Funcke, Otto - Tägliche Andachten – 5. Montag nach Epiphanias bis 5. Sonntag nach Epiphanias

Funcke, Otto - Tägliche Andachten – 5. Montag nach Epiphanias bis 5. Sonntag nach Epiphanias

Montag nach dem 4. Sonntag nach Epiphanias.

Und seid begierig nach der vernünftigen lauteren Milch, als die jetzt geborenen Kindlein, auf dass ihr durch dieselbige zunehmt; so ihr anders geschmeckt habt, dass der Herr freundlich ist.
1. Petri 2,2.3.

Die Holdseligkeit des himmlischen Vaters in Jesu muss also zuerst geschmeckt sein, sonst haben wir weder Kraft zum Ablegen des Bösen (V. 1), noch Lust zum Wachsen und Zunehmen (V. 2). „Das heißt aber geschmeckt, (sagt Luther), wenn ich mit dem Herzen glaube, dass Christus sich mir geschenkt hat und mein Eigen geworden ist und dass mein Unglück sein und sein Leben mein geworden ist. Wem solches zu Herzen geht, dem schmeckt es.“ Ja, das muss der Anfang sein. Wir müssen erst die beglückende Christusliebe erfahren und in ihr von dem Honigseim der Ewigkeit gekostet haben, ehe wir mit Erfolg nach Reinigung und Heiligung des inneren Menschen trachten können. Anders ist im „Ablegen“ eben so wenig Drang und Trieb, wie im Suchen der Nahrung. Wer aber Jesu einmal in Auge und Herz geschaut hat, der lässt sich's gern etwas kosten, ihm ähnlicher zu werden. Das ist das Eine, was der Apostel betont: „Um zunehmen zu können, müsst ihr erst geschmeckt haben, dass der Herr freundlich ist“.'

Nicht minder aber legt er den Finger auf den andern Punkt und spricht: Eine Zunahme muss stattfinden. Wie wunderbar schnell nehmen gesunde Kinder zu, bei gesunder Nahrung! Ein Kindlein aber, das nicht zunähme, würde Jedermann mit Angst ansehen, ob auch die Abnahme der Kräfte noch nicht augenscheinlich wäre. Das Kind selbst weiß nichts von seinem Zunehmen und Wachsen, weder das leibliche Kind noch das geistliche; wo aber kein Zunehmen wäre, da wäre der Tod! Im späteren leiblichen und geistlichen Leben fällt ja das Wachstum nicht mehr so in die Augen, wie in der ersten Zeit. Bei gegebener Gelegenheit wird es aber offenbar werden, dass dafür die innere Kräftigung so viel mehr zugenommen hat.

Freilich gibt's nun, wenn die vierziger Jahre vorüber sind, in der leiblichen Natur einen Stillstand, ja allmählig einen Rückgang. Die Kräfte, die Frische, die Geschmeidigkeit, die Schönheit des Leibes welken dahin, - langsamer bei den Einen, schneller bei den Andern. Wer den alternden Leuten täglich begegnet, merkt's nicht so; dem aber, der sie lange nicht sah, fällt's erschreckend auf.

Das ist für das leibliche Leben der traurige Lauf der Natur. Nur die gewisse Hoffnung der Auferstehung kann Einen darüber trösten. Im geistlichen Leben aber soll's mitnichten also sein. Da muss das Wachsen fortgehen, falls anders der innere Mensch gesund ist. Wir müssen wachsen in der Liebe und Erkenntnis Christi, müssen freier werden vom eigenen Willen, und fester, gebundener und stiller in dem Willen des Herrn. Immer natürlicher muss es uns werden, zu dienen und zu helfen in der sanften geduldigen Liebe Christi; immer leichter zu vergeben und zu vergessen usw.; denn der innere Mensch ist nicht, wie der äußerliche, zum Abwelken und Begraben werden verdammt, sondern zum ewigen Leben und zur ewigen Verjüngung. - Wohl gibt's ein Mannesalter im christlichen Leben, wo an Stelle des oft überstürzenden Jugendeifers ernste Nüchternheit, an Stelle des Hinstürmens ein fester gleichmäßiger Schritt getreten ist. Ein geistliches Greisenalter dagegen hat im Christentum keinen Raum.

Aber ach! wie Viele sieht man, wo Feuer, Energie, Eifer und Frische total erloschen sind! Wohl sind die alten frommen Formen, Phrasen und Gewohnheiten geblieben; der schärfere Beobachter aber merkt, dass das Alles abgestandene, absterbende oder abgestorbene Dinge sind. Keine neuen Lebenszuflüsse, Kräfte, Ideen und Anregungen strömen in die Seele hinein. Selbstgericht und Selbsterziehung haben aufgehört; so hat auch der Hunger aufgehört; Kirchgehen, Hausandacht, Gebet, Teilnahme an allerlei frommen Werken sind unmerklich alle entgeistert worden. Man disputiert lieber, als dass man lernt; man urteilt und richtet viel, vergisst sich aber selber; man bildet sich ein fertig zu sein und ist gerade deswegen auf dem Weg, eine Ruine zu werden.

O lasst uns wachen und beten, dass die Begierde nach göttlichem Lebenszufluss immerdar bei uns lebendig bleibe, damit wir nicht in so ein böses Veraltern hinein kommen, sondern allewege in jugendlichem Wachstum bleiben und durch des Herrn Geist auffahren mit Flügeln wie Adler. Ja, aus den göttlichen Quellen müssen wir täglich schöpfen als die Dürstenden, bis wir dahin kommen, wo ewige Jugend in unverwelklicher Schönheit prangt.

O du reiche Quelle,
Brunnen jeder Lust,
Mache mir es helle,
Hell in Aug' und Brust!
Ziehe, süße Liebe,
Mich hinauf zum Licht
Alle meine Triebe,
All' mein Angesicht.

Dienstag nach dem 4. Sonntag nach Epiphanias.

Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr des (um das ihr euch sorgt) alles bedürft.
Matth. 6,32.

Glaubst du das? Glaubst du das wirklich? Ich meine nicht ob du glaubst, dass die ganze Bibel inspiriert und dass dieses Wort wirklich von Jesu Christo so ausgesprochen sei; ich meine nicht, ob du obigen Satz mit deinen Lippen bekennst und in deinem Verstand davon überzeugt bist, nein, nein, das hilft ja nichts, ich frage, ob du innerlich von dieser Wahrheit durchdrungen und im Grunde deiner Seele davon beherrscht und durchleuchtet bist? Ja oder Nein? Glaubst du es wirklich und ehrlich, dass Gott als dein Vater für dich als sein Kind in allen inneren und äußeren Angelegenheiten sorgt und es dir an Keinem fehlen lässt, dass Er dich niemals über dein Vermögen kann versucht werden lassen, dass er dir Alles lässt zum Besten dienen, zu dem ewigen, höchsten Besten, dass sein heilig, selig Bild in dir verklärt werde, glaubst du das? Nein, du glaubst es nicht, sonst könntest du nicht so gedrückt, so ängstlich, so sorgenvoll deine Straße ziehen. O, wie wenig glauben wir doch recht, auch Die von uns, die sich ihrer Rechtgläubigkeit so rühmen und sich über die „Ungläubigen“ so ereifern können, - wie wenig glauben sie recht und wirklich, so, dass es inneres Leben ist, wie es sich doch gehört. Ihr nennt euch „gläubig“ und in der Tat glaubt ihr nicht einmal das a b c aller Christusoffenbarung, dass der Vater wirklich ein Vater ist und dass er weiß, was ihr bedürft!

Ich bitte dich, was würdest du von deinem Kind sagen, das etwa so philosophieren wollte: „Freilich, bis dahin und seit ich denken kann, hat mein Vater immer wohl gesorgt, allein, - die Zeiten sind schlimm. Wer weiß, wenn ich diese Schuhe verlaufen habe, wer weiß, wenn dieses Brot aufgegessen ist, wer weiß, wo das Neue herkommt? Ja, ob er, der mein Vater ist, nicht einmal den Einfall bekommen könnte, mich vierzehn Tage in einen finsteren Keller zu sperren, oder gar mich armes, schwaches Kind an den Wagen zu spannen, den jetzt unser Pferd ziehen muss? Wer weiß ….“? Nun, würdest du von so einem Kind sagen: „Das ist aber ein begabtes, kluges, hoffnungsreiches Kind“! Nein, du würdest weinen und klagen: „O weh, wie hat mein Kind alle seine Kindheit und Kindlichkeit verloren und wie habe ich das um mein Kind verdient, dass es so schreckliche Gedanken hat?“ Mit Recht klagst du so, aber nun dein Gott, dein Vater, hat Der's denn um dich verdient, dass du so schreckliche Gedanken gegen ihn hast? Es gibt doch wirklich traurige Beispiele genug, wo irdische Väter und Mütter ihrer Kindlein vergessen haben; es gibt doch Beispiele genug, wo Väter und Mütter ihren Kindern auflegten, was sie nicht tragen konnten, vollends aber Legion von Beispielen, da Väter der Not und dem Leid ihrer Kinder ohnmächtig gegenüberstanden oder aus Mangel an Licht und Weisheit nicht wussten, was tun oder lassen. Aber solche Beispiele lassen sich nicht von dem himmlischen Vater beibringen. Da sind vollkommene Allmacht und zarte Liebe, Weisheit und Treue, Tiefblick in deine innersten Bedürfnisse und heilige Geduld mit allen deinen Sünden, - falls Sünde dir nur Sünde ist, - mit einander gepaart. Kannst du ihm nicht vertrauen?

Ja, sagst du, das ist auch in der Theorie Alles ganz richtig, aber in der Praxis ist das eine andere Sache.

O unglückselige Unterscheidung von Theorie und Praxis! Das ist's ja grade, was ich sagte: du glaubest nicht, sage dir das auf den Kopf, ich glaube nicht, - sage, klage es deinem Gott mit Tränen: Ich glaube nicht, aber ich will glauben, Herr, Herr, Helfer, Heiland - hilf meinem Unglauben! Ja, brich durch, so gut du brechen kannst, - brich durch, ringe durch, ob auch unter tausend Tränen, sage immer wieder „Vater“, bis du wirklich Vater sagst und Vater glaubst.

Entgegne nicht: Ach, was hilft's? Immer wieder kommen die Sorgen herangerauscht, Meereswogen gleich, was hilft's, ob ich dagegen kämpfe? Was hilft's, dass der Tropfen immer auf den Felsen fällt, der armselige schwache Tropfen auf den harten starken Felsen? Das hilft's, dass endlich der schwache Tropfen den starken Felsen dennoch durchbohren wird. Und auch dein kaltes, stolzes, verzagtes, misstrauisches Herz wird endlich, endlich ganz gewiss noch ein friedereiches, beseligtes Kindesherz werden und zum göttlichen, herrlichen Kindeserbteil kommen, wenn du nur dem Tröpflein des Wortes Gottes nicht wehrst, wenn du nur wirklich darnach ringst, dem Strahl, der aus Gott zu dir herniederleuchtet, in dir Raum zu schaffen.

Kommt, Kinder, lasst uns gehen,
Der Vater gehet mit,
Will immer bei uns stehen
In jedem sauren Tritt.
Er will uns machen Mut,
Mit süßen Sonnenblicken
Uns stärken und erquicken;
Ei, ja wir haben's gut.

Mittwoch nach dem 4. Sonntag nach Epiphanias.

Der Herr wird für euch streiten, ihr aber werdet still sein.
2. Mose 14,14.

Dies Wort hat Moses, der Mann Gottes, in einer der schwersten Stunden seines Lebens in das verzagte, geängstete Israel hinein gerufen. Das Meer brandete vor ihm, Schild und Schwert der wütenden Ägypter glänzten hinter ihm, rechts und links mehrten hohe Berge der Flucht, doch rief er: „der Herr wird für euch streiten, ihr aber werdet stille sein“! Er hat das Wort aus zitterndem Herzen heraus und doch mit voller Wahrhaftigkeit gesagt. Ja, er spricht damit den Gedanken seines Lebens aus, das, was ihn vornehmlich während der vierzig Jahre, da er unter so unendlichen Schwierigkeiten, Hindernissen und Mühseligkeiten das Volk Israel regierte, das, was ihn immer aufrecht hielt, immer wieder freudig, mutig und adlerfrisch machte. Was er so ausspricht, ist nicht ein Dogma, ein Katechismussatz, den er auswendig gelernt hatte, sondern eine Grundüberzeugung und Lichtkraft seiner Seele. Es ist ihm gewisser als das eigene Leben, dass wir in den Wegen Gottes nur stille zu sein und stille das Unsere zu tun brauchen und dass dann der Herr für uns streitet, alle Berge zur Ebene, jede Einöde zum fröhlichen Gefilde, ja alle Unmöglichkeiten möglich macht.

Wenn Moses, da Gott ihn zum Heerführer Israels berief, - wenn er auf den Löwen in der Höhle, auf diesen Pharao und seine wissensstolzen und machtstolzen Ägypter, - wenn er auf dieses eben so halsstarrige wie verzagte fleischliche und eigensinnige Israel, - wenn er auf das tiefe Meer und auf die öde Wüste und auf die Uneinnehmbarkeit und Unüberwindlichkeit des Landes Kanaan gesehen hätte, so wäre Israel heute noch in Ägypten. So aber schaute er überwärts auf den Unsichtbaren, als sähe er ihn und sprach: „Herr Gott, du bist unsere Zuflucht“, und dann ging er frisch an's Werk.

Diese großen Heldengeister in Gottes Reich sind dadurch so groß und heldenhaft, dass sie nicht sehen auf alles das, was von Macht, Gewalt, Verlockung, Drohung, Feindschaft und Verführung sich hier unten auf Erden regt, sondern dass sie einzig auf den Gott schauen, der oben ist und von oben streitet. Sobald sie nach unten sehen, werden auch sie, trotz aller ihrer natürlichen Größe, Kraft und Gabe, schnell klein; wie zum Beispiel David, der große Held, sofort klein wird, als er anfängt mit den menschlichen Wahrscheinlichkeiten zu rechnen: „Ich werde wohl doch noch der Tage einen Saul in die Hände fallen“, während der kleine David sogleich riesengroß wird, da er zu dem Goliath spricht: „Du kommst daher mit Schild und Spieß, ich aber im Namen meines Gottes“. So hätte sich auch Doktor Martin Luther bald wieder in seine stille Klause verkrochen, wenn er auf des Papstes Dräuen, auf des Kaisers Zorn, auf der Fürsten Furcht und Schwanken und auf des gemeinen Volkes wetterwendischen Sinn geschaut hätte. Nun aber lachte er dessen allen und sang: „Ein' feste Burg ist unser Gott“; Er wird für uns streiten und, allen Menschen zum Trotz und Tort, die ganze Sache herrlich hinausführen. So schreibt er in einer der bedrängtesten Seiten mit heiligem Scherz: „Letzthin habe ich ein großes Wunder gesehen, da ich zum Fenster hinaussah, nämlich die Sterne am Himmel und das ganze schöne Gewölbe Gottes, und sah doch nirgend keine Pfeiler, darauf der Meister solch' Gewölbe gesetzt hätte. Noch fiel der Himmel nicht ein und steht auch solch' Gewölbe noch fest. Nun sind Etliche, die suchen solche Pfeiler und wollten sie gerne greifen und fühlen. Weil sie denn das nicht vermögen, zappeln und zittern sie, als werde der Himmel gewisslich einfallen, aus keiner andern Ursache, denn dass sie die Pfeiler nicht greifen noch sehen. Wenn sie dieselbigen greifen könnten, so stünde der Himmel fest“.

Schämst du dich, lieber Leser? Nun, ich schäme mich auch; so wollen wir uns miteinander schämen. Ach, wir gehören auch so oft zu Denen, die des Himmels Pfeiler greifen wollen und, wenn das nicht angeht, vermeinen, nun gehe Alles drüber und drunter. O, dass wir doch allen Bann von uns täten und dann Gott Gott und den Vater sein ließen; dass wir doch als vertrauliche Untertanen Ihn regieren ließen, selbst aber stille und getrost auf der Erde seiner Wege warteten!

Er hat noch niemals was versehn
In seinem Regiment;
Nein, was Er tut und lässt geschehn,
Das nimmt ein gutes End'.

Nun denn, so lass Ihn ferner tun
Und red' Ihm nicht darein,
So wirst du hier in Frieden ruhn
Und ewig selig sein.

Donnerstag nach dem 4. Sonntag nach Epiphanias.

Sei nicht allzu gerecht, und nicht allzu weise, dass du nicht verderbest. Sei nicht allzu gottlos, und narre nicht, dass du nicht sterbest zur Unzeit.
Prediger Salomo 7,17.18.

Sieh da, das ist eine Religion und Moral nach dem Geschmack der großen Menge! „So ist's recht,“ sagt der ehrenfeste Bürger, der Ruhe, Ordnung und Gemütlichkeit über Alles liebt, - „so ist's recht! nicht zu gerecht, nicht zu weise, nicht zu gottlos! Das ist alles vom Argen, aber die goldene Mittelstraße. Einigermaßen fromm muss der Mensch natürlich auch sein; kein Glück ohne etwas Tugend und Moral. Aber um's Himmels willen keine Überstürzungen und Übertreibungen! Ein bisschen Religion und religiöse Weisheit gehört mit dazu, aber das ist ein dunkles Gebiet; man muss sich's nicht zu sehr zu Herzen nehmen, sonst verdirbt man sich, wie der weise Prediger sagt, man ruiniert seine Stellung in der Welt. Das erste Gesetz der Lebensweisheit aber ist, dass man's mit Niemand verdirbt und immer vor dem Wind segelt.“

Drum aber sagen wir auch mit dem Prediger: „Sei nicht allzu gottlos!“ Ein bisschen Gottlosigkeit hält Einem der liebe Gott schon zu gute. Heilige sind wir einmal nicht, und der Mensch will doch auch sein Vergnügen haben, dabei es ohne etwas Sünde nicht zu machen ist. Aber man muss Maß halten in der Sünde so gut wie in der Frömmigkeit, sonst schadet man sich an der Gesundheit und verdirbt's auch mit den Leuten. Zum Skandal darf's nicht werden; am geeigneten Punkt muss man auch seinen Leidenschaften die Zügel anzulegen wissen. Ja, der Prediger Salomo war wirklich ein weiser Mann. Wir glaubten nicht, dass so gescheite Sprüche in der Bibel zu finden seien.

So etwa würden Millionen „wohlgesinnter Bürger“, die vor den „Pietisten, Quäkern und Orthodoxen“ ein ebenso großes Entsetzen haben, wie vor den Sozialisten, Räubern, Mördern und allerlei Umsturzmenschen, - so etwa würden sie den Spruch verstehen. Aber wahrlich, wenn der Prediger es so gemeint hätte, dann hätte er mit seinem Wort allen treuen Zeugen Gottes von Anbeginn der Welt ins Gesicht geschlagen. Denn es ist kein Zweifel darüber, dass sie, von jenem Standpunkt aus, alle miteinander sehr übertriebene exzentrische Menschen waren, dass sie allzu gerecht und allzu weise waren, dass sie nicht „mit den Wölfen heulten“, sondern es mit der ganzen Welt allermeist gründlich verdorben haben. Sie sahen mitnichten auf den augenblicklichen Erfolg ihres Bekenntnisses, das sie mit Wort und Wandel ablegten. Dies Bekenntnis aber hieß: Wir wollen „Gott lieben von ganzem Herzen und mit allen Kräften“, es komme daraus was daraus komme. Und wie fern waren sie dem „allzu gottlos“! „Du bist nicht ein Gott, dem gottlos Wesen gefällt,“ rufen sie mit Einem Mund. Gar nicht gottlos sein, auf keinem Punkt in die Sünde willigen, nirgends eine Vermittlung suchen, sondern alle Sünde hassen, da jede Sünde, (auch die den liebenswürdigsten Klang und Schein hat) der Leute Verderben ist, - das ist die Sache. Alles Schielen nach Rechts und Links, alles Hinken auf beiden Seiten verdammen sie als den größten Seelenverderb.

Und nun gar unser Heiland! Hat Er nicht seine ganze Seele hingegeben für die Welt, obgleich kein Mensch auf Erden es ihm dankte? Hat Er nicht von allen seinen Jüngern für alle Zeit verlangt, dass auch sie ihre Seele verlieren müssten, wenn sie sie finden wollten? Was wusste Er und was wussten seine wahren Jünger von der „goldenen Mittelstraße“? Was würden sie wohl gesagt haben von dem: „sei nicht allzu gottlos und nicht allzu fromm“? - „Satan, weiche hinter mich!“ ruft Jesus dem Petrus zu, als er ihn mahnen will nicht „allzu fromm“ zu sein. Desgleichen ist der Apostel Paulus durch keine Tränen zu bewegen, seine Reise nach Jerusalem aufzugeben, obgleich er gewiss weiß, dass es in Jammer und Elend hineingeht. (Apostelg. 21,10 ff.) Was aber Luther jenen „guten Freunden“, die ihn warnen wollten auf den Wormser Reichstag zu gehen, von Teufeln und Ziegeln gesagt hat, das ist weltbekannt.

Aber wozu Beispiele? Man könnte so gut Tausende wie Dutzende bringen und dürfte nur die ganze Wolke der Märtyrer nennen, die ihr Leben nicht geliebt haben bis in den Tod, die alle möglichen Qualen erduldeten, weil sie „allzu fromm“ waren und nicht „ein wenig gottlos“ sein wollten. Hass, Feindschaft, Verfolgung und Spott der Welt hat der Herr seinen Jüngern vorhergesagt und so haben sie's auch gefunden; ja, Er sagt: „Wehe, wenn euch Jedermann wohl redet“. Sogar alle hochsinnigeren, tiefsinnigeren, ernsteren und energischen Weltmenschen würden jene Moral des „Predigers“ verlachen oder verdammen. Die allermeisten Menschen, die in der Welt ein Großes und Neues geschafft haben, sind nicht in der sogenannten „goldenen Mittelstraße“ geblieben. Im Gegenteil: unverstanden von ihren Zeitgenossen, ja zum Teil verfolgt und verspottet von ihnen, (wir erinnern nur an Christoph Columbus,) gingen sie ihren Weg. Dennoch ließen sie sich nicht irre machen und setzten ihre ganze Seele ein für das, was sie als Wahrheit erkannt hatten. - Und nun gar im Verhältnis zu Gott! Wer nur einmal ehrlich die Bibel gelesen hat, der weiß, dass zwei Grundakkorde durch Alles hindurchtönen; der eine: Gib Gott dein ganzes, ungeteiltes Herz, so wirst du es ewig nehmen; der andere: Scheide dich von der Sünde auf jedem Punkt, so allein kannst du wahrhaft frei werden. Hiergegen kann nichts, was in der Bibel steht, verstoßen; auch der „Prediger Salomo“ streitet nicht dagegen. Ehe wir aber (in der folgenden Andacht) das rechte Verständnis unseres Textes suchen, lasst uns recht prüfen, ob jene beiden Grundakkorde auch in unserem Herzen durch Alles hindurchtönen.

Nun, so will ich denn mein Leben
Völlig meinem Gott ergeben;
Nun wohlan, es ist geschehn.
Sünd', ich will von dir nichts hören;
Welt, ich will von dir mich kehren,
Ohne je zurück zu sehn.

Freitag nach dem 4. Sonntag nach Epiphanias.

Sei nicht allzu gerecht, und nicht allzu weise, dass du nicht verderbest. Sei nicht allzu gottlos, und narre nicht, dass du nicht sterbest zur Unzeit. Es ist gut, dass du dies fasst, und jenes auch nicht aus deiner Hand lässt; denn wer Gott fürchtet, der entgeht dem Allen.
Prediger Salomo 7,17-19.

Dass der Prediger Salomo mit den vorstehenden Worten nicht die in der Welt so vielgepriesene „goldene Mittelstraße“ empfehlen will, - dass er damit allen Patriarchen, Propheten und Aposteln geradezu ins Gesicht schlagen würde, dass also die Worte einen ganz andern Sinn haben müssen, haben wir uns schon vorher klar gemacht. Aus Vers 19 geht das nun aber auch direkt und sonnenklar hervor. Da heißt's: Es ist gut, dass du dieses (nämlich, dass der gottlose Frevler zur Unzeit stirbt und zum Narren wird,) fasst und jenes (nämlich, dass der allzu Gerechte und allzu Weise verderbe,) nicht aus der Hand lässt, denn: „wer Gott fürchtet, entgeht dem Allen“.

Da sehen wir: das „zu gerecht, zu weise, zu gottlos“ ist ein Zustand, welcher der wahren einfaltsvollen Furcht Gottes entgegengesetzt ist. Allzuweise und allzu gerecht sein streitet gegen die wahre Gottesfurcht. Kann man denn zu viel Gottesfurcht haben? Wahrlich, noch weniger, wie man zu viel Frieden aus Gott haben kann; wahrlich, noch weniger, wie ein Kind zu zart und rücksichtsvoll gegen seine Eltern sein kann! Nicht von der wahren Frömmigkeit und Gerechtigkeit ist hier die Rede, sondern von einer gemachten, nachgemachten und eingebildeten. So hatten die Pharisäer der alten Zeit eine Frömmigkeit und Weisheit erfunden, die den Schein der Heiligkeit hatte und doch nichts weniger als gottgefällig war. Sie hatten die Gebote Jehova's vervielfältigt, übertrieben und mit tausend und aber tausend kleinlichen Satzungen umhüllt. Sie wollten mehr tun, als Gott forderte, um sein Wohlgefallen zu erzwingen. Aber dieses „mehr“, dieses „zu viel“ war nur die heuchlerische Larve über ein „zu wenig“. Das Schwerste im Gesetz, das, wohin Gott eigentlich zielte, Selbsterkenntnis, Selbstgericht, Demut und Beugung, umgingen sie damit; - wie Jesus sagt: „Ihr Heuchler, ihr verzehntet Minze, Dill und Kümmel und lasst dahinten das Schwerste im Gesetz, nämlich das Selbstgericht und die Barmherzigkeit und den Glauben“. (Matth. 23,23.) Das „allzu fromm“ war also eigentlich nur eine selbstgemachte Frömmigkeit, womit sie den Mangel an wahrer Gottseligkeit, kindlicher Furcht und Liebe gegen Gott verdeckten. Das Gegenteil und nicht minder böse ist das „allzu gottlos“. Während nämlich die Einen auf ihre eigne Tugend bauen und von Gnade nichts wissen wollen, sind Andere, die Gottes Gnade „auf Mutwillen“ ziehen, ja zu einem „ Deckmantel ihrer Bosheit“ machen. Wir fehlen ja freilich alle mannichfaltiglich, sind leider oft genug gottlos, (das heißt: los von Gott,) in unserem Denken, Reden und Tun, aber ein schrecklich Ding ist's, wenn man das Wort von Gottes Güte, Langmut und Barmherzigkeit falsch gebraucht, mit einem Sinn, der nicht tiefinnerlich dem Reich der Finsternis abgeneigt ist. Und doch, wie oft heißt's im stillen Herzensgrund: „Ei, wir müssen doch einmal von der Geduld Gottes leben; seine Liebe hat kein Ende und seine Vergebung muss uns helfen; da wird's ja auf ein kleines plus minus nicht ankommen“. Solch ein „allzu gottlos“ ist der wahre Seelenverderb, denn es ist der Weg zur Verstockung. (Ebr. 10,26.) Hier und dort fehlt die wahre lautere Gottesfurcht, die da zittert vor der Sünde, weil sie ein Attentat auf die Heiligkeit Gottes ist, die da zittert vor der Sünde, weil sie unser Verhältnis zu Gott stört und zerstört, die aber auch fern ist von der kindlichen Einfalt, die nichts sein, nichts vorstellen, nichts gelten, nichts machen, sondern einfach und allein ein lauteres, liebendes und geliebtes Kind Gottes sein möchte.

O heilige Einfalt, wie fern bist du auch Millionen Derer, die immer von Sünde und Gnade reden und doch weder ihre Sünde recht erkennen, noch von der Gnade als Gnade etwas wissen wollen. Da müssen denn fromme Phrasen die wahre Frömmigkeit, übertriebene Sündenbekenntnisse das lautere Selbstgericht, zornmütiges Eifern und Poltern gegen Andersdenkende das Bekenntnis mit der Tat, scheinheilige Rechthaberei die wahre christliche Entschiedenheit ersetzen. O, dass man sich doch immer klar würde, was in unseren christlichen Worten und Zeugnissen lebendige, erfahrungsmäßige Wahrheit, und was nur nachgesprochenes phrasenhaftes Wesen ist! Dass man doch bei sich selbst und anderen nicht zu zärtlich wäre, wo man Phrasen antrifft, nun auch schlankweg das Kind beim Namen zu nennen! Zumal in Kreisen, wo die „Sprache Kanaans“ gang und gäbe ist, wo man die Welt fliehen und am Reich Gottes bauen möchte, - zumal in solchen Kreisen, wo wirklich auch das wahre Christentum wohnt, ist die Gefahr groß, dass man „allzu fromm und allzu weise“ wird, wenn man nicht wachsam bleibt. Da sei nur jeder auf seiner Hut, dass er nicht Worte und Wendungen gebraucht, die über den Stand seines inneren Menschen hinausgehen, dass er nicht in seiner christlichen Erkenntnis weiser sein will, wie er ist, - dass er nicht verfällt in rechthaberische Disputationen über Fragen, die doch ganz oder zum Teil Geheimnis sind; dass er nicht das Christentum Anderer nach der Schablone beurteilt, die er sich selbst gemacht hat, - dass er nicht in seiner Einwirkung auf Andere den Bogen zu straff spanne und in das Evangelium irgend ein Stück Gesetz hineinbringe, - dass er nicht meint, weil er diese und jene christlichen Werke, Leistungen, Übungen und Dergleichen treibe, weil er dieser und jener Freuden und Genüsse sich enthalte, z. B. weil er nicht in ein Konzert gehe, was doch sehr oft nur aus einem Mangel an musikalischem Gehör und Bildung herkommt, - so müsse das alles jeder ehrliche Christ ebenso halten! Das ist ein sehr böses Ding, wodurch man sich selbst in Hochmut und Eigenwillen verderbt und viele in Aufrichtigkeit suchende Herzen abstößt. Die wahre Gottesfurcht ist fern von dem Allen. Sie denkt nicht daran, Anderen Lasten aufzulegen und Gesetze vorzuschreiben; sie führt in Demut und Liebe, Sanftmut und Geduld. Sie denkt nicht daran, etwas vor Gott sein, gelten und vorstellen zu wollen, sondern nur daran, von seinem Geist erleuchtet, geleitet, erfüllt und durch seine Gnadengemeinschaft immer mehr mit ihm ganz Eins zu werden. Ja, wo die wahre Einfalt wohnt, da fällt nicht nur das „allzu gottlos“, sondern auch das „allzu gerecht“ und „allzu weise“ von selber weg.

Heilge Einfalt, Gnadenwunder!
Tiefste Weisheit, größte Kraft!
Schönste Zierde, Liebeszunder,
Werk, das Gott alleine schafft.

Einfalt denkt nur an das Eine,
In dem alles Andre steht,
Einfalt hängt sich ganz alleine
An den ewigen Magnet.

Sonnabend nach dem 4. Sonntag nach Epiphanias.

Sie (die Irrlehrer) haben einen Schein der Weisheit durch selbsterwählte Geistlichkeit und Demut.
Kolosser 2, 23.

In der Gemeinde zu Kolossae waren Irrlehrer aufgetreten und hatten viel Unheil angerichtet. Sie hatten mit einem gewissen Schein der Wahrheit vorgebracht, dass man durch allerlei leibliche Übungen, Kasteiungen und Enthaltungen, sowie durch einen mystischen Verkehr mit Engeln eine besonders hohe Stufe des Christentums erreichen könne. Der Apostel nennt das selbsterwählte Geistlichkeit und warnt die Christen inständigst, dass sie sich dadurch doch nicht sollen das Ziel verrücken und aus der Einfalt in Christo herausrücken lassen. Er weiß es, dass solche gemachte Geistlichkeit nur in die schlimmste Fleischlichkeit hineinführt. Wo man so viele fromme Formen, Zeremonien und Reden einführt, da schlägt's in der Regel grade ins Fleisch. Ja, diese selbsterwählte Geistlichkeit fließt bereits aus den fleischlichen Sinn, der aus sich selbst etwas machen, über Andere sich erheben und an der unbequemen Selbstverdammung und Demut vorbeilotsen will. So ist's mit der gesamten Möncherei ergangen. Da man übergeistlich, den Engeln gleich, leben wollte in Ehelosigkeit und Fasten, in ewigem Kniebeugen, Kreuzschlagen, Psalmensingen, ist man grade ins Gegenteil gefallen und zum Spott der Welt geworden. Und so geschieht's allewege, wenn man weiser als Gott sein und sich in unnatürlicher Geistlichkeit über die Schranken der menschlichen Natur hinwegsetzen will.

Der selige Menken hat einmal gesagt: „Herr, du weißt, was für ein Gemächte wir sind, aber wir selbst wissen es sehr oft nicht.“ Ja, wir denken so oft nicht daran, dass wir staubgeborene Menschen sind, Fleisch von Fleisch geboren. Dieselben, die heute so jämmerlich klagen und am Boden liegen, können sich morgen in Wort und Werk so großartig gebärden, als ob sie aus lauter Heiligkeit zusammengesetzt wären. Dieselben, die so viel mit sich selbst zu tun haben, können oft Anderen gegenüber so hohe religiöse Forderungen stellen und ihnen schwere Lasten auflegen, die sie entweder selbst mit keinem Finger anrühren, oder die ihnen gar keine Lasten sind. Selbst in der Erziehung der eigenen Kinder - wie fordern da oft christliche Eltern ein religiöses Interesse, einen religiösen Ernst, Enthaltungen und Übungen, eine Feierlichkeit und Unanstößigkeit in ihrem Benehmen, die schließlich keinem Menschen natürlich, für Kinder aber ganz unnatürlich sind. Nachher wundert man sich dann, wenn der allzu straff gespannte Bogen total zerbricht, wenn an Stelle wahrer Frömmigkeit Ekel und Verbitterung gegen das Christentum oder gar unlauteres und fratzenhaftes Wesen zu Tage treten.

In manchen „christlichen Kreisen“ äußert sich die selbsterwählte Geistlichkeit vornehmlich in einem sauertöpfischen, engherzigen Wesen, da man sich denn fromm und frömmer wie Andere zu sein einbildet, wenn man sich mancher Dinge und Freuden enthält, die doch an und für sich rein und gut sind. Da meint Mancher wunder was zu sagen, wenn er spricht: „Ich lese nur die Bibel, kein Buch, keine Zeitung.“ Ober: „Ich interessiere mich für nichts mehr; die ganze Welt ist mir gleichgültig, - „nur selig“! das ist mein einziger Gedanke“. - Nicht selten sind solche Redensarten bewusste oder unbewusste Lügen, mit denen man gewissen urteilslosen Leuten imponieren will. Man findet dann wohl, dass Solche, die behaupten, sie interessierten sich für nichts, ganz verzweifelt am Geld hängen und über die kleinsten Verluste oder sonstigen Ärgernisse, die ihnen widerfahren, schier aus der Haut fahren.

Oft aber beruht auch diese selbsterwählte Geistlichkeit auf einer ungesunden Frömmigkeit, die in ehrlicher Weise so redet. Darum ist's aber doch ungesund und man soll nicht zu ängstlich sein, das auch zu bezeugen. Man soll bezeugen, dass ein Christ nicht nur das Recht, sondern die Pflicht hat, sich zu freuen an Allem, was die gute Hand Gottes uns auch im Äußeren, zum Beispiel in Natur, Kunst und Musik, darreicht, dass er auch die heilige Pflicht hat, sich für Alles, was in der Welt geschieht, zu interessieren, sich möglichst zu belehren und seinen Posten als Glied der kirchlichen und bürgerlichen Gemeinde und als Staatsbürger auszufüllen. Wie könnte er denn auch sonst „Licht und Salz“ der Erde sein?

Das Schlimmste aber bei solchen engherzigen Christen ist dann vollends, dass sie meinen, grade ihre Art sei die rechte und alles Andere sei „Welt“. Denen muss man ehrlich und deutsch widerstehen in der Liebe.

Ach, lieber Herr, wie ist's mit uns Menschen eine verdrehte Sache! Dem Einen hängt äußerlich die Welt an, dass er nicht zur Entschiedenheit und inneren Freiheit durchdringen kann; der Andere trägt in sich die Welt in Gestalt einer hochmütigen selbsterwählten Geistlichkeit! Wahrlich Herr, unser Keiner kommt ins Himmelreich, wenn du nicht an jedem ein Wunder tust. Denn wie du gesagt hast, so ist unser Herz bald ein trotzig und bald ein verzagtes Ding. Wir können es nicht ergründen, aber du kannst es. Und wir bitten dich: gründe, ergründe, ziehe, züchtige und demütige uns treulich, bis wir zur Einfalt gekommen und deine stillen, lauteren, frohen Kinder geworden sind. Amen.

Alle Freiheit geht in Banden,
Aller Reichtum ist nur Wind;
alle Schönheit wird zu Schanden.
Wenn wir ohne - Einfalt sind.

Wenn wir in der Einfalt stehen,
Wird es in der Seele licht,
Aber wenn wir doppelt sehen,
So vergeht uns das Gesicht.

Am 5. Sonntag nach Epiphanias.

Vor dir, o Gott, ist Freude die Fülle, und liebliches Wesen zu deiner Rechten ewiglich.
Psalm 16,11.

Wie langweilig, übergeistlich, übermenschlich und unbehaglich stellen sich doch die meisten Menschen das Leben im Himmel vor. Sie machen sich das meist selbst nicht recht klar; die Kleinen aber sind mit ihren Anschauungen in der Regel das sichere Echo der Großen. Wie oft aber hört man Kinder sich aussprechen, sie genierten sich eigentlich doch recht sehr in den Himmel zu kommen und hofften, dass zu der Zeit der liebe Gott gerade nicht zu Hause wäre. Aus solchen und ähnlichen Reden geht dann hervor, wie wenig man den Kindern in Gott den Vater gezeigt hat. Ja, ein englischer Knabe sagte ganz treuherzig zu seiner Mutter: „Nicht wahr, Mama, wenn wir erst im Himmel sind, dann darf ich doch Sonnabends-Nachmittags zuweilen in die Hölle gehen und spielen“? Es graute ihm also vor dem Himmel. Um spielen zu dürfen, musste er erst in die Hölle hinein, während er sich das himmlische Leben wohl als einen ins Endlose verlängerten hochkirchlichen Gottesdienst mit langen Predigten, Responsorien und liturgischen Formeln dachte. Da musste dem Kinde wohl der Himmel zur Hölle und die Hölle, wo man spielen darf, zum Himmel werden. Und doch hat schon der alttestamentliche Sänger erkannt, dass vor Gott Freude die Fülle ist und liebliches Wesen immer und ewiglich. Jetzt, bei so einer Beschreibung, wird Einem anders zu Mute. In der Tat wird nichts menschlicher sein, wie das himmlische Leben. Nicht nur ein neuer Himmel, sondern auch eine neue Erde steht uns in Aussicht. Und Alles, was in Wahrheit menschlich zu heißen verdient, jede edle Gabe und Kraft des Menschen, jede liebliche Anlage, jedes Talent, Alles, was das Menschenleben wahrhaft schön und erhaben, heilig und groß macht, - es wird in der Gemeinde der Erlösten gefunden werden. Auch Musik, Gesang, Poesie und alle edle Kunst weisen über sich hinaus in die Welt der Vollendung hinein; denn Jesus Christus ist der Erlöser des gesamten Menschenwesens. Wir werden's erfahren, (wenn wir uns in Ihm nur heiligen und erleuchten lassen durch und durch.) dass vor Gott Freude die Fülle ist und liebliches Wesen ewiglich.

Darum ist's auch recht, und durch und durch evangelisch, wenn man Kindern den Himmel mit den Farben, wie sie ihnen lustig sind, ausmalt. Wir treffen in der Sache das Richtige, wenn wir ihnen zeigen, wie hier ihre tiefsten und glühendsten Wünsche wunderbar erfüllt sind. Luther ist auch in dieser Beziehung unübertrefflich! Er malt seinem kleinen Hans den Himmel aus wie einen hübschen lustigen Garten, da ist große Kindergesellschaft. Sie tragen güldene Röcklein, spielen, essen, trinken, tanzen, schießen mit Armbrüsten nach Herzenslust, reiten auf schönen kleinen Pferden mit goldenen Zäumen und silbernen Sätteln usw. Aber nur die Kinder, die gerne beten, lernen und fromm sind, dürfen hinein und die dürfen sich dann noch einige Lieblingsgesellen mitbringen. So ist's wahrhaft kindlich gedacht und so ist's gewiss auch göttlich gedacht; denn auf Verklärung und Erleuchtung unserer Menschennatur zielen seine Wege mit uns. Freude die Fülle und liebliches Wesen sollen uns hier ewiglich umfangen; nur müssen wir erst „die göttliche Traurigkeit“ kennen lernen und über unserem hässlichen Wesen so recht in der Tiefe Buße tun. Dann aber dürfen und müssen wir uns auch das Leben des Himmels als ein Leben der Vollendung und seliger Fülle denken. Wir sprechen von der himmlischen Heimat; das ist ein schöner Ausdruck und er bezeichnet, was wir suchen, wir vielgehegten, unruhvollen Erdenpilger.

Der Seemann, der Monden lang auf dem sturmbewegten Ocean hin und her getrieben ist, der oft in großer Fährlichkeit und Angst schwebte und schier verzagte, seines Hauses Giebel wiederzusehen, - O, wie muss es ihm zu Mute werden, wenn ihn nun endlich, in den rollenden Ozean hinein, das Licht des Leuchtturms, der am heimatlichen Strand steht, freundlich winkend grüßt, wenn er sich nun sagen darf: „Morgen, wenn der Tag anbricht, bin ich bei Weib und Kind!“ Welches Glück muss ihn erfüllen, wenn er nun sagen kann: „Zu Hause“! Wie muss es dem Kriegsmann sein, der nach so langen Tagen der bitteren Entbehrung und stetiger Gefahr, umgeben von so viel rohem Gebaren wilder Gesellen und umgeben von so viel Jammer und herzzerbrechendem Wehe, - wie muss es ihm sein, wenn er nun am Weihnachtsabend in den reichen Kreis aller seiner Lieben tritt unter den Lichterbaum! Da mag's ihm ,“zu Hause“ wohl stundenlang vorkommen, als bliebe nichts zu wünschen übrig. Aber jeder Erdengemeinschaft folgt wieder die Trennung, und wie bitter das ist, es ist doch gut. Denn, so lange wir sind wie wir sind, gewährt keine Gemeinschaft dauernde Befriedigung. Überall stellen sich Mängel und Schäden heraus und jede Gemeinschaft hat ihre Grenzen, so gewiss alle Menschen unvollkommen sind. Es treibt hier unten den Menschen immer wieder auf ein Neues, Höheres hin, und selig, wer merkt, dass es ihn zu Dem will hintreiben, der die Verirrten zum Vater heimbringt. Da wo Christus, unser König, wohnt und waltet, da werden wir erst zu Hause sein; da erst ist Freude die Fülle und liebliches Wesen immer und ewiglich, aber da ist's auch.

Wo findet die Seele die Heimat, die Ruh'?
Wer deckt sie mit schirmenden Fittigen zu?
Ach, bietet die Welt keine Freistatt uns an,
Wo Sünde nicht herrschen, nicht anfechten kann?
Nein, nein, nein, nein! Hier ist sie nicht!
Die Heimat der Seele ist droben im Licht.

Cookies helfen bei der Bereitstellung von Inhalten. Diese Website verwendet Cookies. Mit der Nutzung der Website erklären Sie sich damit einverstanden, dass Cookies auf Ihrem Computer gespeichert werden. Außerdem bestätigen Sie, dass Sie unsere Datenschutzerklärung gelesen und verstanden haben. Wenn Sie nicht einverstanden sind, verlassen Sie die Website.Weitere Information
autoren/f/funcke/funcke-taegliche_andachten/funcke_taegliche_andachten_5_woche_nach_epiphanias.txt · Zuletzt geändert: von 127.0.0.1
Public Domain Falls nicht anders bezeichnet, ist der Inhalt dieses Wikis unter der folgenden Lizenz veröffentlicht: Public Domain