Funcke, Otto - Tägliche Andachten – 2. Montag nach Epiphanias bis 2. Sonntag nach Epiphanias
Montag nach dem 1. Sonntag nach Epiphanias.
Aber das Kind wuchs, und ward stark im Geist, voller Weisheit; und Gottes Gnade war bei ihm.
Lukas 2, 40.
Das ist der kurze Bericht über die leibliche und geistige Entwicklung des Jesusknaben in den zwölf ersten Lebensjahren. Was darin gesagt wird, ist zunächst, dass der Knabe wuchs und zwar so wie jedes andere nach Leib und Seele gesunde Kind wuchs und wachsen musste. Was das sagen will, darüber würde wohl am besten eine junge Mutter Erklärung geben. Aber Jeder, der Kinder hat, weiß, was das mit sich bringt, bis so ein menschliches Geschöpf einen Zahn nach dem andern bekommen hat, bis es regelrecht und standfest ein Beinchen vor das andere setzen kann, bis aus dem Laut ein Wort, aus den Worten ein Satz geworden ist usw. Durch alle Stufen der leiblichen Entwicklung hat Jesus hindurchgehen müssen und keine überspringen dürfen. Und nicht anders war's in seinem geistigen, ja auch in seinem religiösen Leben, nur dass alles ohne innere und äußere Trübung, unter dem Sonnenschein göttlicher Gnade und geheiligter Mutterliebe vorwärts ging. „Gottes Gnade war mit ihm,“ in einer ganz eigentümlichen und einzigen Art und Weise. Auch das Jesuskind hatte mit der Sünde zu kämpfen, aber er ist ihr nie unterlegen. Wie bei keinem andern Menschen wirkten auf ihn und in ihm himmlische Geistes- und Lebenskräfte und diesen schloss er fort und fort sein ganzes Herz auf. Staunend wird Maria da geschaut haben, aber gewiss hat sie nicht, auch nicht einmal andeutend, dem Kind das Geheimnis seiner Geburt verraten. Damit hätte sie alle kindliche Unbefangenheit bis auf den Grund zerstört. Jesus wusste nicht anders, als dass Joseph sein Vater sei; auch dem zwölfjährigen Knaben im Tempel sagt seine Mutter: „dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht“. Maria hat es in keuscher Weisheit dem Geist Gottes überlassen, das Geheimnis zu lüften. Erst ganz allmählig erkannte Jesus sich selbst, von Innen her durch göttliche Zeugnisse belehrt. - Wenn uns über die zwölf ersten Lebensjahre Christi weiter nichts berichtet wird, so bezeugt eben dieses Schweigen deutlich genug, dass auch nichts Besonderes, in die Augen Fallendes, geschehen ist. Dass das Kind keine Wunder getan hat, wie gewisse Fabelbücher erzählen, darüber braucht man verständigen Menschen gegenüber weiter kein Wort zu verlieren. Wie Kinder sich freuen, so freute er sich, wie sie wachsen, lernen, ein wenig arbeiten, helfen, spielen, dienen, so war's auch bei Jesu. Auf seiner holden Mutter Knieen sitzend lernte das Kind die ersten Worte reden, in ihren seelenvollen Augen schaute er entzückt mehr als irdische Freude und irdischen Frieden, von ihren holdseligen Lippen lernte er die ersten Gebete in Psalmenworten und begeistert senkte sie in sein lauschendes Herz die heiligen Geschichten, wie Jehova mit seinem Volk geredet und gehandelt in alten Tagen und was Er Israel verheißen habe auf die Zeit der Erfüllung. O welche Wonne musste es sein, solch ein Kind zu unterweisen in den Wegen des Herrn. Es gibt ja überhaupt für den wahren Gottesfreund kaum ein lieblicheres Werk, kaum ein Werk, das mehr Freude und Erquickung, Anregung und selige Beschämung mit sich bringt, als dies: himmlische Worte in die Seelen der Kinder zu pflanzen. Aber nun gar in die Seele eines von aller Unart freien Kindes!
Ja, wahrlich, wenn man kühn behaupten kann, dass nie ein Kind auf Erden eine solche Mutter hatte, so kann man mit noch größerem Recht sagen: „Nie hatte eine Mutter solch ein Kind. Nie ein Kind, das sich so harmonisch entfaltete, das sich auf jeder Stufe seiner Entwicklung so wunderbar aufschloss; nie ein Kind von so hohen, edlen Gaben, so reich an Frieden und an jauchzender Freude und doch so heilig und sinnend zugleich. So hing nie ein Kind an seiner Mutter Lippen, so forschte und fragte nie ein Kind, so dankbar, so hingebend war nie ein Kind. Maria war die erste und letzte Mutter, die ihr Kind sich entwickeln sah, ohne dass eine trübe Stunde in der Erziehung kam. O seliges Weib, die nie eine Träne zu weinen brauchte über ihres Kindes Unarten! Seliges Weib, die nicht zu sehen brauchte, wie die eigene Sünde in dem Kind auferstand. Selige Mutter, die nie eine Träne zerdrücken musste über ihres Kindes Undankbarkeit oder Lieblosigkeit, die niemals den bitteren Schmerz hatte, dass sie gegen ihr Kind die Rute aufheben musste. Ja, in diesem stillen, geringen Zimmermannshaus in Nazareth erwuchs unscheinbar aber mächtig der Anfänger und Vollender einer neuen Menschheit. Seliger noch als des Heilandes leibliche Mutter zu sein, ist es: ein wahrhaftiger Rebe an diesem himmlischen Weinstock zu heißen und in ihm zu bleiben.
Wer ist wohl, wie Du,
Jesu, süße Ruh'?
Unter Vielen auserkoren,
Leben Derer, die verloren,
Und ihr Licht dazu,
Jesu, süße Ruh'!
Deines Geistes Trieb
In die Seele gib,
Dass ich wachen mög und beten,
Freudig vor dein Antlitz treten;
Ungefärbte Lieb'
In die Seele gib.
Dienstag nach dem 1. Sonntag nach Epiphanias.
Und seine Eltern gingen alle Jahre gen Jerusalem auf das Osterfest. Und da er zwölf Jahre alt war, gingen sie hinauf gen Jerusalem, nach Gewohnheit des Festes.
Lukas 2,41.42.
Was das für einen israelitischen Knaben bedeutete: „Du darfst nun mit hinaufziehen nach Jerusalem!“ davon können wir uns jetzt kaum einen entfernten Begriff machen. Das hieß nicht nur mit Eltern und Verwandten eine schöne große Reise machen, das hieß nicht nur zum ersten Mal die Welt sehen, nein, alles, was es auf der ganzen Erde nur Hohes, Heiliges und Herrliches gab, alle Sehnsucht, alle Hoffnung, alle Erfüllung war für den Israeliten beschlossen in dem einen Wort: „Jerusalem“. Hier waren je und je die größten Gottesoffenbarungen geschehen, hier wohnte im Allerheiligsten des Heiligtums Jehova selbst über goldenen Cherubim, hier sammelte sich das gesamte heilige Volk. von allen Landen und Meeren der Erde her, um als eine große Gottesfamilie vor Gottes Angesicht zu erscheinen.
Wie wird auch das Herz des Jesusknaben in der Erwartung und beim Antritt dieser Reise von hoher Freude durchschauert sein! Da sehet, wie die Eltern Jesu mit ihrem Knaben mitten in der großen Pilgerschar aus Nazareths Toren herausziehen, während über den Bergen des Ostens die Sonne aufleuchtet. Mit weißen Festkleidern angetan, mit frischem Grün geschmückt, so ziehen sie dahin, eine endlose Karawane, und durch die stille Morgenluft ertönt mächtig der Stufenpsalm: „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von dannen die Hilfe kommt“. Und wie man weiter zieht, schaut man von allen Höhen herab und durch alle Täler neue Pilgerzüge kommen und eine Schar jauchzt der andern ein laut frohlockendes Halleluja zu. Da finden sich Freunde und Verwandte aus allerlei Orten her zusammen; man begrüßt sich mit dem Bruderkuss und tauscht Leid und Freud' miteinander aus. Lawinenartig wächst das Pilgerheer und immer mächtiger tönen die Psalmen.
Und die Väter zeigen ihren Söhnen alle die heiligen Berge und Haine, da Jehova-Gott in Gnade und Gericht seinen herrlichen Namen offenbart hatte; man zieht durch die Ebenen, wo Israel seine Heldenkämpfe mit den Heiden ausgestritten, man sieht die Orte, wo die Väter im Glauben gewandelt und gelitten haben. Da ist kein Ende des Fragens und Erzählens, und höher schlagen die Herzen, anbetend und sehnsuchtsvoll flehend, da sie so großer vergangener Tage gedenken. Auch fehlt es nicht an merkwürdigen und gewichtigen Persönlichkeiten, darauf Einer den Andern aufmerksam macht. Da der steinalte Rabbi mit weißem Haar und Bart soll das Geheimnis wissen, wann der Messias kommt; aber es ist ihm verboten davon zu reden. Jener geheimnisvolle finstere Mann aus Tiberias hat die Gabe der Teufelsaustreibung. Dort, um den jungen Schriftgelehrten, sammeln sich alle Wissensdurstigen, denn so wie er legt keiner das Gesetz aus. Dieser Mann, der so gern sein Schwert klingen lässt, ist lange in Rom gewesen, um den Pilatus, aus dessen Klauen er nur mühsam entronnen, beim Kaiser zu verklagen; jetzt murmelt er, seinen Vertrauten gegenüber, allerlei von einem großen Aufstand. So gab's des Interessanten gar viel auf so einer Wanderung. Endlich, endlich ist man auf der Höhe des Ölbergs angekommen. Da liegt sie vor den Augen der Pilger im Sonnenglanz, die heilige Stadt, der Morijah, der Tempel, der Zion!, „Jerusalem! Jerusalem!“ so fliegt es über alle Lippen, so durchschauert es alle Herzen; da senken sich die Paniere, da beugen sich die Knie, da fällt Jeder auf sein Angesicht und betet an.
Was mag bei dem Allen auch gerade durch das Herz des Jesusknaben, des einzigen vollkommenen Israeliten, geflutet sein! Und wie bewegte es ihn wohl, als seine Eltern mit ihm auf den Berg Zion gingen? „Siehe, hier hat unser großer Vater David gewohnt und alle Fürsten aus Davids Stamm!“ Wie bewegte es ihn wohl, als sie die Gräber der Könige besuchten und so viele Stätten heiliger Erinnerung, vornehmlich aber, als sie in die feierlich heiligen Marmorhallen des Tempels eintraten und in den „lieblichen Wohnungen des Herrn Zebaoth“ Teil nahmen an den schönen Gottesdiensten des Herrn? Wir werden bald hören, welche gewaltige neue Erkenntnis durch dies Alles in dem Herzen des Knaben geweckt wurde.
Für heute wollen wir nur darauf den Finger legen, dass also die Eltern Jesu mit ihrem Kind das Angesicht Gottes suchen. Ach, und wie arm ist das Leben der Eltern mit den Kindern, wo dieses fehlt! Vollends, wehe den Eltern, die ihre Kinder gar abhalten und abschrecken von dem, was des Vaters ist, statt ihnen, wozu sie gesetzt sind, durch Wort und Tat den Weg dahin zu weisen. Nicht nur den Besuch der Kirche meinen mir, der gehört auch dazu, wenn die Kinder einigermaßen fassen können, was hier vorgeht und geredet wird. Aber Maria und Joseph haben gewiss jeden Tageslauf damit begonnen, dass sie betend und Gottes Wort lesend, das Angesicht des himmlischen Vaters suchten. O, es ist ein großes Ding um eine kurze und gute Hausandacht. Nichts gibt so einen feinen Grundakkord, nichts bindet die Herzen von Eltern und Kindern, Herrschaft und Dienstboten (denn die müssen selbstverständlich dabei sein, als Träger desselben Gottesbildes, als Erben derselben Seligkeit!) nichts, sagen wir also, bindet die Herzen so zusammen, als wenn Alle miteinander sich beugen, demütigen und vereinigen vor dem einen und selben Gott, der Aller Vater ist. Alsdann mag jeder an sein Werk gehen und es wird sich finden, dass so mancherlei Trübungen, Missverständnisse, Verbitterungen, Verdrießlichkeiten, Verstimmungen und Überhebungen auf der einen und andern Seite viel seltener sind und viel leichter geschlichtet werden, wenn man das Gotteswort, das früh am Tagesanfang den Ton angab, weiter klingen lässt.
Herz und Herz vereint zusammen
Sucht in Gottes Herzen Ruh,
Lasset eure Liebesflammen
Lodern auf den Heiland zu!
Er das Haupt und wir die Glieder,
Er das Licht und wir der Schein,
Er der Meister, wir die Brüder,
Er ist unser, wir sind sein!
Mittwoch nach dem 1. Sonntag nach Epiphanias.
Und da die Tage vollendet waren, und sie wieder zu Hause gingen, blieb das Kind Jesus zu Jerusalem, und seine Eltern wussten es nicht.
Lukas 2, 43.
Man hat in alter und neuer Zeit den Eltern Jesu Vorwürfe gemacht, dass sie, leichtsinniger Weise, ihr Kind in dem gefährlichen Getreibe der großen Stadt zurückgelassen hätten. Bei der bequemen Gelegenheit sind dann viele passende und unpassende Reden darüber gehalten worden, dass Eltern ihre Kinder nicht ohne Aufsicht lassen, sie vor böser Gesellschaft, schlechten Büchern und allerlei anderem Seelengift bewahren sollten. Wie heilsam aber solche Ermahnungen auch an und für sich selber sind, so sind sie hier doch schlecht am Platz. Wenn man bedenkt, dass ein morgenländischer Knabe mit zwölf Jahren schon viel entwickelter ist, als bei uns, - wenn man bedenkt, dass in den Tagen nach dem Fest die Straße nach Galiläa mit hunderttausenden von Festpilgern bedeckt und an eine Gefahr irgend welcher Art nicht zu denken war, - wenn man bedenkt, dass der nachkommende Jesusknabe auf Schritt und Tritt Bekannte treffen musste, denen er sich anschließen konnte, - so kann man das Benehmen der Eltern leicht verstehen. Mag man immerhin sagen, Maria und Joseph hätten sich allzusehr beeilt, aus dem sie verwirrenden Getreibe und Getümmel der Stadt heraus und in die Stille zu kommen, - jedenfalls trifft sie nur der leise Vorwurf einer gewissen Übereilung.
Man hat aber eine liebliche geistliche Anwendung von dieser Geschichte gemacht, wenn man bei dieser Gelegenheit davon redet, wie leicht wir Jesum im Getümmel der Welt verlieren und ihn dann erst nach schmerzlichem, langem Suchen im Tempel wiederfinden. Jeder, der dieses liest, würde wohl einen Kommentar zu dieser Wahrheit schreiben können. Ach, wie leicht geschieht's, dass wir in dem Wirrwarr des Lebens, in dem Sorgen- und Luft-Getreibe der Welt, in dem Arbeitsgewühl, in dem übermäßigen Gesellschaftswesen unsern Herrn verlieren! Das geschieht allmählig, dass er uns abhanden kommt, und allmählig erst merken wir, dass seine Nähe uns nicht mehr erquickt, dass wir innerlich so öd und leer, dass wir aller Sammlung beim Gebet verlustig geworden sind, dass wir an der einfachen Speise des heiligen Gotteswortes keinen Geschmack mehr haben. Wohl dem, der sich das dann unerbittlich klar macht und dann in die Stille einkehrt, da Gott wohnt. In dem Heiligtum des Kämmerleins, in dem Heiligtum des Wortes und in dem Haus Gottes will dann der verlorene Christ unter Weinen, Beten und Selbstgericht gesucht sein, bis man wieder Ihn und sich selbst gefunden hat. Diese andern Gedanken spricht ein Lied von Pfeil gar erbaulich aus:
Jesus ist ein Kind,
Man verliert's geschwind:
An den Wegen, an den Straßen,
Wo man's außer Acht gelassen,
wo man sorglos ist
Um den heilgen Christ.
Wer nur einen Tag
Bleiben kann und mag,
Ohne Jesum selbst zu sehen,
Wird bald müssen Tage gehen,
Bis er wiederfind't
Das verlor'ne Kind.
Such's am rechten Ort,
Such's in Gottes Wort,
Such's im Tun und im Erfüllen
Deines ewigen Vaters Willen.
In dem Amt und Stand,
Wozu er gesandt.
Donnerstag nach dem 1. Sonntag nach Epiphanias.
Sie meinten aber, er wäre unter den Gefährten, und kamen eine Tagereise, und suchten ihn unter den Gefreundten und Bekannten. Und da sie ihn nicht fanden, gingen sie wiederum gen Jerusalem, und suchten ihn. Und es begab sich nach dreien Tagen, fanden sie ihn im Tempel sitzen, mitten unter den Lehrern, dass er ihnen zuhörte, und sie fragte. Und alle, die ihm zuhörten, verwunderten sich seines Verstandes und seiner Antwort.
Lukas 2, 44-47.
Während des ersten Tages der Wanderung hofften die Eltern immer noch, der leichtfüßige Knabe werde sie einholen. Wie oft mögen sie sich sehnsuchtsvoll nach ihm umgeschaut haben! Doch, er kam nicht. Als er aber auch Abends in der Karawanserei immer noch nicht gefunden wird, befällt sie ein namenloses Bangen. „Da muss etwas Außergewöhnliches, Schreckliches passiert sein!“ denken sie; denn sie kannten des Kindes Gehorsam und treue Anhänglichkeit. So pilgern sie den zweiten Tag mit sorgenvollem Herzen rückwärts. Aber wie viele Pilger sie auch befragen, da ist keiner, der Kunde geben kann, und größer und größer wird ihre Angst. Ach, wer einmal auch nur auf eine Viertelstunde ein Kind verloren hat, kann das mit ihnen fühlen. Und nun dies Kind, wie nie ein Kind war, - dies Kind, in dem aller Welt Heil beschlossen war und darüber sie Rechenschaft ablegen sollten!
Auch in Jerusalem suchen sie am dritten Tag den Knaben lange vergeblich, bis sie endlich zum Tempel ihren Schritt lenken. Da, wie sie in die prächtigen Marmorhallen (wahrscheinlich in den Vorhof der Weiber) eintreten, - welch ein Anblick! Da sitzen die Schriftgelehrten und Rabbiner im Kreise, alte Herren mit weißen Bärten, Pergamentrollen auf ihren Knien und zu ihren Füßen - das Jesuskind! Er ist friedereich und still, bescheiden und demütig wie ein Kind, aber in hoher geistiger Bewegung mit den Lehrern des Volks sich unterhaltend. Er disputiert nicht mit ihnen, noch weniger sucht er diese alten Meister zu meistern; das wäre ganz und gar unnatürlich gewesen. Er fragt sie, die ihm damals noch so ehrwürdig waren, und sie fragen ihn; so ist's kindlich und so erzählt's die Schrift. Aber seine Fragen, (die sich ohne Zweifel auf die Festgottesdienste, auf die Opfer, Zeremonien, Symbole und verlesenen Schriftabschnitte beziehen) sind so wunderbar einfaltsvoll, so unmittelbar in das tiefste Wesen der Dinge eindringend, dass diese Theologen, die nur zu sehr an der Oberfläche der Dinge herumklauberten, darüber in tiefes Staunen versinken.
Wir kennen ja wohl alle die Macht der Kindesfragen. Wie können die Einen oft erschüttern, beschämen und Mark und Bein zittern machen! Es ist gerade das Kindliche an den Kindern, das Unbewusste, Einfältige, was so mächtig durchschlägt. Wenn Erwachsene uns ermahnen und belehren, so verletzt uns das gerade, dass sie etwas wollen, wir haben so leicht das Gefühl, dass sie sich über uns erheben, und werden dadurch zum Widerstand gereizt. „Man merkt die Absicht und wird verstimmt.“ Die Kinder aber reden ohne Tendenz, aus ihrer Unschuld heraus, weil's ihnen gerade so um's Herz ist.
Wenn ein Kind in der Sonntagsschule gehört hatte, „Joseph habe die Sünde mehr gefürchtet als alle Leiden der Welt“, und daheim fragt es seinen rohen Vater: „Vater, fürchtest Du auch die Sünde so sehr?“ - wenn ein kleiner Bube in einem christlichen Haus das Tischgebet kennen gelernt hat und fragt nun seine Eltern ganz traurig: „Warum beten wir denn nicht? dürfen wir das nicht?“ - so verstehen wir, wie solche kurze Fragen wie ein unauslöschlicher Bußruf tief in die Herzen der Eltern eingedrungen sind. Wir verstehen es, wie eine Mutter, die so eben zur Witwe geworden und ganz untröstlich war, wunderbar aufgerichtet und durchleuchtet wurde, als ihr fünfjähriges Söhnlein sie fragt: „Mama, ist der liebe Vater im Himmel denn auch tot?“ Wie mögen auch die Fragen des Jesusknaben in die Herzen der gelehrten Männer gedrungen sein! Denn ob er auch schon 12 Jahre alt war, so wohnte doch in Ihm eine vollkommene Kindlichkeit, Unbefangenheit und Unschuld, so dass an etwas Absichtliches gar nicht zu denken war. Wir werden gut tun, wenn wir uns auch einmal ein wenig von Ihm ausfragen lassen, wie's mit unserer Liebe zu Gott im Himmel und zu den Menschen auf Erden, mit unserem Gebets-, Glaubens- und Hoffnungs-Leben bestellt ist?
Holder Knabe
Mit dem Stabe,
Der die Löwen weiden kann:
Denk der kleinen
Armen deinen,
Der du Jüngling warst und Mann!
Lass sie weiden
In den Freuden
Deiner Kindheit, Jesu Christ!
Lehr' sie stündlich
Treu und kindlich
Sein, wie du gewesen bist.
Freitag nach dem 1. Sonntag nach Epiphanias.
Und da sie ihn sahen, entsetzten sie sich. Und seine Mutter sprach zu ihm: Mein Sohn, warum hast du uns das getan? Siehe, dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.
Lukas 2, 48.
„Die Eltern entsetzten sich;“ das glaube ich wohl. Ihr Kind, das bis dahin immer nur unter geringen, ungebildeten Leuten verkehrt hatte, sitzt ganz gemütlich mitten unter den berühmten Theologen, an die sie selbst sich niemals gewagt hätten, und es redet mit ihnen so unbefangen, so natürlich, als wären sie seine Väter! Und weiter, sie sind so aufgeregt, innerlich aufgewühlt, und das Kind so friedereich und still, als wäre nichts; sie sind so angstvoll und das Kind so froh und glücklich! Das macht sie ganz erstarrt.
Maria aber, da sie nun ihren verlorenen Liebling in die Arme schließt, kann nicht umhin, ihm einen Vorwurf zu machen. Und scheint es nicht, als ob der mütterliche Tadel durchaus berechtigt war? Es scheint freilich so und zur äußerlichen Nachahmung lässt sich diese Handlungsweise Jesu unseren Kindern auch nicht empfehlen. Dennoch ist der Vorwurf nicht am Platz, denn man darf Jesum nicht überall mit dem gewöhnlichen Maßstab messen. Wir finden schon an genialen Menschen gar Manches groß und löblich, was für Leute des durchgängigen Schlages durchaus tadelnswert ist. Wenn zum Beispiel Sokrates auf einem Kriegsmarsch nach Theben, durch den Anblick der untergehenden Sonne zu großartigen Gedanken angeregt, plötzlich stehen bleibt, und zwar 24 Stunden, wie angewurzelt auf demselben Fleck in seine Gedanken versunken stehen bleibt, so ist das zwar im Interesse der militärischen Disziplin mit Nichten zu empfehlen, dennoch hat der atheniensische Offizier, der ihn ruhig stehen ließ und nicht vorwärts kommandierte, den Dank der Nachwelt verdient. - Oder wenn jenes sechsjährige Kind, in dem ein gewaltiger Künstlergenius steckt, stundenlang auf ein Ölgemälde hinstaunte und darüber Mittagessen, Schule und die ganze Welt vergaß, so haben die Eltern das keineswegs ihren andern Kindern empfohlen und doch etwas Großes und Hoffnungsreiches darin gefunden.
In ungleich höherem Sinn lässt sich das Alles auf den Jesusknaben anwenden, denn hier ist göttlich-heilige Genialität. Aus einer Übergewalt hoher himmlischer Ideen, gleichsam aus göttlicher Inspiration, ist es zu erklären, dass Jesus, angezogen durch die Dinge in seines Vaters Haus, zurückgeblieben war. In vollkommener Unschuld, Einfalt und Herzensreinheit hat er so gehandelt, wie er gehandelt hat.
So hätte denn auch Maria, - wenn überhaupt einmal Vorwürfe sollten gemacht werden, - klüglicher getan, sich selbst statt ihrem Sohne einen Tadel zu erteilen. Aber so sind wir Menschen ja. Ist irgend im Hause ein Unglück passiert, hat zum Beispiel der Sturm ein Fenster zerschlagen oder ist eins der Kinder vom Stuhl gefallen und hat Schaden erlitten, so sind wir flink darüber aus, die Schuld Anderen aufzupacken. Vernünftigerweise sollten wir erst unseren Anteil daran aufsuchen, so würden wir dann sänftiglicher und lehrreicher von der Sache reden. Nun aber fügen wir dem ersten Übel durch unsere Ungerechtigkeit ein zweites hinzu. Ach, dass wir doch im Kleinen und Großen immer redlicher darüber studierten, uns selbst zu richten und zu strafen, wie viel sonniger und fruchtbarer würde sich dann unser Leben gestalten!
Gib uns, Herr,
Immer mehr,
Dass wir uns ergründen
Und in dir uns finden!
Sonnabend nach dem 1. Sonntag nach Epiphanias.
Und Er sprach zu ihnen: Was ist es, dass ihr mich gesucht habt?
Lukas 2,49.
Dem Verwundern der Maria setzt Jesus sein Verwundern entgegen. Sein Herz ist frei und unschuldig, sein Gewissen klarer wie der klarste Spiegel. Er kann sich gar nicht denken, wie seine Eltern sich um ihn sorgen und ihn anderswo als hier vermuten konnten. Der Gedanke, etwas Besonderes zu tun, ist ihm in seiner heiligen Einfalt gar nicht einmal gekommen. Wie der Magnet, eben weil er Magnet ist, nordwärts weist, wie die Sonnenblume ihr Angesicht immer wieder den Strahlen der Sonne zukehret, man mag sie wenden wie man will, so hat sich die Seele Jesu nach ihrer inneren Natur in die himmlischen, göttlichen Dinge eingesenkt, die alle von seinem Vater Zeugnis gaben. Hier im Tempel, wo Gott im Allerheiligsten über Cherubim thronte, hier, wo jeder Laut, jede Zeremonie, jedes Symbol, jeder Weihrauchduft himmelwärts wies, - hier, in den Vorhöfen und an den Altären des Herrn Zebaoth, hatte der Vogel sein Haus gefunden. (Ps. 84.) Und dieses Heimatsgefühl durchdringt ihn so, dass er meint, alle Menschen müssten das auch wissen. Er kann gar nicht begreifen, wie man das nicht wissen kann.
So sehen wir denn gleich hier, wo Jesus zum ersten Mal selbstständig handelnd auftritt, dass er nicht verstanden wird, nicht einmal von der hochbegnadigten Mutter, die ihn unter dem Herzen getragen hat, verstanden wird. Desgleichen, da Er in Kana sein erstes Wunder tut, wird er nicht von ihr verstanden, (Joh. 2,4), und so oft im späteren Leben wird er von ihr und allen seinen Getreuesten und Geweihtesten doch nicht verstanden in seinem Tun und Lassen, Lieben und Leiden, Reden und Schweigen, Freuen und Weinen. Ganz und gar missverstanden wird sogar seine Hingabe in den Tod, nicht verstanden wird sein Auferstehen, nicht verstanden seine Auffahrt zum Vater. Trostlose Trauer und inneres Ärgernis, Zweifel, Unglauben und starres Staunen sind die Antwort, die Ihm von den Besten zu Teil wird, da Er unser Heil erwirbt.
Wenn aber selbst die so wunderbar geheiligte Maria ihren zwölfjährigen. Knaben nicht verstand, wie können wir so viel fleischlicheren, unheiligeren Menschen verlangen, dass wir den verklärten, himmelerhöhten Menschensohn verstehen wollen? Dürfen wir uns wundern, wenn uns sein Geben und Nehmen, sein Leiten und Regieren oft wie eitel Wirrwarr und Finsternis erscheinen? Sollen wir an Ihm irre werden, wenn oft unsere heißesten Gebete, unsere, wie mir meinen, edelsten und reinsten Hoffnungen, Gelübde, Entschlüsse und Pläne bei Ihm keinen Eingang und keine Antwort zu finden scheinen? Sollen wir uns wundern, wenn er uns wunderbar erscheint, da doch schon vor 3000 Jahren der Seher Jesaja das Wort „wunderbar“ als den ersten Namen des Messias nennt? - O, lasst uns doch an der Maria lernen, nicht verstehen und dann doch so viel inniger lieben, so viel inniger glauben und hoffen, dulden und harren, bis der Tag kommt, da Er Alles offenbar macht und alle Dunkelheit in eitel Sonnenschein wandelt.
Lass ruhn zu deinen Füßen
Dein armes Kind,
Ich will die Augen schließen
Und folgen blind.
Am 2. Sonntag nach Epiphanias.
Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in Dem, das meines Vaters ist?
Lukas 2,49.
Mit diesen einfach - hohen Worten schreibt der Knabe, ohne es zu ahnen, die Überschrift über sein ganzes, gottmenschliches Heilandsleben. Er spricht damit recht eigentlich das Leben seines Lebens, die Seele und die innere Signatur seines Lebens aus, das, was ihn von allen seinen Mitmenschen unterschied und wodurch Er fähig wurde, aller seiner Mitmenschen Heiland zu sein. Während Er seine Seele eintauchte in die heiligen Dinge des Tempels, durchleuchtete es ihn ahnungsvoll, dass der Gott, dem man hier diente, zu Ihm in einem einzigartigen Verhältnis stehe, dass Gott in ganz einziger Weise sein Gott und sein Vater sei. Darum nennt er auch den Tempel seines Vaters Haus.“1)
Jesus war so ganz und gar teilnehmend an dem, was auf Erden vorging; er war mit seinem ganzen Herzen, mit allem seinem Sinnen und Tun, Reden und Schweigen, Lieben und Leiden so gänzlich versenkt in der Menschen Wohl und Wehe, wie nie ein Mensch auf Erden war. Nichtsdestoweniger, wo er auch war und was er auch tat auf Erden - mit seinem tiefsten innersten Ich war er doch allewege bei dem Vater, mitten in der Zeit dennoch mitten in der Ewigkeit, mitten im Gewühl der Menschen und im Gebrause der Welt dennoch in der heiligen Stille des himmlischen Vaterhauses. „Sein in dem das des Vaters ist,“ das blieb seine Losung auch da, als ihm das irdische Haus seines Vaters wie eine Mördergrube erschien; denn, was er eigentlich mit dem Worte meinte, war doch nur dies: Ich muss vor seinem Angesicht wandeln, ich kann nur leben in seiner Gegenwart, Nähe und Liebe; seinen Willen auszurichten, sein Werk zu treiben, Ihm in Allem zu dienen, das ist mein Leben. Dies, den Willen des Vaters auszurichten, nennt Jesus seine Speise, also das, wovon er innerlich lebt und genährt wird, wodurch er wächst und erstarkt. (Joh. 4,34; 9,4; 17,4.)
Ach, dass Jesu Geist immer mehr unser Geist würde, dass doch auch wir von Stufe zu Stufe mehr dazu gelangen möchten, mit unseren innersten Lebenswurzeln zu sein und zu haften (an jedem Orte, zu jeder Zeit, in allem Werk und Leid) „in dem was des Vaters ist“. Darnach müssen wir ringen, dass wir immer etwas von Ewigkeitsluft um uns spüren, gleichviel, ob wir auf dem Krankenbett elend darniederliegen oder im Konzert sitzen, gleichviel, ob wir beten oder in fröhlicher Gesellschaft sind, gleichviel, ob wir im Geschäft sind auf dem Comptoir, in der Waschküche, in der Werkstätte, oder ob du deinen Kindern biblische Bilder zeigst oder Speckter's Fabeln erzählst, gleichviel, ob du einen Kondolenzbrief schreibst oder im grünenden Wald spazieren gehst. Der Vater muss immer gegenwärtig sein, Ihn muss man in Alles hineinschauen lassen können, seine Nähe muss immer erwünscht, auf die Ausrichtung seines Liebeswillens müssen wir überall bedacht sein. So hat man Frieden, so ist man ein Kind Gottes.
Unser Unglück ist die Trennung des alltäglichen äußeren Lebens von dem geistlichen Leben. Dass das Geschäft, das häusliche Leben, der Beruf, die Erholungsstunden usw. etwas für sich sind, abgelöst von dem religiösen Leben, dieses dagegen eingepfercht in eine Reihe einzelner Akte, frommer Werke, Andachten, Kirch- und Abendmahls-Gänge, Bekenntnisse und Zeugnisse, keineswegs aber der Sauerteig, der das Gesamtleben durchdringt, - das ist unser Unglück! Und doch ist das gerade das Charakteristische des Christentums, dass es ein Geisteswesen ist, welches bei dem Menschen, der sich ihm ergibt, alles durchleuchtet und in Allem dargestellt wird, als neues höheres Leben von Oben und dadurch auch Frieden- und Freuden-Leben mitten in einer Welt voll Streit und Tränen. Was man tote Orthodoxie nennt, ferner aller Fanatismus, Verketzerung, vornehmlich auch alle Spaltung der Jünger Jesu um einzelner Lehrunterschiede willen, - das Alles wäre unmöglich gewesen, wenn man sich immer klar gemacht hätte: Das Christentum ist die wirkliche Darstellung des Lebens aus Gott, es ist das, dass man überall und immer in Dem sich bewegt, was des Vaters ist.
Das würde auch der Welt imponieren und uns innerlich beglücken und uns innerlich zur wahren Entfaltung bringen.
O, wer nur immer bei Tag und Nacht
Dein zu genießen wär' recht bedacht!
Der hätt' ohn' Ende von Glück zu sagen,
und Leib und Seele müsst immer fragen:
Wer ist, wie du?