Christoffel, Raget - Erweise christlicher Bruderliebe gegen die Evangelischen von Locarno.

Christoffel, Raget - Erweise christlicher Bruderliebe gegen die Evangelischen von Locarno.

Der Herzog Maximilian Sforza von Mailand trat im October 1512 den zwölf alten Cantonen1) der Schweiz die Städte und Gebiete von Lugano, Locarno und Domo d'Ossola ab zum Danke, daß ihre Krieger ihn in sein väterliches Erbe wieder eingesetzt. Dadurch wurden die Einwohner dieser Städte und Gebiete unter den Einfluß der Sitten und der Geistesrichtung gestellt, welche in den über sie gebietenden Cantonen herrschten. Von großer Wichtigkeit war dieser Umstand namentlich in religiöser und kirchlicher Beziehung, als die von Zwingli in Zürich mit so großem Nachdrucke und Segen verkündigte evangelische Lehre immer mehr Anhänger gewann und bald in allen Cantonen Anerkennung zu finden schien. Auch in der Lombardei und in diesen der Schweiz abgetretenen Städten und Gebieten begegnen uns deutliche geschichtliche Spuren, die uns beweisen, daß die von Zürich aus verkündigte evangelische Wahrheit freudige Anerkennung fand. Schon durch das Mittelalter hindurch hatte sich in Mailand und in den angrenzenden Gebieten stets eine romfreie, dem Evangelio freundlich zugewandte religiöse und kirchliche Richtung bemerkbar gemacht. Die schweren Leiden, welche die im ersten Viertel des sechszehnten Jahrhunderts hier wüthenden Kriege über die unglücklichen Bewohner dieser herrlichen Ebenen brachten, weckten in denselben eine heiße Sehnsucht nach Trost und nach Erlösung durch das Evangelium. Ein sprechendes Zeugniß für dieses schmerzliche Verlangen haben wir in den Briefen des Augustiners Egidio a Porta aus Como an Zwingli. Gegen Ende des Jahres 1525 schrieb derselbe: „Lange habe ich aus ehrfurchtsvoller Scheue gezaudert, Dir zu schreiben. Jetzt aber, eingedenk, wie Christus, der Sohn Gottes, selbst die Niedrigsten nicht verstieß, nahe ich mich Dir und flehe: „Sei Du mir was einst Ananias dem Paulo“. Aus frommem, freilich unverständigem Eifer nahm ich vor vierzehn Jahren das Augustiner-Kleid; von pelagianischen Irrthümern bethört, wähnte ich durch meine Werke mir die Seligkeit erwerben zu können. Nun hat aber mich Gott niedergeworfen, wie einst den Paulus; und auf meine Frage: „Herr, was willst Du, daß ich thue“? vernahm ich die Antwort: „Gehe zu Huldreich Zwingli, der wird Dir sagen, was Du thun sollst“. Aus diesen Worten schöpfte meine Seele einen himmlischen Frieden, der durch keine menschliche Sprache beschrieben werden kann. Durch Dich wird mich also Gott erretten aus den Stricken der Jäger; doch nicht mich allein, sondern, wie ich es hoffe, auch mehrere meiner Brüder; denn dieselben Männer, deren Frömmigkeit und Gelehrsamkeit alle Achtung verdient, hegen schon längst einen heißen Wunsch und dringen täglich in mich, Dich zu bitten, ja Dich zu beschwören, Du möchtest Dir doch Deinen so gehäuften Geschäften nur ein Stündchen abgewinnen, um an die Vorsteher unseres Ordens zu schreiben und sie durch triftige Gründe bestimmen, daß sie einmal von diesem Worte der Menschensatzungen sich losmachen. Halte ihnen einige Beispiele aus der Schrift vor, aus welchen sie ersehen, wie gottgefällig die Lautere Predigt des Evangeliums sei und welches Mißfallen er dagegen an denjenigen habe, welche dieselbe verfälschen und Menschensatzungen für göttliche ausgeben. Sage ihnen, daß sie den Zorn des Richters der Welt auf sich laden, wenn sie nicht diese unheilbringende Sorge um die zeitlichen Güter von sich werfen, und was Dir sonst noch der Geist eingibt“. Das furchtbare Elend, das in der Lombardei in Folge der Kriegsleiden herrschte, schildert er in folgender Weise: „ Mailand und sein ganzes Gebiet sind durch die unaufhörlichen Kriegszüge völlig verarmt. Selbst die, welche sonst ein mäßiges Vermögen besaßen, sind an den Bettelstab gebracht und darben, geschweige denn die Unzahl derer, die schon vorher arm waren. Nicht zu zählen sind die Weiber, welche sich aus Noth der Schande ergeben. So schwer lastet Gottes Hand auf diesem Volke, daß aus Verzweiflung alles erdenkliche Unrecht begangen wird. Aber durch Gottes Fügung kannst Du unser Retter werden. Schreibe an den Herzog von Mailand und ermahne ihn, nöthigenfalls auch drohend, auf Erlösung seiner Unterthanen vom Geistesdrucke und zugleich vom äußeren Elende bedacht zu sein. Dieses, indem er den Kahlköpfen ihr Geld, das sie doch nur übermüthig macht, wegnimmt; jenes, indem er es verschafft, daß Jeder, soweit es ihm verliehen, das lautere Wort Gottes ungescheut predigen darf; zumal wenn er bereit ist, über seine Lehre nach Gebühr Rede zu stehen. - Ist der Mann schwach genug zu zweifeln, ob dieses wirklich Gottes Wille sei, so blicke er doch um sich her. Steht nicht der Herr selbst da, gegürtet zum großen Werke? Diese deutschen Scharen2) dürsten darnach. Kein Zweifel, Gott bedarf solcher Werkzeuge nicht, um dieses und noch Größeres zu vollbringen. Aber um die Schwachen allmählig in dem wahren Glauben zu kräftigen, hat er, wie ich es vermuthe, Leute dieses Glaubens in solcher Zahl auf Einen Punkt zusammengeführt; uns gibt er sie als Werkzeuge an die Hand. So wird denn die Kraft des Antichristen schnell dahin schwinden“. So heiß sehnten sich die Besseren in der Lombardei und in Italien nach Erlösung vom geistigen und leiblichen Drucke durch die freie Verkündigung des Evangeliums. Dieses Sehnen machte sich namentlich auch in Locarno bemerkbar und blieb von Zwingli nicht unbeachtet. Als daher Zürich im Frühjahre 1530 den Landvogt für diese Herrschaft zu bestellen hatte, ward ein naher Freund des Reformators, Jacob Werdmüller, „ein alter, ernsthafter, tapferer Mann, guter Achtung und alten Herkommens, dem Evangelio sehr günstig und eifrig“ für diese Stelle ausersehen. Demselben ward befohlen, „sich christlich, ehrlich und wohl, wie man ihm vertraue, zu halten und namentlich den Mandaten des göttlichen Wortes halb, wie solche die Herren von Zürich im Brauche und Uebung haben, anzuhangen und nachzukommen“. Bald nach Antritt seiner Stelle schrieb Werdmüller an Zwingli: „Es prediget hier Niemand (nämlich die evangelische Lehre) auch könnte es nicht, wiewohl hier Einer sich befindet, welcher der Schrift berichtet ist, dem ich auch Euer lateinisches Büchlein3) geliehen habe; denn dieser Mönch liest viel im Testamente und sagt: er wolle jetzt nur noch die Episteln Pauli predigen, was die Anderen nicht können. Es war dieses der Carmelitermönch Balthasar Fontana, der im März 1531 folgendes Schreiben an Zwingli und an die Evangelischen deutscher Zunge richtete: „Heil Euch, ihr theuerste Christgläubige, zu deren frommen Händen diese Zeilen gelangen mögen. Nehmet an, ich sei der arme Lazarus im Evangelio oder jene demüthige kananäische Mutter, die sich nur von den Brosamen, welche von den Tischen der Herren fielen, zu sättigen verlangte. Wie David im Knechtsgewande und unbewaffnet zum Priester kam, so flüchte ich mich zu Euch um des Schaubrodes und um der im Allerheiligsten verwahrten Rüstung willen. Schmachtend vor Durst suche ich die lebendige Wasserquelle und sitze als ein Blinder am Wege und rufe ihn an, der die Blinden sehend macht. Schwach und krank harre ich mit der ganzen Sehnsucht meiner Seele auf baldige Erlösung für mich und für mein Vaterland. Wir bitten Euch daher von ganzem Herzen, die reichen Schätze, mit welchen Euch Christus so freigebig gesegnet, nicht karg uns vorenthalten zu wollen. Kein Rechtdenkender wird die angezündete Leuchte unter einen Scheffel stellen. Nur ein Unsinniger wird das zum Handel anvertraute Talent vergraben. Wir sitzen hier in der Finsterniß und bitten unter Thränen und Seufzern Euch, die ihr die Titel und Verfasser der erleuchteten Schriftwerke kennet (denn Euch ist verliehen, die Geheimnisse des Reiches Gottes zu vernehmen) uns die herausgegebenen Bücher der von Gott erwählten Lehrer zu senden, die ihr besitzet. Vorzüglich die sämtlichen Werke des göttlichen Zwingli's, des weitberühmten Luther's, des scharfsinnigen Melanchthon's und des sorgfältigen Oecolampad's. Den Betrag dafür werde ich dem Herrn Landvogt Werdmüller einhändigen. Wohlan denn, ihr Diener des theuersten Königs und der heiligsten Mutter, der Kirche, schaffet nach Kräften, daß eine von Babel in Knechtschaft gehaltene Stadt der Lombardei zur christlichen Freiheit gelange. Wir sind hier zwar nur drei, die sich zu diesem Feldzuge im Dienste der Wahrheit verbunden und verschworen haben. Allein Midian wurde nicht durch die Menge der Tapferen Gideons besiegt, sondern nur durch Wenige, die aber Gott selbst sich dazu erwählte. Wer weiß, ob Gott nicht aus diesem Kleinen, nur unter der Asche glimmenden Funken ein großes Feuer noch anfachen will? Wir wollen säen und pflanzen, der Herr aber wird das Gedeihen schenken. Lebet wohl und glücklich und gedenket unser.“ Locarno, im März 1531. Balthasar Fontana.

Diese evangelische Regung ward zwar durch den unglücklichen Ausgang der Schlacht bei Cappel, in welcher Zwingli fiel, gehemmt und scheinbar unterdrückt. Da Landvogt Werdmüller selbst den gehäßigsten Anfeindungen von Seite der obsiegenden päpstlichen Partei in der Schweiz ausgesetzt war, so konnte er gar nicht daran denken, diese evangelische Regung zu pflegen und zu einer weiteren Entfaltung zu bringen. Aber der Funke glühte unter der Asche verborgen fort, bis eintretende günstigere äußere Verhältnisse und das Wehen des göttlichen Geistes ihn zur hellstrahlenden Flamme anfachte. Im Jahre 1542 ward Joachim Baeldi von Glarus, ein rechtschaffener, der evangelischen Lehre treu ergebener Mann zum Landvogte von Locarno bestellt. Da der Ruf seiner Redlichkeit ihm vorangegangen war, empfingen ihn seine neuen Unterthanen unter den lautesten Freudenbezeugungen. Die freudigen Erwartungen von seiner Amtsführung wurden von ihm vollkommen gerechtfertigt; denn es wird ihm nachgerühmt, wie er Allen, Vornehmen und Gemeinen, Armen und Reichen gleiches Recht hielt; wie er jene frechen Bösewichter, die der bürgerlichen Ordnung Hohn sprachen, an Leib und Leben gestraft habe; wie er endlich in Befolgung der Gesetze den Unterthanen mit eigenem guten Beispiele voranleuchtete. In Allem. war er bescheiden und genügsam. Andere bringen etwa ihre Mußestunden zu mit Hin- und Hersinnen, wie sie mittelst irgend einer Angeberei die Reichen um ihr Geld bringen können; du mit Lesen der heil. Schrift und an: derer guten Bücher. So schrieb ihm ein aufrichtiger Freund. Baeldi fand eine evangelische Gemeinschaft in Locarno vor, die durch einen frommen geistlichen Privatlehrer, Giovanni Beccaria,4) in der Stille gesammelt und erbaut wurde. Der evangelische Landvogt machte sich zur Pflicht, die Gemeinschaft zu unterstützen und zu fördern. Von Zürich ließ er eine bedeutende Zahl Bibeln kommen, und theilte sie unter die Gebildeten aus. So erstarkte diese evangelische Gemeinschaft sowohl an Zahl der Mitglieder, als an innerer Glaubenszuversicht und an Erkenntniß der evangelischen Wahrheit. Aber im gleichen Grade lenkte sie auch die Aufmerksamkeit und die Verfolgungssucht der päpstlichen Partei in der Schweiz, wie in Italien auf sich. Wie verhängnißvoll solches für diese stille evangelische Gemeinschaft war, läßt sich leicht ermessen, wenn wir sehen, wie furchtbar die auf den Rath und auf das Betreiben der Cardinäle Giampietro Caraffa und de Burgos, sowie des Stifters des Jesuitenordens eingeführte und von ihnen geleitete Inquisition gegen die Evangelischen wüthete. Auch der unglückliche Ausgang des Schmalkalderkrieges in Deutschland wirkte entmuthigend auf die Evangelischen in der Schweiz und in Italien, während sich die päpstliche Partei dadurch zur gänzlichen Unterdrückung der evangelischen Lehre ermuthigt und versucht fühlte. Nach Locarno schickten die altgesinnnten Cantone entschiedene Gegner der evangelischen Lehre als Beamten mit dem bestimmten Auftrage, ihre amtliche Stellung zur Unterdrückung der evangelischen Partei und Lehre zu benutzen. Da nun die evangelischen Cantone sich ihrer Glaubensbrüder annahmen, so entzündete sich die confessionelle Zwietracht in der Schweiz an dieser Angelegenheit von Neuem und drohte mehrmals in die Alles zerstörenden Flammen des Bürgerkrieges auszubrechen. Die päpstliche Partei fühlte sich gehoben und befeuert durch die errungenen Vortheile auf den Schlachtfeldern, sowie durch die der evangelischen Lehre feindliche Geistesströmung, die jetzt durch die abendländische Kirche wehte, während die evangelische Partei durch die gleichen Umstände sich entmuthigt fühlte. Somit war auch die Angelegenheit der Evangelischen in Locarno durch den Stand der Parteien in der Schweiz zum Voraus entschieden. Mit der der päpstlichen Kirche eigenthümlichen Consequenz drangen die Gesandten der altgesinnten Cantone darauf, daß die Evangelischen in Locarno entweder unbedingt in den Schoß der römischen Kirche zurückehren oder aber auswandern müßten, während die Gesandten der evangelischen Stände nicht immer mit gleicher Entschiedenheit und mit gleichem Eifer für die Duldung ihrer Glaubensgenossen einstanden. Wohl bewiesen die evangelischen Geistlichen und vor Allen der ehrwürdige Bullinger in Zürich ihre aufrichtigste Theilnahme für diese ihre Glaubensgenossen und bethätigten sich in entschiedenster Weise zum Schutze ihrer Gewissens- und Glaubensfreiheit; aber ihre wohlwollendsten christlichen Bemühungen waren nicht mit dem erwünschten Erfolge bekrönt. Zuerst setzten die altgesinnten Cantone durch, daß Beccaria aus Locarno verbannt wurde. Aber so schmerzlich die Evangelischen diesen ihren treuen Lehrer vermißten, so ließen sie sich dadurch dennoch nicht in ihrem Glauben wankend machen. „Noch sind wir“, schrieben sie den 30. September 1549 an die Prediger von Zürich, „Gott sei Dank, nicht entmuthiget, sondern mit Freuden bereit, für unsern Heiland noch Schwereres zu erdulden. Eines nur schmerzt uns: daß wir nur Ein Leben aufzuopfern haben. Könnten und müßten wir hundertfachen Tod für ihn leiden, lieber thäten wir es, als ihn verleugnen. Mit dem wärmsten Danke anerkennen wir, was Ihr für uns gethan, namentlich Du, verehrungswürdigster Bullinger, der Du keine Kosten, keine Mühe sparen willst, uns zur freien Predigt der evangelischen Wahrheit zu verhelfen. Wohlan denn, theuerste Brüder, leget, wir beschwören Euch, die letzte Hand ans Werk, bändiget jene schlechten Menschen in unserer Gemeinde, daß die Evangelischen nicht länger ihren Verläumdern preisgegeben seien. Verschaffet uns, daß wir einen Hirten haben dürfen, der die Herde mit evangelischer Lehre speise und sie schütze gegen die gierigen Wölfe und blutdürstigen Löwen, die rings auf sie lauern. Hilft uns der Herr nicht durch Euch, so ist es um uns geschehen. Wird uns die freie Ausübung unserer evangelischen Religion gestattet, so dürfte in kurzer Zeit sich die ganze Bürgerschaft der evangelischen Lehre zuwenden. Groß ist bereits die Zahl der Gläubigen, aber einige sind noch schwach und zarter Speise bedürftig. Ist dagegen die freie Religionsübung nicht erhältlich, so bleibt uns nichts übrig, als der Heimath Lebewohl zu sagen.“ Diese freudige Gesinnung und dieser frohe Leidensmuth erfüllte diese evangelische Gemeinde. Auf die Kunde, daß um ihretwillen ein Bürgerkrieg in der Schweiz zwischen den päpstlichgesinnten und den evangelischen Cantonen sich zu entzünden drohe, schrieben sie nach Zürich: „Euren Frieden und Eure Eintracht wollen wir nicht stören. Zeigt Euch aber Gott ohne dieses einen Weg, uns aus dieser Knechtschaft Babels zu befreien, so schaffet es, daß unsere Gemeinde es durch die That spüren möge“. Endlich ward die Entscheidung dieses schwierigen und langwierigen Streites 1554 Schiedsrichtern der unparteiischen Orte Glarus und Appenzell übergeben. Diese entschieden den 24. Nov. 1554 dahin: „Diejenigen, welche nicht zum alten Glauben zurücktreten wollen, sollen bis zur künftigen Fastnacht mit Hab und Gut aus dem Lande ziehen, was sie nicht wegziehen, können sie verwalten lassen; fürohin soll zu Locarno Jedermann beim alten Glauben bleiben“. Die Mehrheit der Evangelischen verstand sich dazu, den Spruch zwar nicht zu billigen, doch die altgesinnten Cantone an der Ausführung desselben nicht zu hindern. Zürich verwarf geradezu den Spruch, erklärte aber: „Um des Friedens willen lassen wir die anderen Stände hierin handeln“. Den 12. Januar 1555 kamen dann die Boten der acht Orte Lucern, Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug, Freiburg, Solothurn und Glarus nach Locarno, um die Bestimmungen des schiedsrichterlichen Spruches zu vollziehen. Die evangelischen Stände glaubten ihre Pflicht gegen ihre Glaubensgenossen in Locarno gewahrt zu haben, wenn sie keinen Theil an dem Vollzug dieses Spruches haben wollten. Anderer Ansicht waren aber die evangelischen Geistlichen, welche dieses Benehmen mit Recht bitter tadelten. „Die Angelegenheit unserer Locarner Brüder“, schrieb Calvin an Bullinger, „hat mit Recht Dich und uns alle mit herber Trauer erfüllt. Eine Schändlichkeit war es für's Erste, daß sie von ihren Herren im Stiche gelassen wurden. Doch eine noch weit schwerere Verschuldung kommt hinzu. Bekenner des Evangeliums lassen sich gefallen, daß in ihrem Namen ihre Glaubensgenossen zu meineidigem Abfalle aufgefordert werden. Hätte man doch lieber die frommen Brüder zehnfachem Henkertode preisgegeben! Eine verkehrte Großmuth ist es, die der Menschenleben schonet, und die dafür die heilige Gotteswahrheit dem Gespötte bloß stellt. Euch aber segne der Herr in Euerm heiligen Eifer, auf daß er durch Euch triumphiere über die Treulosen, die Eure Gewissenhaftigkeit ungerechter Weise Starrsinn schelten, während sie, wie Pilatus, Christum geißeln, um ihn mit dem Kreuze zu verschonen“. Die Gesandten der katholischen Orte ließen zuerst allen zur Herrschaft Locarno gehörenden Dorfschaften und Communen entbieten, auf den fünfzehnten Januar Morgens Abgeordnete mit unbeschränkter Vollmacht nach dem Hauptorte ins Schloß zu schicken. Demnach erschienen auf den bezeichneten Zeitpunkt aus jedem Dorfe die Potestaten samt den Aeltesten und Angesehensten und gaben zu Händen ihrer Oberen auf eine dahinzielende Aufforderung folgende Erklärung: „Wir wollen bei dem wahren, alten, ungezweifelten christlichen Glauben bleiben, in demselben leben und sterben, und bitten unsere Herren, uns dabei zu schirmen“. In gleicher Weise erklärten sich Tags darauf Vormittags die Altgläubigen von Locarno. Dagegen erschienen Nachmittags die Evangelischen vor den Gesandten. Es waren deren an hundert und zwanzig Erwachsene, voran die Männer, dann paarweise die Frauen, ihre Kinder an der Hand oder auf dem Arme. Als ihr Sprecher ihre Glaubensansicht näher zu begründen suchte, riefen ihm die Gesandten zu: „Wir sind nicht da, von euch etwas Anderes zu hören, als: ob ihr von eurem Wesen abstehen wollet, oder nicht. Dies zeigt uns an mit kurzen Worten“! - Nun, so erklären wir“, erwiderte jener, „daß wir bei unserm, wie wir achten, wahren, rechten, christlichen Glauben bleiben und sterben wollen“. „Wohlan“, entgegnete man, „so sollet ihr, laut den gestellten Mitteln, von heute bis zur alten Fastnacht den Flecken und die ganze Grafschaft Locarno geräumt haben, und euch keiner weiteren Gnade versehen“. Noch ward ein Verzeichniß ihrer Namen verlangt, welches sie am anderen Tage unter einem von ihnen entworfenen Glaubensbekenntnisse einreichten. In demselben sprachen sie sich unter Anderem also aus: Wir glauben an Einen Gott, und anerkennen nur Einen wahren Glauben, welcher darin besteht, daß wir unbedingt annehmen, was im alten Testamente enthalten ist und was unser einiger Meister, Fürsprecher und Erlöser, Jesus Christus, und seine heiligen Apostel geschrieben, gepredigt und gelehrt haben, welches Alles im neuen Testamente enthalten; endlich glauben wir auch an die zwölf Artikel des allgemeinen christlichen Glaubens. Wir sind überzeugt, daß hierin Alles begriffen, was zum christlichen Glauben und zu unserm Heile erforderlich ist. Diese Lehre haben wir nicht selbst ersonnen; viele Jahre hindurch ist sie uns von verschiedenen Predigern vorgetragen worden. Sie zu prüfen, haben wir fleißig die heil. Schrift studiert, der Eine in lateinischer, der Andere in der Landessprache, nach der Gnade, die jeder vom Herrn empfangen; mit unablässigem Gebete zu Gott, er möchte mit seinem heil. Geiste unseren Verstand erleuchten, nur das zu glauben, was zu seiner Ehre und zum Heile seiner Gläubigen dienet.

„Schließlich flehen wir zu Euch um Gottes Willen, habt Erbarmen mit uns, deren so viele sind, mit unserer Armuth, unserm Elende, mit unsern armen Frauen und Kindern; wofern es geschehen kann ohne Gefährdung Eures Friedens. Wo nicht, werden wir uns Allem ruhig unterziehen, was Gott durch Eure Hand über uns verhängt.“

Noch am gleichen Abend traf der päpstliche Legat Ottaviano Riverta von Mailand her in Locarno ein. Indem er den Gesandten der katholischen Orte für den Eifer und für den Ernst, den sie zum Schirme des wahren alten christlichen Glaubens bewiesen und den Handel gegen diese ungläubigen Leute so tapfer angegriffen haben, im Namen des Papstes seinen Dank abstattet und sie versichert, daß auch die Venediger ein Gleiches, zum Nutzen gesamter Christenheit, vorgenommen, fügte er noch eine dreifache Bitte bei. Erstens möchten sie die drei Bünde in Hohen Rhätien anhalten, daß sie den Beccaria, der sich bei ihnen aufhalte, zur Bestrafung ausliefern und sodann, daß sie den auswandernden Locarnern nicht gestatten, weder bei ihnen noch bei ihren Unterthanen sich aufzuhalten. Das Gleiche sei auch von Venedig und von Mailand zu erwarten. Zweitens sollen sie den Abziehenden einen Theil ihres Vermögens und ihre Kinder vorenthalten, und diese aus jenem im wahren christlichen Glauben erziehen lassen. Solches ward aber als dem schiedsrichterlichen Spruche zuwider abgelehnt. Nun versuchte der Legat durch Ueberredung und freundliche Vorstellungen die zur Auswanderung Entschlossenen zu bestimmen, von ihrem Vorhaben abzustehen und sich der aufgestellten Ordnung zu unterziehen, indem man ihnen alsdann mit aller Liebe und Freundlichkeit begegnen würde. Er gab ihnen zu bedenken, wie sie um ihrer Religion willen weder in der Herrschaft Venedig, noch im Herzogthum Mailand, noch irgend sonst in Italien Aufnahme finden würden. In Ländern fremder Zunge müßten sie eine Heimath suchen, wo sie weder sich selbst verständlich machen noch die Anderen verstehen könnten. Die dort üblichen und Gewinn bringenden Handwerke kännten sie nicht, oder fänden solche bereits übersetzt; so müßten sie Noth und Mangel leiden, zumal unter ihnen ohnehin so viele Dürftige seien. Durch solche und ähnliche Vorstellungen gelang es ihm, einige Männer, aber keine Frau zu gewinnen. Barbara Muralt sagte ihm freimüthig: „Ihr thut in die gute Speise des Evangeliums das Gift der Abgötterei“. Auf seine Klage schickten die eidgenössischen Boten Häscher, um die freimüthige Frau ins Gefängniß abführen zu lassen. Als sie eintraten, sprach sie schnell gefaßt: „Verweilt nur eine kleine Weile, bis ich mich angekleidet habe“. Indessen entflieht sie durch eine geheime Thür und besteigt einen bereit stehenden Nachen und fährt über den See. Doch mußte wenigstens ein Opfer fallen, um den Blutdurst der römischen Kirche einigermaßen zu stillen. Dazu war ein armer Schuhmacher Nicolao Greco ausersehen, der in gerechter Entrüstung über den ausschweifenden Lebenswandel des Mönchs in der Capelle alla Madonna del Sasso eine unbesonnene Aeußerung gethan, die als Beschimpfung der heil. Jungfrau gedeutet wurde. Nachdem er sechszehn Wochen im Kerker geschmachtet und mehrmals hart gefoltert worden, ward er trotz seiner wiederholten Betheuerung: „Nicht unsere Frau im Himmel habe ich gemeint; ich weiß ja, daß keine Heiligere je geboren worden,“ doch zum Tode verurtheilt und hingerichtet. Hierauf ließen die eidgenössischen Boten durch den öffentlichen Ausrufer verkündigen, daß bis zur alten Fastnacht in Sachen des Glaubens Niemand disputieren noch arguieren solle, bei hundert Kronen Buße oder auch härterer Strafe, je nach der Verschuldung; nach der alten Fastnacht dann sollten alle, die einheimisch geblieben, sich keinerlei neuem Wesen anhängig machen, sondern bei dem alten, wahren christlichen Glauben steif verharren, bei Strafe an Leib, Ehre und Gut. Hierauf kehrten die Gesandten der katholischen Orte wieder in ihre Heimath zurück.

Die evangelische Gemeinde von Locarno hatte inzwischen zwei Abgeordnete aus ihrer Mitte nach Zürich gesandt, welche dort vor der Rathsversammlung erklärten, daß an die achtzig Hausväter unter ihnen samt ihrer Familie entschlossen seien, zur Wahrung des Kleinodes ihres evangelischen Glaubens auszuwandern. Am liebsten würden sie sowohl um des Erwerbes als der Sprache willen auf bündnerischem Gebiete, sei es im Misoccothale oder sei es im Veltlin, sich niederlassen. Daher bitten sie den Rath von Zürich, daß derselbe sich bei dem gerade in Chur versammelten Bundestage5) für sie verwenden wolle, damit ihnen solches gestattet würde. Der zürcherische Rath war nicht allein gleich bereit, dieser Bitte zu willfahren, sondern erklärte den Abgeordneten zu Händen der evangelischen Glaubensgenossen von Locarno, daß auch Stadt und Landschaft Zürich ihnen offen stehen, wenn ihnen das mit gedient sei. Demnach begleiteten sofort zwei angesehene Rathgesandten die locarnischen Abgeordneten nach Chur, wo der versammelte Bundestag auf Verwenden des Ersteren mündlich und schriftlich erklärte: „Eingedenk der vielfältigen Treue, so uns von unsern lieben Eids- und Bundesgenossen von Zürich erwiesen worden, sind wir erbötig, ihnen in ihren Nöthen Leib und Gut zuzusetzen. Wir sind auch willig, ihnen zu Ehren die verwiesenen Locarner anzunehmen an allen Orten und Enden, da sie mögen unterkommen und ihnen kommlich ist. Wir wollen sie auch annehmen als die Unsern, doch mit dem Anhange, daß sie Niemand trotzen6) und ihrer Religion, die sie mit Zürich gleich halten, begnügig seien„. Mit diesem Bescheide, der ihnen schriftlich zugefertigt worden, reisten die locarnischen Abgeordneten nach ihrer Heimath zurück, wo ihre Glaubensbrüder durch denselben sich sehr erfreut und gestärkt fühlten. Allein so wohl gemeint der Beschluß des graubündnerischen Bundestages war, so ließ sich derselbe bei der Selbstherrlichkeit der einzelnen Bünde und Gemeinden7) nur mit Einwilligung derselben durchführen. Nun gehört das Thal Misocco zum oberen oder grauen Bunde, in welchem die päpstlich gesinnte Partei die überwiegende Mehrheit bildete. Als daher die Gesandten der katholischen Cantone von jenem Beschlusse des graubündnerischen Bundestages Kunde erhielten, wandten sie sich auf Betreiben des päpstlichen Legaten Riverta im Geheimen an die Häupter des oberen Bundes mit dem Gesuche, denselben zu hintertreiben oder zu vereiteln. Sofort ließen dann diese hinter dem Rücken des Bundestages von Chur aus ein Verbot an die Bewohner von Misocco und Roveredo ergehen, die vertriebenen Locarner weder in Haus noch Hof aufzunehmen noch ihnen Unterhalt zu geben. Als daher Abgeordnete der Evangelischen von Locarno im Vertrauen auf den Beschluß des graubündnerischen Bundestages sich in Misocco und Roveredo um Wohnungen für die Auswandernden umsehen wollten, mußten sie, in Folge des dort verbreiteten Verbotes der Häupter des oberen Bundes, wieder unverrichteter Sache zurückehren. Die Bestürzung der evangelischen Locarner über dieses ihnen so unerwartete Benehmen war um so größer, da einerseits der ihnen festgesetzte Termin zur Auswanderung bald abgelaufen war und anderseits ihnen andere Wege zur Bethätigung ihres Vorhabens auch versperrt wurden. Auf Betreiben des päpstlichen Legaten Riverta hatte nämlich damals der spanische Statthalter in Mailand ein Mandat folgenden Inhaltes erlassen: „Da aus dem Umgange und den Reden dieser Leute für die Unterthanen hiesiger Herrschaft leicht falsche, verpestete Lehre erwachsen könnte, wird verordnet, allen Personen, weß Standes oder Ranges sie seien, die von den Herren Eidgenossen wegen Ketzerei und falscher Religion verwiesen worden, ist bei Lebensstrafe geboten, binnen drei Tagen nach Bekanntmachung dieses Rufes sich aus der Herrschaft Mailand zu entfernen. In die nämliche Strafe verfallen die Angehörigen der Herrschaft, welche sie beherbergen, mit ihnen verkehren oder ihnen Hülfe oder Vorschub leisten“. In ihrer Bedrängniß wandten sich die Evangelischen von Locarno durch Abgeordnete aus ihrer Mitte an Bullinger und an den Rath von Zürich mit dem Wunsche, sobald die Jahreszeit es erlaube, zu ihnen zu kommen und als eine Gemeinde zusammen bleiben zu dürfen, um sich gegenseitig besser unterstützen und um einen ihrer Sprache kundigen Verkündiger des Evangeliums erhalten zu können. Inzwischen möge Zürich sich bei Graubünden verwenden, daß ihnen bis zum Eintritte der wärmern Jahreszeit in Roveredo und Misocco zu verweilen gestattet würde. Der Rath von Zürich gewährte ihnen diese Bitte und die Bewohner von Misocco und Roveredo gestatteten auf Verwenden angesehener Mitbürger den evangelischen Auswanderern, vorübergehend bei ihnen zu wohnen. So schlug denn die Stunde, in der die glaubenstreuen Locarner für immer der theuren Heimath Lebewohl sagen mußten. Von zweihundert und vier Personen, welche sich im Januar öffentlich zur evangelischen Lehre bekannt hatten, ergriffen am dritten März drei und neunzig den Wanderstab. Muthig und heiteren Sinnes, im Bewußtsein, daß Gott mit ihnen sei, zogen sie aus, gestärkt durch die Fürbitte ihrer evangelischen Glaubensbrüder, welche ihre Glaubenstreue bewunderten. „Jetzt“, schrieb Bullinger am gleichen Tage an Calvin, „jetzt sind die Locarner auf der Wanderschaft begriffen, betet für sie“. „Das soll Euch zum Troste und zur Freude gereichen“, schrieb Besozzo aus Chiavenna, „daß Euer Benehmen in ganz Italien großes Aufsehen erregt, und die Auserwählten in hohem Grade erbaut hat, weil noch kein ähnlicher Fall in unserer Zeit sich zugetragen“. Auch in Deutschland fand die von den evangelischen Locarnern bewiesene Glaubenstreue bei den protestantischen Fürsten, wie bei ihren Unterthanen gerechte Anerkennung. Beim Auszuge schieden sich mehrere Ehegatten von einander, indem der eine Theil zurückblieb, während der andere auswanderte. Einige blieben zurück und übten die katholischen Gebräuche, während sie ihren Glauben im Herzen behielten. Der Zürcherische Landvogt schrieb an seine Oberen darüber: „Liebe Herren, ich spüre täglich noch mehr Christen, die sich still halten und die auch mit der Zeit hinweg wollen. - Ich glaube auch festiglich, daß es nicht möglich sei, daß der christliche Glaube zu Locarno gar ausgereutet werde. Aber der allmächtige Gott wird es vielleicht zu Gutem schicken“.

Anfangs Mai brachen die Ausgewanderten von Roveredo auf über den St. Bernardinberg nach Zürich. Wunderbar von Gott beschützt waren die armen Flüchtlinge auf der mühevollen und gefährlichen Wanderung über das noch mit tiefem Schnee bedeckte Gebirge. Fröhlich und heiter, wie zu einem Feste, zogen sie daher und freuten sich, daß sie gewürdigt seien, zur Ehre Christi etwas zu erdulden. In sieben Tagen legten sie alle, Männer, Frauen und Kinder, die Einen zu Fuße oder zu Pferde, die Andern zu Wagen und zu Schiffe, den Weg bis Zürich zurück. So glücklich verlief diese Reise, daß sie auch an ihrem Gepäcke nicht die geringste Einbuße erlitten. Den 12. Mai und die folgenden Tage trafen in Zürich hundert und sechszehn Seelen ein.8) Hier wurden diese glaubenstreuen Fremdlinge freundlich und liebreich aufgenommen und mit Obdach, mit Hausgeräthen und Betten, sowie mit Korn und Wein aufs freigebigste von ihren Glaubensbrüdern versehen. Es herrschte damals gerade große Theurung, sodaß der Rath den Beschluß faßte, jeder Haushaltung von Bürgern oder Landleuten einen Mütt Korn aus den obrigkeitlichen Vorräthen verabfolgen zu lassen. Dieser Wohlthat wurden auch die Locarner theilhaftig. Ebenso beschloß der Rath, den Geistlichen, 9) welchen sich die evangelischen Ankömmlinge im Einverständniß mit Bullinger wählten, wie ihre Stadtpfarrer aus den öffentlichen Kassen zu besolden. So beeilte sich in Zürich christliche Bruderliebe, diesen glaubenstreuen evangelischen Christen das Los der Verbannung aus der schönen Heimath zu erleichtern und zu versüßen. Aber auch die anderen evangelischen Kirchen der Schweiz brachten zum gleichen Zwecke schöne Opfer christlicher Bruderliebe. So steuerte Bern zwei tausend Gulden, Basel hundert und sechzig Gulden, Neuenberg drei und achtzig und das kleine Biel drei und dreißig und einen halben Gulden. Diese Gaben wurden durch einen Ausschuß der Gemeinde getreulich verwaltet und aus denselben, sowie aus dem Ertrage der Kirchensteuern, die auf jedes Fest gesammelt wurden, nicht allein bedürftige Glieder ihrer evangelischen Gemeinschaft unterstützt, sondern auch andere nothleidende Glaubensbrüder erfreut. Drei Mal schickten sie Almosen nach Tirano an Leonardo Bodetto, der in Veltlin zurückgeblieben war, und sich besonders in Zeiten der Theurung mit seiner zahlreichen Familie kaum durchzubringen vermochte. Auch viele durchreisende Glaubensgenossen, Lombarden, Sicilianer, Franzosen, Waldenser, selbst Spanier und Schotten wurden daraus unterstützt; ja sie errichteten sogar eine eigene Herberge für solche verfolgten durchreisenden Glaubensbrüder. Darum vermachte auch der fromme Engländer Edward Frensham, der im Herbste 1559 in Zürich starb, der Armenkasse der Locarner zehn Kronen. So wurden diese Gaben der Liebe eine Quelle des Trostes und des Segens für viele nothleidende und verfolgte evangelische Christen. Aber auch in anderer Beziehung wurden die verbannten evangelischen Locarner ein Segen für die Stadt und für das Land, die sie gastfreundlich aufgenommen. Ihr Gewerbefleiß, den sie in die neue Heimath hinüber verpflanzten, schlug hier kräftige Wurzeln und wuchs zum Baume heran, der dem Lande zur Zierde gereicht und der Tausenden einen gesicherten Lebensunterhalt und vielen Reichthum gewährt. So segnet der Herr die Glaubenstreue und die Opfer der Bruderliebe, daß sie eine nie versiegende Quelle des Heils für Viele werden. Auch haben Nachkommen dieser evangelischen Ausgewanderten in Staat, Kirche und Schule bis auf unsere Tage die ehrenvollsten Stellen bekleidet und sich große Verdienste um Zürich erworben.

Während die evangelische Gemeinde der Locarner in der neuen Heimath zum Segen derselben aufblühte, traf die alte Heimath der Fluch, welcher stets auf der Verwerfung des Evangeliums ruht. Das Land verwilderte, weil die fleißigen Hände zu seiner Bebauung fehlten. Sittenlosigkeit, Frevel und Verbrechen nahmen überhand, weil die läuternde und heiligende Kraft des Evangeliums dem Volke vorenthalten wurde. Darum heißt es in dem Jahresberichte eines Landvogtes: „Zu Locarno sind viele Diebstähle geschehen, und auch den biederhen Leuten, so Nachts wandeln, das Geld und Anderes genommen, wird, und das neben viele Personen sind, die nichts haben und nichts thun, und aber stets in den Wirthshäusern und im Spielen liegen, und wohl bekleidet gehen“.

1)
Zürich, Bern, Lucern, Uri, Schwyz, Unterwalden, Zug, Glarus, Freiburg, Solothurn, Basel und Schaffhausen. Diese übten ihre Herrschaftsrechte abwechselnd aus durch Landvögte, welche je für zwei Jahre zu dieser Beamtung von ihrer Regierung erkoren wurden.
2)
Georg von Frundsberg hatte zum größten Theile aus eigenen Mitteln ein stattliches Heer von Landsknechten angeworben und sie nach der Lombardei zur Verstärkung dem kaiserlichen Feldherrn von Bourbon zugeführt. Frundsberg und seine Landsknechte waren Lutheraner, er führte eine goldene Schnur mit sich, an der er den Papst in Rom henken wollte.
3)
Entweder den Commentar de veres et falsa religione oder die Schrift „de providentia Dei“. Beide Schriften wurden in Italien viel gelesen und trugen sehr viel zur evangelischen Erweckung in diesem Lande bei.
4)
Er war 1511 zu Caneggio am Langensee geboren; daher er auch oft nach italienischer Sitte der Ganeser oder Canerger heißt.
5)
Bundestag hieß in der politischen Sprache Graubündens die aus den Abgeordneten der politischen Gemeinden bestehende oberste Cantonsbehörde, die anderswo der „große Rath“ hieß.
6)
Trotzen“ so viel als reizen oder „durch Trotz oder Spott“ herausfordern. Die Locarner wurden von der papistischen Partei als Aufrührer und „Wiedertäufer“ verschrien. Daher dieser Anhang.
7)
Der Freistaat Graubünden bestand aus drei selbstherrlichen Bünden, dem „oberen oder grauen Bunde“, dem „Gotteshausbunde“ und dem „Zehn Gerichtenbunde.“ Diese Bünde selbst bestanden aus einer größeren Anzahl selbstherrlicher Gemeinden, von welcher in allen wichtigen Fragen die Entscheidung abhing.
8)
Es waren nämlich in der Zwischenzeit jenen drei und neunzig Glaubenstreuen noch mehrere nachgefolgt; einzelne wanderten, vom Gewissen dazu getrieben, noch später aus.
9)
Diesen Predicanten wollen myn Herren, ohne einige Beschwernis der biderhen Lüten, uß den gemeinen Gütern belohnen und erhalten. Und ist ihm daruf jährlichs uß des Obmanns Amt zu geben bestimmt: An Kernen XVIII Mütt, an Haber II Malter, an Wyn XV Eimer, an Geld L Gulden. Thut zusammen LXXXV Stück.
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