Frommel, Emil - Das Gebet des Herrn in Predigten - II. Unser Vater in dem Himmel.

Frommel, Emil - Das Gebet des Herrn in Predigten - II. Unser Vater in dem Himmel.

Die Gnade unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi und die Liebe Gottes des Vaters und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit uns Allen. Amen.

Text: Luc. 11, Vers 2.
Unser Vater in dem Himmel.

In Christo geliebte Gemeinde!

Wir möchten in diesen Stunden das Vaterunser recht beten lernen. Das thut noth. Denn es ist kein Gebet auf Erden, das so viel, aber auch gedankenlos gebetet wird, als gerade das Vaterunser. „Es ist Jammer über Jammer,“ sagt Luther, „daß solches Gebet eines solchen Meisters, soll also ohne Andacht zerklappert und zerplappert werden in aller Welt.

„Viele beten des Jahres vielleicht tausend Vaterunser, und wenn sie tausend Jahr also sollten beten, so hätten sie doch nicht einen Buchstaben oder Titel davon geschmeckt noch gebetet. Summa: Das Vaterunser ist der größeste Märtyrer auf Erden. Denn Jedermann plagts und mißbrauchts, wenige trösten's und machen fröhlichen rechten Gebrauch.“ In vielen Häusern, in denen es noch gebetet wird, wird es so undeutlich geredet, daß man nicht einmal die Sprache erkennt, in der es gebetet wird, ob's deutsch oder französisch ist. Ganz anders hoch hielten die ersten Christen das Vaterunser. Sie erlaubten es nicht Jedem zu beten. Nur die bereits eingetreten waren in den Taufunterricht, die schon ein Bekenntniß für Christum abgelegt, durften es am Schluß des Unterrichts lernen. „Nimm hin,“ so sprach man zu ihnen, „dieses theure Kleinod und bewahre es; nimm hin das Gebet, welches vor Gott zu bringen, Gott selber gelehrt hat.“ Und erst an ihrem Tauftage beteten sie es öffentlich vor der Gemeinde. Mit dem rechten Hersagen aber ist noch gar wenig gethan. Spricht nicht der Herr zu dem glaubenslosen Volk, das betend sich naht: „Wenn ihr gleich viel betet, so höre ich euch doch nicht, und wenn ihr gleich eure Hände zu mir ausbreitet, so verberge ich doch mein Angesicht vor euch?“ Es kommt auf das „Wie“ bei deinem Beten an. Ein Vogel muß Flügel haben, wenn er fliegen will und wenn er sie nicht hat, so bleibt er auf der Erde und wenn er tausendmal sich aufschwingen möchte. So muß, lieber Christ, auch deine Seele Schwingen haben, wenn sie sich anders zu Ihrem Gott im Gebet empor heben will. Diese Schwingen sind der lebendige Glaube. Ist er nicht da, magst du das schönste Gebet hersagen, du bleibst auf der Erde, und kommst nicht an die Himmelsthüre. Ohne den Glauben kannst du auch das Gebet aller Gebete, das Vaterunser nicht beten. Darum können, darum dürfen auch so viele nicht das Vaterunser beten. Fragst du aber: Wer darf es denn beten? so weise ich dich hin auf die Anrede im Vaterunser, die heißt: „Unser Vater, der du bist im Himmel.“ Kannst du die recht beten, kannst du auch die Bitten und den Schluß recht beten. Denn das ist klar, wer den Anfang schon nicht beten kann, kann sicherlich auch nicht weiter beten. Wir fragen darum: Wer kann und darf das heilige Vaterunser beten? und antworten: Wer da im Glauben betet:

  1. daß Gott ein Vater,
  2. daß er unser Vater,
  3. daß er unser Vater im Himmel ist.

Herr unser Gott! der Du in einem Lichte wohnest, da Niemand zukommen kann, und wohnest unter den Lobgesängen Deiner heiligen Engel! Habe Dank, daß wir Dich unsern Vater nennen und zu Dir kommen dürfen. Herr! was ist der Mensch, daß du sein gedenkest und des Menschen Kind, daß du dich seiner annimmst! O so gib, daß wir deinen süßen Vaternamen recht verstehen lernen! Lehre einen Jeglichen was er an ihm hat. Wer in Noth und Trübsal ist, dem rufe mit starker Stimme zu: Ich bin dein Vater, fürchte dich nicht! Wer sich von dir verloren, dem rufe deinen Vaternamen nach, auf daß er sich zu dir zurückfinde! Mache uns durch deinen lieben Sohn und deinen heiligen Geist zu deinen rechten Kindern, auf daß wir getrost und mit aller Zuversicht beten: Abba, lieber Vater! Amen.

l. Vater unser in dem Himmel.

In Christo geliebte Gemeinde! Lieblich erklärt Luther diese Anrede, wenn er sagt: „Gott will uns damit locken, daß wir glauben sollen, er sei unser rechter Vater und wir seine rechten Kinder, auf daß wir getrost und mit aller Zuversicht ihn bitten sollen, wie die lieben Kinder ihren lieben Vater.“ Wie köstlich ist diese Anrede also. Es liegt ja in der Anrede überhaupt der deutlichste Ausdruck, wie du zu Jemanden stehst. Je nachdem du zu einem Menschen stehst, redest du ihn an. Du redest anders einen Vorgesetzten, anders einen Untergebenen, anders den Freund an. Wie du deinen Gott anredest, so stehst du zu ihm. So zeigt dir die Anrede hier, wie du zu deinem Gott stehen sollst. Bedenke es: du sollst nicht beten: „Unser König, unser Richter im Himmel,“ sondern „unser Vater in dem Himmel!“ Mit dem köstlichsten Namen, den es auf Erden gibt, dürfen wir unsern Gott anreden. Es gibt keinen süßeren und traulicheren, aber auch keinen majestätischeren Namen als diesen. Das erste Wort, das ein Mensch aussprechen lernt, ist das Wort Vater oder was in dieser Hinsicht gleichbedeutend ist Mutter. In dem kleinen Wörterbuch der Kinder, da stehen oben an die Worte: Vater und Mutter. Ihr wisset es, lieben Eltern, denen der Herr Kinder geschenkt hat, was es mit diesem Namen für eine Bewandtniß hat, wie tief der Klang ins Herz drang als euer erstes Kind zum ersten Mal sprach: „Vater“ „Mutter“. Ist es nicht das zutraulichste Wort? Faßt Euch euer Kind nicht am Innersten an, wenn es ruft: Lieber Vater, liebe Mutter? Zugleich ist es auch ein majestätisches Wort. Gibt es für einen Fürsten einen majestätischeren Titel, als wenn sein Volk ihn einen „Landesvater“ nennt? Einen „Vater in Christo“ nennst du einen Menschen, der dir das Höchste war, was ein Mensch dem andern sein kann, eine Brücke zum Heilande hin. Kindliche Liebe und heilige Scheu faßt dieser Vatername in sich. Der Herr schenkt dir Großes damit.

Was Er, der heilige Sohn Gottes, gethan, das lehrt er dich, du sündiges Menschenkind. Du sollst deinen Gott anreden, wie Er ihn angeredet hat. Ist Gott nicht sein „Vater“ im Tempel, sein „Vater“ in Gethsemane, sein „Vater“ am Kreuz? In dieses sein Verhältniß zum Vater sollen wir eintreten, auch unsere Anrede an den großen Gott, dessen Stuhl der Himmel, dessen Schemel die Erde ist, soll sein „Unser Vater in dem Himmel.“

Das aber, lieben Freunde, hat uns der Heiland nicht gelehrt allein, sondern Er hat es uns vor Allem erworben. Kommt dir das befremdlich vor? Meinest du etwa, das verstehe sich von selbst, daß Gott dein Vater sei? Etwa deßwegen, weil er dein Schöpfer ist? Darum ist er noch lange nicht dein Vater. Wohl hörst du jetzt in Kirchen, Häusern und Gassen vom lieben Vater im Himmel reden. Der alte eifrige Bundesgott Israels sei abgethan und gehöre unter das alte Eisen. Da hat man sich einen Vater im Himmel gemacht, wie man ihn braucht, der mit unsrer Zeit Schritt hält; so einen guten Mann, der fünf gerade sein läßt, der wohl manchmal ein wenig schilt und zankt, aber gleich wieder gut wird. Er ist ein guter, alter Herr, der Regen und Sonnenschein seinen lieben Kindern ohne Unterschied auf Erden gibt und sie am Ende, wenn sie für da unten zu alt sind, in seinen schönen Himmel ruft. Solch einen Gott „Vater“ zu nennen, dazu brauchst du keinen Heiland, der dir's erwirbt und erlaubt, Gott einen Vater zu nennen; das erlaubt dir dein weichliches und leichtfertiges Herz von selbst, wenn du so eines hast. Daß dir da an dem Wort „Vater“ nichts Großes und Besonderes ist, das kann ich leicht verstehen. Ihr aber, liebe Freunde, die ihr keinen eingebildeten Gott habt, sondern den Gott, wie er sich in seinem Worte geoffenbart hat, ihr werdet verstehen, warum ich sage: Jesus hat es uns erworben Gott einen Vater nennen zu dürfen. Denn siehe, lieber Christ, suche im ganzen alten Bunde alle Gebete auf, suche die Mosis und Davids, der Gottesmänner, die mit ihrem Gotte redeten, als mit einem Freunde: Nirgends findest du ein Gebet oder einen Psalm, der anfinge: „Vaterunser.“ Warum nicht? fragst du. Ich antworte dir: weil sie nicht durften. Wer gibt dir, du Menschenkind und Sünder, das Recht, den heiligen und lebendigen Gott einen Vater zu nennen? Das Band, das den Menschen mit seinem Gott verband, ist durch die Sünde zerrissen. Eine ungeheure Scheidewand ist aufgerichtet, der Vorhang dicht und schwer herabgelassen, der das Allerheiligste von uns trennt. Wer darf wagen durchzudringen? Wie darf ein Sünder sich nahen und Ihn, den Heiligen, einen Vater nennen, so er doch nichts von des Vaters Natur an sich hat? Lieber Mitchrist, wer darf denn dich einen Vater nennen? Nicht wahr, nur der, der dein Kind ist, oder in kindlichem Verhältnisse zu dir steht; verbittest du dir nicht von jedem Andern, oder gar von einem frechen Missethäter den Namen „Vater?“ Meinst du nicht, daß Gott sich dasselbe Recht nähme? Der Name Vater setzt ein Kind voraus, das also betet, und deutet auf die innigste Verwandtschaft hin. Darum müssen wir, was wir nicht von Natur sind, werden durch die Gnade, nämlich Gottes Kinder. Das geschieht durch unsern Herrn Jesum Christum. „Da die Zeit erfüllet ward, sandte Gott seinen Sohn vom Weibe geboren, auf daß wir die Kindschaft empfingen. Der Sohn Gottes kam in sein Eigenthum; wie viele Ihn aufnahmen, denen gab er Macht Gottes Kinder zu werden durch den Glauben.

Also dadurch, daß wir an den Sohn glauben, sind wir Gottes Kinder. „Wer den Sohn nicht hat, der hat den Vater auch nicht“, spricht der Herr. Wer darum den Sohn und seine Erlösung verachtet, der lästert Gott mit jedem Vaterunser. Gott ist nicht der Vater der Sünder, die in ihren Sünden beharren ohne Reue und ohne Sehnsucht, und ohne Glauben an seine Erlösung, sondern der Vater seiner Kinder, die an seinen Sohn glauben und durch ihn umgewandelt und in sein Bild verklärt sind. Darum dürfen nur wiedergeborne Christen, die das Blut Jesu Christi rein gemacht hat, vor Gott erscheinen und beten: „Unser Vater.“

Im Kleid des Erstgebornen
Erscheinen die Verlornen,
Und nehmen seinetwegen
Vom Vater allen Segen.

So ist das Vaterunser ein Gebet in Jesu Namen, wenn auch sein Name nicht dabei genannt wird, denn ohne Ihn darfst du das erste Wort schon nicht aussprechen. Du trittst mit Ihm hin - und im Blick auf ihn sprichst du „mein Vater!“ Ein treuer Zeuge des Herrn sagt: Als Josephs Brüder einst vor ihrem Bruder Joseph allein erschienen, gab er sich ihnen nicht zu erkennen; als sie aber den Benjamin, seinen unschuldigen Bruder brachten, und er ihre Liebe zu ihm sah, brach ihm das Herz. Ist's nicht also bei unserm Gott? So lang wir allein kommen, sieht er nur Leute in uns, die ihn tausendmal verkauft haben; bringen wir aber den wahren und rechten Benjamin, den Sohn Gottes, den heiligen und unschuldigen und sein Verdienst mit vor seinen Thron, so erhört er uns um unsers Bruders willen.

Darum ist das erste Wort, das ein Mensch in seiner Wiedergeburt, am ersten Tag seines neuen Lebens zu beten anfängt, das Wort: „Vater.“ Mein Vater in Christo! Mit diesen Worten sinkt der Vater ihm, und er dem Vater ans Herz und spricht: „Vater! ich habe gesündigt im Himmel und vor dir!“ O daß wir es darum ernst nähmen mit diesem „Vater“ sagen! Luther nennt es einen hohen Berg, über den wir zuerst steigen müssen. Bist du hinüber, hast du ihn überstiegen, lieber Christ? Hast du dich aufgemacht aus den tiefen Thälern der Sünde, bist du hinaufgekommen zu den Gnadenhöhen, da du in Christo sprechen kannst: „Unser und auch mein Vater?“ Wer nicht in seinem Leben einmal vor diesem Anruf zagend gestanden ist, daß er ihn nicht über die Lippen zu bringen vermochte - wer nicht die ganze Schreckniß erfahren hat, die in dem Worte liegt: „Mein „Richter,“ der wird nie die Wonne empfinden, die aus dem Worte quillt: Mein Vater! - Nun denn, mein Christ, du betest wohl zu ihm: „Unser Vater;“ aber hast du auch die Antwort des heiligen Geistes, daß der Vater zu dir sagt: Mein Kind, was willst du? „Unser Vater!“ Wenn du das mit Wahrheit sagen kannst, wohl dir! Mit diesem Worte fassest du das ganze Christenthum zusammen, du hast Alles gesagt, was du sagen kannst; du nimmst alles zusammen, was der Herr für dich gethan, und in dir gethan; alle deine Buße, all' dein Glaube liegt in dem einen Worte: „Vater.“ Alle unverdiente Wohlthat, die dich zur Buße leitet, aller Reichthum der Langmuth und Barmherzigkeit liegt d'rin. Aber bedenke, es liegt auch darin das ganze Gelöbniß eines heiligen Kindeswandels. Frage dich bei diesem Worte, ob man es dir auch in deinem Sinn und Wort und Leben ansieht, daß du ein Kind Gottes bist. Sage, muß dir nicht dein unkindliches Wesen bei jedem Vaterunser einfallen? Wie viele Stunden sind es, wo du dich als ein rechtes Weltkind, aber nicht als ein Gotteskind aufgeführt hast! Siehe, so liegt in diesem Worte „Vater“ wohl eine köstliche Gnadenpredigt, aber auch eine ernste Bußpredigt.

Darum so oft du betest, betest du mit Trauerthränen der Buße und Freudenthränen der Gnade „Unser Vater?“ - Ja dann öffnet sich dir der ganze Gnadenschatz in diesem Vaternamen, Denn siehe, wie sich ein Vater über seine Kinder erbarmet, so erbarmet sich der Herr über die, so ihn fürchten. Kannst du noch traurig sein, da der allmächtige Gott sich deinen Vater nennt? Nein, dann sagen und jubeln wir mit Luther: „Wenn ich diese Worte verstünde und glaubte, daß Gott, der Himmel und Erde und alle Creaturen erschaffen, mein Vater sei - dann schließe ich bei mir, daß auch ich ein Herr Himmels und der Erde wäre. Da muß Christus mein Bruder und Alles mein sein - Gabriel mein Knecht und Raphael mein Fuhrmann und alle Engel meine Diener, mir in allen Nöthen zugegeben von meinem himmlischen Vater.“ Ja unser höchster Reichthum und Ehre, unser festgegründeter Adel, unsre ewige Seligkeit hängt an diesem Vaternamen. Selig wer ihn sprechen kann, selig wer damit im Geiste durchwandert, was Gott je und je zu seiner Seligkeit gethan, dem der heilige Geist das Zeugniß gibt, daß er Gottes Kind sei und dann anhebt zu beten: „Unser Vater in dem Himmel!“

Aber ich sehe Eines oder das Andere, das traurig wird bei diesem Jubel und sagt: „Ach, so kann ich's nicht beten. Ich bin kein wiedergeborner Christ.“ Vielleicht zagt nun Eines oder das Andere den Herrn „Vater“ zu nennen. Laßt mich euch zum Troste ein Wort eines treuen Zeugen hersehen. „O wohl dem, „der sich also fragt, der sich ernstlich prüft, ob er Gottes Kind sei, ehe er den Herrn „Vater“ nennt - verzage nicht, liebe Seele! Es ist eine andere Sache, ob ich frage: wer darf beten - auf diese folgt die enge, harte Antwort: Nur ein wiedergeborenes Kind darf beten. Aber wenn ich frage, wer soll beten: da sage ich Alle, Alle sollen dazu kommen, Alle die Erlaubniß empfangen! Ist der Herr nur für die Apostel gestorben? Allen legt er den Vaternamen auf die Lippen - Er möchte mit diesem süßen Namen alle Menschen locken, die in diese Welt kommen! Er hätte keine größere Freude, als wenn alle verlorenen Kinder sich aufmachten, satt der trüben Weide dieser Welt. Das wäre seines Herzens Freude und Wonne, wenn Jesus an der Spitze der ganzen Menschheit vor den Vater treten könnte und sagen: „Hier sind die, welche du mir gegeben hast, und siehe, ich habe deren keines verloren.“ So aber muß er sprechen: sie haben nicht gewollt! O Euch meine ich, die ihr euch nicht Kinder Gottes nennen könnt, weil ihr Kinder dieser Welt seid - aber die ihr fühlt, daß eure Seelen hungern und darben mitten in aller Lust; die ihr ohne Frier und Freude seid - hier stehet der Vatername und lockt euch: Wollet ihr nicht seine Kinder werden? Ja, wenn er sich euern Richter nennen würde, dann müßt ihr fliehen, wie Israel vor Sinai floh, aber er nennt sich euern Vater! Um sich also nennen zu können, gab er den einigen, geliebten Sohn dahin. Sehet ans Kreuz - schauet den Preis, um welchen er euch zu Kindern erkaufen möchte! - Wollet ihr nicht Gott zum Vater haben? - Zögert doch nicht! weinet lieber, daß ihr so lange ausgeblieben, bis ihr zu ihm kamt. Hebet eure Augen auf zu dem Gott, der euch unaussprechlich geliebt, wagt es in Jesu Namen und nennt Ihn zum ersten Male wieder „Unser Vater.“ So freut sich kein Vater, wenn ihm sein Kind zum ersten Male entgegenstammelt, wie sich der Vater im Himmel freut und mit Ihm alle heiligen Engel Gottes! O wie würden da, wenn wir es in dieser Stunde sprächen, die Herzen auch unter einander wallen, ein Bruder den andern anleuchten und sagen: Wir haben unsern Vater gefunden! O es wäre eine selige Feierstunde und der Vater würde uns anschauen als wollte er sagen: Meine Kinder, seid ihr heimgekehrt?“

O so laßt diesen Ruf des Vaternamens einen Gnadenruf an euer Herz sein! - Aber mit diesem Wunsche uns alle anzufassen und zum Vater zu beten sind wir schon hinübergegangen in das andere Wort:

2. Vater unser, der du bist in dem Himmel.

Wer einmal das „Vater“ recht verstanden, der versteht auch das „Unser“ dazu. Es zeigt dies Wort, daß du deinen Vater recht nehmest als den deinen. Es ist ein bedeutender Unterschied, ob du sagst: „Vater“ oder mein „Vater.“ Sagte doch Jemand, das „M“ sei der seligste Buchstabe, weil man damit sage: Mein Gott, mein Heiland. Ja, der Buchstabe „M“ scheidet den Kopf- und den Herzensglauben. Der Kopfglaube sagt: Ich glaube, daß es einen Gott gibt. Der Herzensglaube aber spricht: Dieser ist mein Gott. Ach, das nimm dir recht zu Herzen. Es kommen trübe Zeiten, wo dir das Wörtlein unser und mein entfallen will; du siehst wohl noch einen Vater, aber nicht mehr deinen Vater. Da gedenkt dieses Wörtleins „unser.“

Indeß lehrt dich nicht blos der Herr „Mein Vater“ sagen, sondern „Unser Vater.“ Darin liegt ein tröstlicher Gedanke. Wenn ein Mensch in sein Kämmerlein geht zu beten und hinter sich zuschließt, so ist er wohl allein; und es ist etwas Köstliches, um dies Alleinsein, um dies Reden unter vier Augen mit seinem Gotte. Aber es heißt hier auch „Allein und doch nicht ganz alleine.“ Denn siehe, außer seinem Herrn ist er noch umstellt mit einer großen Schaar Mitbetender. Wer seine Kniee beugt, soll wissen, daß er auf Erden mit der ganzen seufzenden und streitenden, und mit der im Himmel lobsingenden und triumphirenden Gemeinde verbunden ist. „Wer niederfällt, soll zu sich sprechen: „Mit dir beten viel tausend bedrängte Seelen, mit dir seufzen viel Tausend nach Erlösung; mit dir betet die Gemeinde der vollendeten Gerechten; und deine Rauchwolke steigt mit der ihrigen empor! Ja Seele wisse, mit dir betet im ewigen Heiligthum dein Fürsprecher, das Haupt betet mit seinen Gliedern und für seine Glieder, du stehst in einem großen Beterheere. Freue dich, daß so viele mit dir beten!“ Wie wenn du schüchtern in des Königs Audienzsaal trätest und fändest schon Hunderte drin, mit denen er freundlich redet, so soll dir dein Kämmerlein weit und groß werden zum Audienzsaal, aller Beter unter dem Himmel, daß dein Glaube sich dran stärke: Wo die Alle bleiben, bleib ich auch! Aaron und Hur hielten die betenden Hände Mosis oben auf dem Berge, daß sie nicht sanken; so halten viele tausend Seelen auch deine Hände, daß sie nicht müde werden. Das ist das zweite, das in diesem Worte „unser“ liegt. Aber weiter ist uns in ihm gesagt, daß, wie keiner allein betet, auch keiner für sich allein beten soll. Der Glaube lehrt einen das „Vater“ sprechen, die Liebe aber das „Unser“ dazu. Ist's doch eine sanfte Ermahnung des Vaters: Thue Fürbitte, Gebet für deine Brüder. - Haben wir einen Vater, so sind wir Brüder, Denke an die, die in Seelennoth sind und schwerer Anfechtung und nicht beten können; denke an die Gefahren und Versuchungen, an die Blindheit so Vieler! Der liebe Gott hat dir in deiner Familie gewiß einen oder den andern Lazarus vor die Thüre gelegt, den nimm mit herein mit deinem Gebet und trag ihn mit hinauf. Dies Stück greift weit. Dies Vater „Unser“ beten alle Kirchen und Confessionen. Das Vater unser ist noch ein Stück aus der zertrümmerten Einheit aller Kirchen; auch in die andern Confessionen greifst du mit dem Unser und legst sie dem Vater ans Herz. Ja, wer rechten Glauben hat, wer rechte Flügel des Gebets hat, der hat sie nicht zum Schlagen, sondern zum Tragen seiner Brüder in der Liebe, zum Vortragen im Gebete. Aber könnt ihr recht beten: „Unser“ Vater? Dazu gehört viel Liebe und ein versöhnliches Herz - wenn man aber entzweit ist, wie kann man dann auch Unser Vater beten? Die Christen küßten sich nach dem Vaterunser, zum Zeichen, daß sie nichts wider einander hätten. Wenn ihr Ehegatten im Streit lebet, wie wollet ihr beten Unser Vater? Wollet ihr nicht die Friedensglocke schon bei dem Wörtlein „unser“ anziehen? Oder warten bis erst die fünfte Bitte schneidend klingt: „Wie wir vergeben unsern Schuldigern?“ Wer wird denn im Audienzsaal eines Königs Streit und Händel anfangen? Ist nicht dein Betkämmerlein solch ein Saal? Wer so durch seinen Glauben den Vater sich heruntergezogen und die Brüder ihm in der Liebe ans Herz gelegt, der muß sich dann hinauf und hineinschwingen in seinen Gott mit dem Worte:

3. Unser Vater in dem Himmel!

In dem Himmel! Wird mir da nicht mein Gott weit weggerückt, sagst du, den ich eben noch so nahe bei mir hatte mit dem „Unser Vater?“ Nein, mein Christ! Es soll da keine Kluft gesprengt werden mit diesem Worte in dem Himmel zwischen dem hörenden Gott und seinem auf Erden betenden Kinde. Du sprichst wohl: „In dem Himmel.“ Aber Seine Himmel neigen sich herunter bis zu dem Betkämmerlein hinab. Wo ein betend Herz ist, da ist Gott; und wo Gott ist, da ist der Himmel. Wo ein betend Herz ist, da ist die Himmelsleiter, da die Engel auf und niedersteigen, da darf die Seele mit Jakob rufen, und wenn's auf einem harten Stein wäre: „Hier ist nichts anders, denn die Pforte des Himmels.“ Denn siehe, „Ich wohne in der Höhe und im Heiligthum und bei denen, die zerschlagenen Herzens sind“ spricht der Herr. So hoch der Himmel über der Erde ist, so viele Himmel seiner Gegenwart thun sich auf über den betenden Herzen, Wie die Sonne, die hoch am Himmel leuchtend steht, dennoch in jedem Thautropfen auf Erden ihr Bild spiegelt, so will die himmlische Gnadensonne in jedes betende Auge schauen. Nein, ER ist nicht ferne von einem Jeglichen unter uns! Aber verwechsle nicht den Himmel mit Dem, der drinnen ist. Nimm nicht das Geschöpf statt des Schöpfers. Sprich nicht, „der Himmel möge dich erhören,“ sondern fasse das Lebendige: „Der Du bist in dem Himmel!“ Dies Eine wohl will der Herr auch damit sagen, daß in dem Himmel Gottes Majestät sich am herrlichsten offenbare und dein herrlicher Trost in diesen Worten ist, daß eben der, den du als unsern Vater anrufest, ein Vater im Himmel ist. Der Vater, zu dem du betest, ist weit über alle Väter auf Erden erhaben. Nicht auf arme Menschen verläßt sich das Kind Gottes. Darum erklärt der Katechismus dieses Wort: „In dem Himmel“: „Daß wir von der himmlischen Majestät Gottes nichts Irdisches denken sollen, und von seiner Allmacht alle Nothdurft des Leibes und der Seele erwarten.“ Du sollst damit wegkommen von den irdischen Vätern, dein Herz weit ausspannen und kühn an des himmelhohen Vaters Ohr und Herz dich schwingen. Wie der Adler kühn seinen Flug zur Sonne nimmt, so hebt sich die Seele weit weg von der armen Erde, gibt ihr Lebewohl und schwingt sich auf und spricht: „Unser Vater in dem Himmel.“ Hier ist mehr, denn ein irdischer Vater. Väter auf Erden sagen: „Ich mochte wohl, aber ich kann nicht,“ - „Unser Gott aber ist im Himmel, Er kann schaffen, was er will.“ Väter auf Erden wissen nicht, was gut sei für ihr Kind, und geben doch wohl oft auf des Kindes Bitte Stein statt Brod und Schlangen statt Fische bei aller Liebe gegen die Kinder - „Er aber kennt die rechten Freudenstunden und weiß wohl, was uns nützlich sei.“ Ein irdischer Vater kennt oft die Noth seines Kindes nicht - „Euer himmlischer Vater aber weiß, was ihr bedürfet, ehe denn ihr ihn bittet.“ Irdische Väter sterben und lassen die Kinder trauernd am Grabe. Dein himmlischer Vater stirbt nicht, denn „Vater und Mutter verlassen mich, aber der Herr nimmt mich auf,“ spricht der Psalm. Siehe da! welch ein Trost in diesem Worte „Unser Vater in dem Himmel!“ Darum sollst du ihm trauen, auch wo du's nicht gerade einsiehst, warum Gott dir etwas versagt, denn:

So manches Nehmen gibt,
So manches Zögern eilt.
So manches Zürnen liebt,
So manch Verwunden heilt!

Drum stehe still und lege den Finger auf den Mund, wenn Gottes Wege so gar andere Wege als die deinen sind. Bedenke, es ist der Vater im Himmel, der sie führt, und seine Gedanken und Wege sind darum auch so viel höher, denn der Himmel höher, denn die Erde ist. Wenn dir der Herr etwas versagt um was du Ihn gebeten, so sei kein trutziges, böses Kind, das mit dem Fuße stampft und seine Geberden entstellt. Gott ist nicht dein Knecht, sondern dein Vater und zwar dein Vater, der von seinem Himmel ein gut Stück weiter schaut als du. Stoße dich nicht an seinen Wegen, wenn Er es den Seinen hie unten schlecht gehen läßt und die Gottlosen grünen wie das Gras und feststehen wie ein Pallast. Oben sitzt Herodes beim Gastmahl und ist guter Dinge und sein Töchterlein tanzt dazu - und unten sitzt der Täufer Johannes im dumpfen Kerker. Wenn es dir nach ginge, müßte der gottlose König hinunter und der liebe Johannes hinauf, so wäre es recht - so müßte der arme Lazarus hinein in den Pallast und der reiche Mann zu den Hunden hinaus. Aber es ist ein Vater im Himmel, der Himmelsgedanken hat, und bei allem Elend doch Johannis und des armen Lazari Vater ist und nicht der Andern. Darum bedenke und sage dir's, wenn du so an einen Kreuzweg kommst, wo dein Glaube scheu werden will: Er ist ja ein Vater im Himmel, der wunderlich aber seliglich führt; werd's schon einmal erfahren, warum er also gethan. Und weißt du wann? Wenn du einmal selber im Himmel bist. Und dahin will dich das Vaterunser recht ziehen.

„Unser Vater in dem Himmel.“ Ja dort in dem Himmel liegt, wie hinter dem Vorhang verborgen, eine Welt voll Gottesschönheit. Dort hat des Vaters Liebe bereitet, was „kein Auge gesehen, und kein Ohr gehört, und in keines Menschen Herz gekommen ist“. Eine selige Weihnachtsbescheerung für alle seine Kinder. Aber wir sind noch nicht dort. Wir stehen noch im dunklen Zimmer vor der Thüre draußen. Und wer sagt dirs, daß du noch nicht dort bist? Eben das Wort: Unser Vater im Himmel. Ich, dein Kind, bin noch auf Erden! Du bist daheim, ich noch in der Fremde. Darum aus solcher Himmelssehnsucht rufen wir aus der Tiefe zu dir: Herr, führe du uns heim! Wir sind im harten Kampf, aber bei dir ist Friede die Fülle! Eia wären wir da! Darum sagt ein treuer Zeuge: „Ach, wir wären auch gerne schon Ueberwinder, trügen gerne Kronen, Palmen, weiße Kleider und liederreiche Harfen: aber noch ist Staub des Streites auf unsern Häuptern statt Kronen; in unsern Händen Schwerter statt Palmen, unsre Kleider sind beschmutzt und zerrissen von der Sünde und Sündenkämpfen, unsre Harfen hängen an Thränenweiden! So soll jedes Vaterunser in dir ein himmlisches Heimweh wecken, und das ist gut. Wer kann auf Erden beten, ohne Heimweh zu haben nach dem Vaterhause? Gerade aber in diesem Worte, in dem Himmel, liegt die Bürgschaft, daß wir nicht hier bleiben. Denn „selig sind, die das Heimweh haben, denn sie werden nach Hause kommen“, sagt unser lieber Stilling. Unser Vater zieht uns an sein Herz. Es kommt die Zeit, wo uns Flügel gewachsen sind. Jesus ist heimgefahren und hat gesagt: „Ich will, daß wo ich bin, auch die seien, die du mir gegeben hast!“ Nun mit jedem Vaterunser laß dich locken, laß dich anstrahlen von den Lichtern aus der Heimath und wandre muthig zu. Fühle dich mit jedem Vaterunser mehr und mehr fremd da unten und bete dich hinein in das Bürgerrecht droben. Bete dich damit recht hinein in die selige Sterbekunst. Wie magst du dein Vaterunser beten und dies Wort: „in dem Himmel,“ wenn dir's doch so graut und bangt vor diesem Himmel und du nicht fort willst von da unten? Ist das ein rechtes Kind, dem Vater und Mutter in die Fremde schreiben: „Komm jetzt heim zu uns“ und das da sagt: „Ich mag nicht kommen, es zieht mich nicht nach Euch, ich will lieber fortbleiben?“ Und du, wenn dir der himmlische Vater durch den Tod den Brief schickt, daß du heim kommen sollst in deines Vaters Haus, und wehrst dich mit aller Macht - bist du ein rechtes Kind? Darum sage ich, bete dich mit dem Worte: „In dem Himmel“ recht hinein in das Stündlein, das so Vielen so herb ist, damit es dir ein seliges Stündlein werde.

Lasset mich schließen. Meine Theuern, merket ihr den Reichthum dieses Wortes? „Es ist kein Wort der Schrift, an dem nicht Berge hangen,“ sagen die Lehrer des Volks Israel; an diesem hangen Welten! Wer das recht beten kann, kann auch die Bitten beten. So bete im Glauben, in der Liebe und in der Hoffnung den Anfang deines Vaterunsers. Solch Gebet wird erhört. Im andern Tone, im höhern Chor werden wir diese Anrede droben beten, wenn Christus uns durchgeführt zum Vater, uns alle rein gewaschen in seinem Blut. Dort werden wir mit heimathlicher Freude ihm dienen. Dann werden wir nicht mehr sagen: „In dem Himmel,“ denn wir sind da! Unser Lebensschiff ankert an den Usern der Ewigkeit, und wir sind ausgestiegen und eilen zu der Stadt Gottes mit den goldenen Gassen und den Edelsteingründen. Wenn aber Gott, der Allmächtige, sich zeigt als der Tempel, der Alle umfaßt, und die Herrlichkeit des Vaters uns umleuchtet, da werden wir, wenn wir heim kommen, Ihn schauen, niedersinken und rufen: Halleluja! das ist: Unser Vater! Amen.

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