d'Espagne, Jean - Vom Lesen der Bibel

d'Espagne, Jean - Vom Lesen der Bibel

Die heilige Schrift muß man mit einem erleuchteten Auge lesen. Der Geist Gottes muß uns in alle Wahrheit leiten. Es liegt zuweilen viel mehr in einzelnen Abschnitten dessen, was Gott uns hat niederschreiben lassen, als man insgemein glaubt. So könnte man z.B. manches Erbauliche darüber sagen, wozu uns noch heute zu Tage die Lesung der Ceremonialgesetze diene, die Gott seinem Volke im alten Testamente vorgeschrieben hatte. Es ist eine der reichsten Schatzkammern in der Gottesgelehrsamkeit: voll von unschätzbaren Kleinodien: aber es gehört viele Einsicht dazu, um sie zu erkennen, und um den Gebrauch und den Werth dieser Kostbarkeiten richtig zu bestimmen; Jesus Christus ist überall abgemahlt in schönen mannigfaltigen Bildern. Wir treffen in den Schriften des alten Bundes verschiedene Vorschriften und Erzählungen an, welche dem Anschein nach weder auf unsern Glauben, noch auf unsre Sitten einigen Einfluß haben, und nichts trostvolles für unser Herz enthalten. Man bemerkt vorzüglich in den mosaischen Schriften, daß die wichtigsten Materien oft nur in wenigen Zeilen gestreift werden; und daß hingegen geringfügig und weit weniger beträchtlich scheinende Gegenstände ausführlich abgehandelt worden sind. Die Erlösung der Welt durch den Meßias, welchen Gott dem Menschen gleich nach dem Sündenfalle verhieß, die Berufung der heidnischen Nationen zum Genusse des Gnadenbundes Gottes, welche schon dem Abraham voraus verkündiget wurde, das Priesterthum des Melchisedeck, die glänzendste Abbildung des Heilandes, und verschiedene andere wichtige Puncte sind ganz kurz vorgetragen. Die Geburt des Ismael, die Heirath des Isaac, und dergleichen Geschichten mehr, sind weitläuftiger ausgeführt. Damals war die Kirche Gottes noch ein Kind; ihr Unterricht bestand in Milch, und nicht in starker Speise; aber wozu hilft uns die Lesung dieser Geschichten? Sie sind gewis geheimnißvoll. Daraus, daß Paulus die Geschichte vom Ismael und der Agar bis auf die geringfügigsten Umstände auslegt und deutet, läßt sich schließen, was vielleicht in den übrigen Geschichten des alten Testaments liege.

Gott hat uns oft große Wahrheiten durch kleine Begebenheiten lehren wollen. Verschiedene geringscheinende Umstände, welche die heilige Schrift ausführlich erzählt, lehren, wie wichtige Folgen oft dergleichen geringscheinende Umstände gehabt haben; ich will nur die Geschichten des Jacob anführen. Das Verbot, die Mutter mit ihren Kleinen aus dem Neste wegzunehmen, dem Ochsen, der da drischet, das Maul nicht zu verbinden, und dergleichen Verordnungen mehr, erstrecken sich wohl weiter, als man denkt. Das neue Testament gedenkt des Paulinischen Pergaments und seines Mantels, enthält den Rath Pauli an den Timotheus, daß er, um seines schwachen Magens willen, ein wenig Wein trinken sollte, meldet, daß der reiche Mann begraben worden sey, und erwähnt kein Wort von dem Begräbnisse des armen Lazarus; alles dieses ist gewiß nicht umsonst geschehen. Die Handlung Jesu Christi, da er die Hand ausstreckte, den Aussätzigen anzurühren, scheint nur denen merkwürdig, welche wissen, daß, nach dem Gesetze, dieses Anrühren verunreinigte. Das Gesetz verbot auch dem Hohenpriester, welcher doch Jesum Christum vorstellte, in ein Haus zu gehen, darinne ein Todter liege; wenn wir nun die Geschichte von Jairi Töchterlein dazu nehmen, so werden uns die kleinen Umstände der Erzählung schon wichtiger.

Es ist besonders, daß, wenn Paulus vom heiligen Abendmahle redet, er immer Jesum den Herrn nennet. Er sagt das Abendmahl des Herrn; ich habe es vom Herrn empfangen, das ich euch gegeben habe; der Herr, in der Nacht, da er verrathen ward; ihr sollt des Herren Tod verkündigen, bis er kommt - des Herrn Kelch - der Leib und das Blut des Herrn - nicht unterscheiden den Leib des Herrn. Paulus muß doch Ursachen gehabt haben, warum er gerade hier immer Jesum den Herrn nennt.

Die evangelische Geschichte erzählt uns den Innhalt verschiedener Vorträge, welche Jesus Christus gehalten hat, als er auf Erden wandelte. Da bemerken wir, daß der Heiland oft schleunig von einer Materie zur andern übergeht, die mit der vorigen gar nicht zusammenzuhängen scheinet; wir glauben blos einzelne übel zusammenhängende Bruchstücke darinnen anzutreffen, und die Ausleger martern sich, den Zusammenhang zu finden. Allein Jesus Christus besaß den ganzen Schatz göttlicher Wahrheiten. Wir haben nur Bruchstücke: unser Wissen ist Stückwerk; wir haben nur einige Tropfen aus diesem Oceane geschöpft; aber in Jesu Christo sind verborgen alle Schätze der Weisheit und der Erkenntniß. Da er nun das Ganze hatte, und wir nur Theile haben; so sprach er auch anders, als wir sprechen. Jesus Christus durchschauete die Herzen derer, zu welchen er redete. So wie neue Gedanken darinne aufkamen, so nahm auch sein Vortrag vermuthlich eine neue Wendung; das innre Triebwerk dieser Methode übersteigt unsern Begriff, und ist ein Eigenthum dessen, der in den Herzen lieset.

Wir finden ein einziges mal, daß der Heiland gelesen habe, und ein einziges mal, daß er geschrieben habe. Was er gelesen habe, finden wir aufgezeichnet, aber was er geschrieben habe, nicht. Die heilige Geschichte erzählt uns, daß auf eine Frage, welche ihm die Pharisäer thaten, er sich zur Erde niedergebücket, und mit dem Finger auf die Erde geschrieben habe, zu zwey verschiedenen malen. Einige unsrer vornehmsten Theologen glauben, daß er keine bedeutende Züge geschrieben habe, sondern daß er nur einige Striche gemacht, ohne andre Absicht, als die, den Pharisäern zu zeigen, daß sie keiner Antwort werth wären. Allein diese Auslegung scheint mir der Weisheit und Würde Gottes nicht völlig angemessen zu seyn. Es ist mir wahrscheinlicher, daß dasjenige, was der Heiland geschrieben, wirklich von Bedeutung gewesen sey.

Alle Evangelisten stellen uns in ihren Geschichten den Heiland dar; aber jeder hat seine ihm eigenthümliche Methode. Marcus beschreibt das Geschlechtsregister JEsu Christi nicht, sondern fängt seine Geschichte mit der Taufe Jesu an. Matthäus leitet sein Geschlecht vom Abraham her; Lucas geht bis zum Adam zurück; und Johannes geht in die Ewigkeiten hinein, und redet von dem Logos, der Gott ist, und Fleisch ward.

Es ist merkwürdig, daß Jesus Christus, vor seiner Auferstehung, sich so oft Menschen-Sohn nennt, weit öfter, als Sohn Gottes. Seit seiner Auferstehung aber hat er sich nicht mehr Menschen-Sohn genannt. Gewis, die Auferstehung hat ihn seiner wahren Menschheit nicht beraubt; er ist noch immer ein Mensch; aber der Name Menschen-Sohn sollte zugleich die Schwachheiten und Leiden anzeigen, denen er sich als Mensch unterworfen hatte. Nachdem aber seine tiefe Erniedrigung vorbey, und er von den Todten auferstanden war, so führte er eine andere Sprache; er hat seitdem oft mit seinen lieben Jüngern gesprochen, hat ihnen die Nothwendigkeit gezeigt, daß er sterben, und sein Blut für die Sünden der Menschen vergiessen müßte; aber er hat sich nicht mehr Menschen-Sohn genannt. Vor seinem Tode sagte er einmal zu seinen Jüngern: des Menschen Sohn muß viel leiden; und nach der Auferstehung sagte er: mußte nicht Christus leiden?

Quelle: Wöchentliche Beyträge zur Beförderung der ächten Gottseligkeit.

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