistleben ist mit einem tiefen Schmerze verbunden; denn wenn wir zurückblicken auf unser vergangenes Leben, da wir nur von den Begierden getrieben so lange ohne Gott dahingingen in der Welt, da wir so blind waren gegen Seine lichthelle, beseeligende Wahrheit, so gefühllos gegen Seine überschwengliche Liebe: wie sollte uns das nicht innig betrüben? - Und wie das Geistleben fortschreitet, wird uns da nicht immer mehr unser Verderben offenbar? Sehen wir da nicht, mit welcher Hartnäckigkeit sich unsere alte Natur gegen das erkannte Bessere sträubt? Erfahren wir da nicht, wie wir uns so oft noch selbst vergessen, wie wir bald hier, bald dort, hingerissen werden zu dem, was wir nicht wollen, und so unserer eigenen Ueberzeugung entgegen handeln? Und dieses Sich-Selbst-Vergessen, dieses Uebereiltwerden, hat es nicht seinen Grund in einem Mangel an inniger Liebe zu dem Herrn? Zeugt es nicht von Undankbarkeit gegen Ihn? Ist's nicht ein Betrüben des heiligen Geistes, der in uns ist? Und das Gefühl davon, ist's nicht ein Leiden, ein gewaltig niederbeugendes Leiden? - Dazu kommt nun noch, daß nicht nur diese ganze Welteinrichtung mit Leiden durchwebt ist, daß uns aus allen unfern Lebensverhältnissen, auch aus den liebsten, Kummer, Verdruß und Sorgen der mannigfaltigsten Art hervorgehen; sondern, daß wir auch um des Besten, was in uns ist, um unserer geprüften und redlichen Ueberzeugung, um der Wahrheit selbst willen, die wir erkannt haben, und bekennen sollen, so viel Widriges zu erdulden haben, daß wir um ihrentwillen verkannt, gehaßt, verlästert und verfolgt werden. Wahrlich, der Weg des Christen ist ein Leidensweg, ein Weg ernster und schwerer Prüfung; und wenn wir in eigener Kraft auf demselben wandeln müßten, wir würden es gar nicht aushalten, wir würden gar bald ermüden, und uns wieder von dem Strome nur forttreiben lassen. Aber, Christen, wir wandeln nicht allein; der Herr ist bei uns alle Tage, und läßt uns Seine hilfreiche Nähe erfahren. Er stärkt wieder unsern Glauben, durchdringet uns immer von Neuem mit Seiner Liebe, und belebt unsere Hoffnung. Er gibt den Müden Kraft, und Stärke genug den Unvermögenden. Er macht uns innerlich gewiß, daß ohne den Willen unseres Vaters im Himmel, auch nicht ein Haar fallen könne von unserm Haupte, und daß alle Dinge, auch die größesten Leiden, denen, die Gott lieben, zum Besten dienen müssen. „Ob denn auch,“ sagen wir mit Paulus, „unser äusserer Mensch verweset, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert; denn unsere Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schaffet eine ewige und über alle Maaße wichtige Herrlichkeit.“ - So mit Seiner inneren Gegenwart und mit der gewissen Hoffnung künftiger Herrlichkeit tröstet kräftig der Herr die Seinen. Er spricht darum: „Seelig seid ihr, so euch die Menschen um Meines Namens willen schmähen und verfolgen, und reden allerlei Uebels wider euch, so sie daran lügen. Seid fröhlich und getrost; es wird euch im Himmel wohl belohnet werden!“ O, alle Leiden dieser Zeit sind nicht werth der Herrlichkeit, die an uns offenbaret werden sollen -

5

Endlich in Christo allein wird der Sterbliche des ewigen Lebens theilhaftig. Der Tod stehet uns Allen bevor. Wie leichtsinnig aber auch gewöhnlich die Menschen in Beziehung auf ihn dahin gehen, so ist er doch eine sehr ernste Sache; und wir wissen ja auch, wie er so Viele mit Furcht und Entsetzen erfüllt, wenn er ihnen einmal ernst in's Angesicht blickt. Todesfurcht ist dem Menschen natürlich, und Jeder wünscht daher von seinem Fortleben nach dem Tode sich zu überzeugen. Aber abgesehen davon, daß doch nur ein seeliges Fortleben wünschenswerth sein kann, wie schwach sind gewöhnlich die Gründe der Menschen für ihre Unsterblichkeit; nur Vermuthungen, nur leere Hoffnungen hervorbringend, die gerade im Augenblicke der Noth erbleichen und verschwinden? In der That, was nicht jetzt schon in uns ist, das kann sich auch nicht aus uns entwickeln, und was nicht jetzt schon mit heller Gewißheit in uns lebt, das kann uns auch nicht über das Dunkel des Todes hinwegtragen. In dem Christen ist diese helle Gewißheit; denn er weiß, so gewiß er von sich selbst weiß, daß Christus, der den Tod überwand, in ihm lebet, daß Sein Geist in ihm wohnet. Und dieses Sein todtüberwindendes Leben, Sein Geist in ihm, gibt ihm die feste und freudige Hoffnung, die gewisse Zuversicht, daß auch er den Tod überwinden werde. Wie denn auch Paulus sagt: „So nun der Geist Deß, der Christum von den Todten auferwecket hat, in euch wohnet, so wird auch derselbe, der Christum auferwecket hat von den Todten, eure sterbliche Leiber lebendig machen, um deßwillen, daß Sein Geist in euch wohnet.“ Diese Hoffnung aber ist nicht blos die eines unbestimmten Fortlebens überhaupt, sondern sie ist Gewißheit ewiger Stetigkeit, und Herrlichkeit in der Gemeinschaft mit dem Herrn. Wie Er eingegangen ist in die Herrlichkeit Seines Vaters, so wird Er doch wiederkommen, und die Seinen zu sich nehmen, auf daß sie sind, wo Er ist.

So, Brüder, sind uns denn in Christo alle Bedürfnisse unseres Lebens befriedigt. In Ihm allein stehet unser Heil. Ihm sei denn auch unser ganzes Leben hingegeben! In Ihm, für Ihn und durch Ihn wollen wir leben! Oder sollten wir von Ihm weichen, weil es Menschen gibt, welche meinen, wir bedürften Seiner nicht? Sollten wir uns schämen Seines Evangeliums, des Evangeliums von der freien Gnade Gottes in Christo, weil Viele, die sich selbst noch nicht tief genug erkannt haben, kein Gefallen daran finden? Wie, wäre das nicht sträfliche Abhängigkeit von Menschen? Wäre das nicht ein Wegwerfen des Höchsten und Besten, des ewigen Heiles, um nur kurze Zeit von Sterblichen freundlich angesehen zu werden? Mag so thöricht sein, wer da will; mag sich seine Edelsteine abschwatzen lassen, wer Lust hat, um sich an dem Spiele mit werthlosen Glaskorallen eine Zeitlang zu erfreuen! Wir wollen es nicht! Wir wollen fest stehen bei der Wahrheit, die sich in uns selbst als die Wahrheit, als Gotteswort und Gotteskraft erweiset und erweisen muß, die uns frei macht. Wahrlich, wir fordern keinen blinden Glauben, sondern wir fordern auf zur strengsten Prüfung. Die Wahrheit scheuet nicht das Licht; denn sie ist das Licht. Sie muß aus jeglicher Prüfung siegreich hervorgehen, und in Jedem, der sie redlich sucht, in ihrer weltüberwindenden Herrlichkeit sich offenbar machen. Und wenn man uns, weil wir das Ewige höher halten als alles Zeitliche, für Thoren hielte, wollten wir uns darüber grämen? Nein! Wir wissen ja, es kommt ein Tag der Entscheidung, an welchem Jeder in seiner wahren Gestalt wird dargestellt werden; an welchem es offenbar wird, wer ein Weiser war, und wer ein Thor. - Ja, wenn man uns um der Wahrheit willen haßte und verfolgte, sollten wir feig das Feld räumen? Nein! Christus und Seine Apostel wurden auch gehaßt und verfolgt; aber sie kämpften den guten Kampf des Glaubens; kämpften ihn, nicht mit irdischer Macht, sondern mit dem Schwerdte des Geistes, nämlich mit dem Worte Gottes, und überwanden die Welt. Diesen Kampf wollen auch wir kämpfen, und uns gerne gefallen lassen, daß man unsere Waffen, weil sie alt sind, verrostete Waffen nennt. Es wird sich zeigen, daß wir dasselbe gute Schwerdt führen, das die Apostel, das Luther und alle Reformatoren führten, nämlich dasselbe Wort Gottes. Das wird uns auch den Sieg verschaffen; denn der Herr selbst ist in und mit seinem Worte. Darum haben wir keine Gegner zu fürchten, wie groß auch ihre Zahl und ihre Macht sein möge; aber dem Worte Gottes getreu, hegen wir auch keine feindliche Gesinnung gegen irgend einen derselben; wir ehren und achten an Jedem, was an ihm zu achten und zu ehren ist, und bleiben in der Liebe. Wider sie streitend, streiten wir eigentlich nicht wider sie, sondern für sie; denn wir mögten sie gern aus ihren Irrthümern herausreissen, und für die Wahrheit gewinnen. Auch streiten wir nur mit Gründen. Streiten sie nicht auch so gegen uns, so streiten sie wider sich selbst, wider die Wahrheit, ja wider Den Herrn, der für sie gestorben ist. Und sähen sie das ein, sie würden es gewiß nicht thun! - Wir schliessen mit Luthers Worten:

Mit unsrer Kraft ist's nicht gethan;
Wir sind gar bald verloren.
Es kämpft für uns ein andrer Mann,
Den Gott selbst hat erkoren.
Wißt ihr, wer Er ist?
Er heißt Jesus Christ,
Der Herr Zebaoth,
Und ist kein Andrer Gott.
Das Feld muß Er behaupten! Amen.

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