Calvin, Jean - Der Römerbrief - Kapitel 3

Calvin, Jean - Der Römerbrief - Kapitel 3

1 Was haben denn die Juden für Vorteil, oder was nützt die Beschneidung? 2 Fürwahr sehr viel. Zum ersten: ihnen ist vertraut, was Gott geredet hat.

V. 1. Bisher hatte Paulus unwidersprechlich bewiesen, dass die bloße Beschneidung den Juden nichts helfen könne. Und doch ließ sich nicht jeder Unterschied zwischen den Heiden und den Juden, denen ja dies göttliche Zeichen aufgedrückt war, wegleugnen. Unmöglich durfte dieser von Gott selbst geschaffene Abstand für nichtig und bedeutungslos erklärt werden. So galt es noch, diesen Anstoß zu heben. Mochte immerhin der Ruhm, welchen die Juden aus der Beschneidung ableiteten, ein eitler sein, so blieb doch die Frage, wozu denn Gott überhaupt diese heilige Handlung eingesetzt habe, wenn sich nicht irgendeine Frucht derselben aufzeigen ließ? Also beseitigt Paulus einen fragenden Einwurf, den man leicht gegen seine bisherige Aussprache erheben konnte, mit der im Voraus gestellten Gegenfrage: Was haben denn die Juden für Vorteil? Und den eigentlichen Anlass dieser Frage enthüllt die nächste: Was nützt die Beschneidung? Denn eben sie hob ja die Juden über die sonstige Menschheit empor, wie Paulus (Eph. 2, 14) die Zeremonien überhaupt als den Zaun bezeichnete, welcher Juden und Heiden trennte.

V. 2. Fürwahr sehr viel. Damit empfängt das Sakrament die ihm gebührende Ehre, die doch für die Juden keinen Anlass zur Überhebung bot. Denn wenn diejenigen, welche zu Kindern Gottes angenommen werden sollten, mit dem Zeichen der Beschneidung gezeichnet wurden, so lässt sich verstehen, dass sie ihrem Vorzug nicht irgendwelchem Verdienst oder eigener Würdigkeit verdankten, sondern der freien Wohltat Gottes. Sieht man auf die Menschen, so bleiben sie den andern völlig gleich. Sieht man auf Gottes Wohltaten, so lehrt der Apostel, dass nur in ihnen der Vorrang vor den andern Völkern beruhte.

Zum ersten: ihnen ist vertraut, was Gott geredet hat. Viele Ausleger meinen, dass mit diesem scheinbar ersten Stück einer Aufzählung die Rede einen Ansatz nimmt, dessen Fortsetzung vergessen wird. Ich aber finde hier gar nicht den Anfang einer Reihe, sondern „das erste“ soll nur heißen: das wichtigste. In dem Sinne: wenn die Juden nur den einen Vorzug besäßen, dass Gottes Wort ihnen anvertraut ward, so würde dies eine hinreichen, ihre Ausnahmestellung zu begründen. Dabei erscheint bemerkenswert, dass Paulus den Nutzen der Beschneidung nicht im bloßen Zeichen findet, sondern nach dem Worte bemisst. Die Frage lautet: was bringt den Juden das Sakrament? Und die Antwort: Gott hat den Schatz himmlischer Weisheit bei ihnen niedergelegt. Daraus folgt, dass, wenn man das Wort wegnimmt, nichts von Vorzug mehr übrig bleibt. „Was Gott geredet hat“, ist der Inhalt des Bundes, welchen Gott zuerst dem Abraham, dann dessen Nachkommen eröffnete, welcher nachmals durch das Gesetz und die Propheten festgelegt und erläutert wurde. Diese Worte Gottes wurden den Juden anvertraut, damit sie dieselben solange verwahren sollten, als der Herr seine Herrlichkeit unter ihnen wohnen lassen wollte. Dann, zur verordneten Zeit der Austeilung, sollten sie das Wort der ganzen Welt bekanntmachen. Zuerst sollten sie Hüter, danach Verwalter desselben sein.

Es ist nun eine über alles rühmenswerte Wohltat, dass Gott ein Volk der Mitteilung seines Wortes würdigt, so können wir unsere Undankbarkeit gar nicht genug verabscheuen, welche Gottes Wort oft so nachlässig, träge und unehrerbietig aufnimmt.

3 Dass aber etliche nicht daran glauben, was liegt daran? Sollte ihr Unglaube Gottes Glauben aufheben? 4 Das sei ferne! Es bleibe vielmehr also, dass Gott sei wahrhaftig und alle Menschen Lügner; wie geschrieben steht: „Auf dass du gerecht seist in deinen Worten und überwindest, wenn du gerichtet wirst.“

V. 3. Dass aber etliche usw. Zuvor hatte Paulus die Juden und ihr Prunken mit einem leeren Zeichen ins Auge gefasst: und es blieb ihnen dabei kein Fünkchen von Ruhm. Jetzt fasst er Gottes Zeichen selbst ins Auge: und es wird offenbar, dass selbst die Hohlheit seiner Träger seine Kraft nicht zunichte machen kann. Schien der Apostel oben gesagt zu haben, dass jede etwaige Gnadenkraft in dem heiligen Zeichen der Beschneidung durch die Undankbarkeit der Juden verloren gegangen sei, so stellt jetzt eine dem Widerspruch zuvorkommende Frage den Wert der göttlichen Ordnung fest. Dabei befleißigt sich die Rede maßvoller Schonung. Mit Recht hätte gesagt werden können, die Mehrzahl des Volkes habe Gottes Bund verworfen. Um aber diese für jüdische Ohren unerträgliche Härte zu mildern, spricht Paulus nur von „etlichen“.

Sollte ihr Unglaube usw. „Aufheben“ soll heißen: unwirksam machen. Denn die Frage ist nicht bloß, ob der Menschen Unglaube der Wahrheit Gottes insofern zuwider sei, dass sie nicht in sich selbst fest und beständig bleibe, sondern ob der Unglaube bewirken müsse, dass die Wahrheit unter den Menschen ihre Kraft verliere und ihr Ziel nicht erreiche. Der Sinn ist: da doch die Mehrzahl der Juden den Bund gebrochen hat, so müsste wohl durch ihre Untreue der Bund Gottes derartig zerstört sein, dass er unter ihnen jede Frucht verlor. Doch die Antwort lautet: keine menschliche Verkehrtheit kann die Wahrheit Gottes um ihren Bestand bringen. Mag eine Unzahl von Menschen den Bund Gottes gebrochen und mit Füßen getreten haben, so behält dieser selbst doch seine Geltung und beweist seine Kraft, wenn nicht bei jedem einzelnen, so doch in diesem Volke. Seine Kraft besteht darin, dass Gottes Gnade und seine Segnungen für das ewige Leben in Israel noch mächtig bleiben. Das kann ja freilich nicht sein, ohne das die Verheißung der Gnade eine gläubige Aufnahme findet und so der Bund gegenseitig sich schließt. Also spricht unser Satz aus: es hat in diesem auserwählten Volke immer Leute gegeben, welche im Glauben an die Verheißung standen und demgemäß nicht aus dem Gnadenbunde gefallen sind.

V. 4. Es bleibe vielmehr also, dass Gott sei wahrhaftig und alle Menschen Lügner. Mit diesem feststehenden Gegensatz beseitigt Paulus das soeben verhandelte Bedenken. Denn wenn die zwei Dinge zugleich, ja notwendig miteinander bestehen, dass Gott wahrhaftig ist und der Mensch voller Lüge, so folgt, dass Gottes Wahrheit sich durch der Menschen Lüge nicht hindern lassen kann. Gott heißt nun wahrhaftig, nicht bloß, weil er den guten Willen hat, seine Versprechen zu halten, sondern weil er mit unbehinderter Macht erfüllt, was er redet. So er gebeut, so steht es da. Dagegen heißt der Mensch ein Lügner, nicht bloß, weil er oft die Treue bricht, sondern weil seine Natur zur Lüge neigt und die Wahrheit flieht. Der erste Satz bildet das Hauptstück der gesamten christlichen Lebenswahrheit. Der zweite stammt aus Ps. 116, 11, wo David nach seinen Erfahrungen ausruft, dass man etwas Gewisses vom Menschen weder erwarten dürfe noch im Menschen finden könne. Dieser herrliche Spruch birgt einen starken und nötigen Trost. Denn bei der menschlichen Verkehrtheit, welche Gottes Wort verachtet und verwirft, müsste dessen Gewissheit oft in Zweifel geraten, wenn wir nicht dessen uns getrösten dürften, dass Gottes Wahrheit nicht von der Menschen Wahrheit abhängt. Wie stimmt aber damit, was wir oben sagten, dass, um Gottes Gnadenverheißung wirksam zu machen, menschlicher Glaube erforderlich sei, welcher dieselbe aufnimmt? Ist doch Glaube das Gegenteil von Lüge! Die Frage ist schwierig, doch nicht unlösbar: Gott bahnt sich einen Weg durch das Unwegsame, durch die Lügen der Menschen, welche sonst seiner Wahrheit im Wege stehen; er heilt in seinen Erwählten den angeborenen, unwahrhaftigen Unglauben der Natur, und die Widerspenstigen beugen sich unter sein Joch. Unsere Stelle redet also von der fehlerhaften Naturanlage, nicht von Gottes Gnade, welche den Fehler heilt.

„Auf dass du gerecht seist“ usw. Unsere Lüge und Untreue vermag nicht bloß Gottes Wahrheit nicht zu stören, sie muss sie sogar in ein helleres Licht setzen. So bezeugt David (Ps. 51, 6), dass während und weil er selbst ein Sünder ist, Gott immer gerecht und ein billiger Richter bleibt in allem, was er über ihn verhängen mag, und dass er alle Verleumdungen der Gottlosen, welche seiner Gerechtigkeit widersprechen wollen, wird niederschlagen können. Unter den Worten Gottes versteht David seine Gerichte, welche über uns ergehen. – Das zweite Satzglied lautet im hebräischen Texte des Psalms „und rein bleibest in deinem Richten“. D. h. Gottes Tun ist rein und lobenswert, wie er auch immer richten mag. Paulus aber folgt der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, die zu seiner gegenwärtigen Absicht auch besser passte. Wir wissen ja, dass die Apostel in der Anführung von Schriftstellen sich oft ziemlich frei bewegen: es genügte ihnen, wenn ihr Zitat sachlich stimmte. Buchstabenknechte waren sie nicht. Das Psalmwort will nun in unserm Zusammenhange folgendermaßen angewendet sein: wenn jede Sünde der Menschen zur Verherrlichung Gottes beitragen muss, Gott aber in seiner Wahrheit am herrlichsten dasteht, so folgt, dass auch die Hohlheit des menschlichen Wesens mehr dazu dient, Gottes Wahrheit zu bestätigen als zu erschüttern.

5 Ist´ s aber also, dass unsre Ungerechtigkeit Gottes Gerechtigkeit preist, was wollen wir sagen? Ist denn Gott auch ungerecht, dass er darüber zürnt? (Ich rede also auf Menschenweise.) 6 Das sei ferne! Wie könnte sonst Gott die Welt richten? 7 Denn so die Wahrheit Gottes durch meine Lüge herrlicher wird zu seinem Preis, warum sollte ich denn noch als ein Sünder gerichtet werden 8 und nicht vielmehr also tun, wie wir gelästert werden und wie etliche sprechen, dass wir sagen: „Lasset uns Übles tun, auf dass Gutes daraus komme?“ Welcher Verdammnis ist ganz gerecht.

V. 5. Ist´ s aber also, dass unsere Ungerechtigkeit usw. Diese Ausführung gehört nicht eigentlich zur Sache, und doch musste der Apostel sie einschieben, damit es nicht schiene, als habe er den Übelwollenden eine nur zu gern ergriffene Handhabe zur Lästerung geboten. Davids Wort legt ja denen, welche durchaus dem Evangelium eine Schande anhängen wollen, die verleumderische Schlussfolgerung nahe: wenn Gott von den Menschen nichts fordert, als dass er von ihnen verherrlicht werde -, wie kann er dann ihre Sünden strafen, die ja zu seiner Verherrlichung dient? Er stößt sich doch mit Unrecht an einer Sache, die gar keinen Anlass zum Zorn, sondern lediglich zu seiner Verherrlichung bietet. Damit aber niemand glaube, der Apostel trage seine eigene Meinung vor, so sagt er ausdrücklich, dass er lediglich nach Weise der Gottlosen redet. Damit versetzt er mit einem einzigen Worte der menschlichen Vernunft einen schweren Hieb, indem er zu verstehen gibt, dass es ihre Art sei, immer wider die göttliche Weisheit zu bellen. Denn er sagt nicht „nach Weise der Gottlosen“, sondern „auf Menschenweise“. Tatsächlich sind dem Fleische alle Geheimnisse Gottes widersinnig, frech und unbedenklich kämpft es dagegen an, und was es nicht versteht, verfolgt es mit seinem Spott. Wir entnehmen daraus die Mahnung, dass, wer solche Weisheit verstehen will, zuerst seinem eigenen Sinne den Abschied geben und sich ganz dem Gehorsam des Wortes unterwerfen muss. – Das Wort zürnen heißt hier soviel wie richten oder strafen.

V. 6. Das sei ferne! Zur Abwehr der Lästerung greift Paulus nicht sofort nach Gründen, sondern er drückt zunächst seinen Abscheu aus. So wird klar, dass der christliche Glaube nichts mit solchen Tollheiten zu schaffen hat. Dann erst folgt die Widerlegung, doch sozusagen auf einem Umwege. Denn der Apostel verfolgt den Einwurf nicht bis aufs letzte, sondern gibt einfach die Antwort, dass derselbe zu törichten Folgerungen führte. Zum Beweise für die Unmöglichkeit des Einwurfs dient Gottes Gericht: Wie könnte sonst Gott die Welt richten? Da er dies aber tut, so kann er nicht ungerecht sein. Dabei ist gar nicht bloß von der Macht die Rede, die Gott möglicherweise gebrauchen kann und wird, sondern von derjenigen, welche tatsächlich in Lauf und Ordnung aller Dinge widerstrahlt: Gottes Geschäft ist es, die Welt zu richten, d. h. kraft seiner Gerechtigkeit zu leiten, und was ungeordnet ist, in die beste Ordnung zu bringen. Deshalb kann nichts unrecht sein, was er festsetzt. Es scheint eine Anspielung an 1. Mose 18, 25 vorzuliegen, wo Abraham in seiner Fürbitte für Sodom dem Herrn vorhält: „Das sei ferne von dir, dass du, der du aller Welt Richter bist, den Gerechten mit dem Gesetzlosen tötest.“ Dergleichen kann nicht dein Werk sein, noch darf es auf dich fallen. Ähnlich heißt es Hiob 34, 17: „Kann auch, der das Recht hasst, regieren?“ Unter den Menschen gibt es ja häufig ungerechte Richter: sie haben sich widerrechtlich eingedrängt oder sind hinter ihren früheren besseren Stand zurückgegangen. . Bei Gott ist dergleichen ausgeschlossen. Da er Richter von Natur ist, muss er auch gerecht sein: denn er kann sich selbst nicht verleugnen. – Will man außer diesem indirekten Beweis noch einen weiteren, so ließe sich etwa sagen: Dass Gottes Gerechtigkeit in ein helleres Licht rückt, geschieht nicht durch die Natur der Ungerechtigkeit, sondern Gottes Güte überwindet unsere Schlechtigkeit und lenkt sie auf ein Ziel, welches wir selbst nicht suchten.

V. 7. Denn so die Wahrheit Gottes durch meine Lüge usw. Ohne Zweifel wird auch noch dieser Einwurf im Sinne der Gottlosen vorgetragen. Er ist eine Erläuterung des vorigen, und der Apostel musste ihn hinzufügen, wenn nicht sein Unmut mitten in der Rede abbrechen sollte. Der Sinn ist: wenn infolge unserer Falschheit Gottes Wahrheit deutlicher und gewissermaßen fester wird, was ja nur zu höherem Ruhme Gottes beiträgt -, so ist es ganz unbillig, dass als Sünder gestraft werde, der doch nur ein Werkzeug für die Vermehrung der Ehre Gottes ist.

V. 8. Und nicht vielmehr also tun, wie usw. Auch dieses gottlose Gerede würdigt der Apostel keiner Antwort, die doch leicht zu geben gewesen wäre. es lag ja bloß der Trugschluss vor: wenn unsere Übeltaten für Gott Ehre schaffen, und dem Menschen doch nichts mehr am Herzen liegen muss als Gottes Ehre -, so müssen wir Übles tun, damit Gott geehrt werde. Die einfache Antwort lautet: was in sich selbst böse ist, bleibt böse. Dass aber unsere Sünde Gottes Ehre verherrlicht, ist nicht des Menschen, sondern Gottes Werk. Er versteht als ein weiser Künstler unsere Bosheit in seinen Dienst zu zwingen und dahin zu lenken, wohin wir durchaus nicht zielten: auf die Mehrung seines Ruhmes. Die Weise, wie Gott von uns geehrt sein will, hat er vorgeschrieben: Frömmigkeit will er haben, die seinem Worte gehorcht. Wer diese Schranke überspringt, sucht nicht Gottes Ehre, sondern Gottes Schmach. Dass der Erfolg ein besserer ist, ist Werk der göttlichen Vorsehung, nicht der menschlichen Verkehrtheit, der wir es sicherlich nicht zu danken haben, dass Gottes Herrlichkeit nicht verletzt oder gar vernichtet wurde.

Wie wir gelästert werden. Seltsam, dass die so vorsichtige Lehre des Paulus über die verborgenen Geheimnisse Gottes eine solche Verdrehung durch unverschämte Gegner erfahren konnte! Aber niemals hat ja selbst die Gewissenhaftigkeit und Nüchternheit der Knechte Gottes unreine und giftige Zungen zum Schweigen bringen können. So ist es nichts Neues, dass auch heute auf unsere Lehre, die doch – des Zeugen sind nicht allein wir, sondern alle Engel und alle Gläubigen – das lautere Evangelium Christi ist, Hass und Verleumdung der Feinde fällt. Wir können das aber tragen und bleiben bei dem einfachen Bekenntnis der Wahrheit, die Kraft genug besitzt, solche Lügengewebe zu zerreißen. Im Übrigen folgen wir dem Beispiel der Apostel und lassen verkommene und verderbte Menschlein nicht ungestraft den Schöpfer lästern.

Welcher Verdammnis ist ganz recht. Gerecht in doppelter Weise: erstens, weil solch gottloser Gedanke in ihren Sinn kommen und ihre Billigung finden konnte; zweitens, weil sie sich erfrechten, mit solcher Verleumdung das Evangelium zu schmähen.

9 Was sagen wir denn nun? Haben wir einen Vorteil? Gar keinen. Denn wir haben droben bewiesen, dass beide, Juden und Griechen, alle unter der Sünde sind.

V. 9. Nach der Abschweifung kehrt die Rede zum eigentlichen Gedankengang zurück. Damit nämlich nicht die Juden antworten könnten, sie würden ihrer Vorrechte vor den Heiden beraubt, welche doch Paulus selbst soeben hoch gerühmt hatte, muss jetzt die Frage endgültig gelöst werden, ob sie wirklich in irgendeinem Stück besser seien als die Heiden. Nun scheint es ja ein handgreiflicher Widerspruch, dass den Juden jetzt ihre Würde völlig geraubt wird, die kurz zuvor reichliche Anerkennung fand. Aber es scheint nur so. Denn die Vorzüge, welcher Paulus ihnen zuerkannte, liegen außer ihnen, in Gottes Güte, nicht in ihrem eigenen Verdienst. Hier aber ist von der eignen Würdigkeit die Rede, deren sie sich an sich selbst etwa rühmen könnten. Beide Sätze stimmen folglich so trefflich zusammen, dass einer nur die Kehrseite des andern bildet. War doch als Hauptvorzug genannt: ihnen ward vertrauet, was Gott geredet hat. Das aber hatten sie nicht durch ihr Verdienst. Also blieb ihnen nichts, auf das sie vor Gottes Angesicht stolz sein konnten. – Bemerkenswert ist die seelsorgerliche Klugheit, dass der Apostel in dritter Person redete, als er die Vorzüge der Juden rühmte (V. 1. 2); jetzt aber, da es gilt, sie herabzusetzen, schließt er sich selbst ein, um jeden Anstoß zu beseitigen: haben wir einen Vorteil?

Denn wir haben droben bewiesen usw. Dabei ist nicht von einem gewöhnlichen, sondern von einem richterlichen Beweise die Rede. Der Ankläger stellt das Verbrechen unter Beweis, wenn er sich anschickt, mit Zeugnissen und Schlussfolgerungen zu erhärten, dass es geschehen sei. So hat der Apostel das ganze Menschengeschlecht vor Gottes Richterstuhl gezogen, um es unter die gleiche Verdammnis zu beugen. Unter der Sünde sein heißt: mit Recht von Gott als Sünder verurteilt werden und unter dem Fluche stehen, welcher auf der Sünde lastet. Wie die Gerechtigkeit Freisprechung erfährt, so die Sünde den Fluch.

10 Wie denn geschrieben steht: „Da ist nicht, der gerecht sei, auch nicht einer. 11 Da ist nicht, der verständig sei; da ist nicht, der nach Gott frage. 12 Sie sind alle abgewichen und allesamt untüchtig geworden. Da ist nicht, der Gutes tue, auch nicht einer. 13 Ihr Schlund ist ein offenes Grab; mit ihren Zungen handeln sie trüglich. Otterngift ist unter ihren Lippen; 14 ihr Mund ist voll Fluchens und Bitterkeit. 15 Ihre Füße sind eilend, Blut zu vergießen; 16 auf ihren Wegen ist eitel Schaden und Herzeleid, 17 und den Weg des Friedens wissen sie nicht. 18 Es ist keine Furcht Gottes vor ihren Augen.“

V. 10. Wie denn geschrieben steht. Bisher hat Paulus Vernunftgründe aufgerufen, um den Menschen ihre Sündhaftigkeit zu beweisen. Jetzt fügt er einen Autoritätsbeweis hinzu: ein solcher wiegt ja bei den Christen am schwersten, wenn sie nur Gottes alleinige Autorität anerkennen. Hier mögen sich die Lehrer der Kirche über ihre Pflicht unterrichten lassen. Denn wenn Paulus keine Lehre vorträgt, ohne sie mit einem Schriftbeweise zu bekräftigen, so müssen wir dies noch in weit höherem Maße so halten: denn wir haben ja nur den Auftrag, das Evangelium zu predigen, welches wir durch Vermittlung des Paulus und anderer Zeugen überkommen haben.

Da ist nicht, der gerecht sei. In der Anordnung der Sprüche, die er übrigens ziemlich frei, mehr nach dem Sinne als genau nach dem Buchstaben anführt, scheint der Apostel den Gesamtgehalt der Ungerechtigkeit, die nach dem Urteil der Schrift im Menschen steckt, vorangestellt zu haben. Dann lässt er die Früchte der Ungerechtigkeit Stück für Stück folgen. Zuerst (V. 11): da ist nicht, der verständig sei. Den Beweis für diesen Unverstand liefert der folgende Satz: da ist nicht, der nach Gott frage. Denn ein noch so gebildeter Mensch, hinter dessen Wissen keine Erkenntnis Gottes steckt, ist hohl. Alle Wissenschaften und Künste, die ja an sich selbst gut sind, werden ohne dieses Fundament eitel. Weiter (V. 12) folgt: da ist nicht, der Gutes tue. Dieser Satz deutet auf den Verlust der menschlichen Gutherzigkeit. Gotteserkenntnis ist das beste Band der Menschen untereinander: denn der gemeinsame Vater einigt, die sonst zerstreut sind. Unkenntnis Gottes hat unmenschliches Wesen im Gefolge: keiner kümmert sich mehr um den andern, jeder liebt und sucht nur sich selbst. Gegensätzlich wird hinzugefügt (V. 13): ihr Schlund ist ein offenes Grab, d. h. ein Abgrund, der die Menschen verschlingen will. Das ist mehr, als wenn der Apostel etwa von „Menschenfressern“ geredet hätte. Wir haben hier vielmehr das Übermaß der Ungeheuerlichkeit, dass eine Menschenkehle wie ein Schlund gedacht ist, der ganze Menschen mit einem Male hinab schlingen kann. Eben dahin zielen die folgenden Sätze: mit ihren Zungen handeln sie trüglich; Otterngift ist unter ihren Lippen. Wenn es weiter heißt: ihr Mund ist voll Fluchens und Bitterkeit, so steht dies eigentlich im Gegensatz zur vorigen Aussage. Aber es soll deutlich werden, dass die Gottlosen nach jeder Richtung Bosheit ausatmen. Reden sie sanft, so ist es Täuschung, und unter Schmeichelreden bieten sie Gift aus. Schütten sie offen aus, was sie im Herzen tragen, so kommt Fluch und Bitterkeit hervor. Ganz besonders passend ist (V. 16) der alsbald folgende Spruch aus Jesaja: auf ihren Wegen ist eitel Schaden und Herzeleid. Das ist ein anschauliches Bild mehr als barbarische Wildheit, welche, wohin sie tritt, nur öde Wüsteneien zurücklässt. Weiter heißt es (V. 17): den Weg des Friedens wissen sie nicht; denn sie haben sich dermaßen an Räubereien, Gewalttaten, Unrecht, Grausamkeit und Rohheit gewöhnt, dass sie verlernt haben, irgend etwas freundlich und gütig zu tun. Zum Schluss (V. 18) wird mit einem andern Worte wiederholt, was wir schon anfangs sagten, dass alle Laster aus der Verachtung Gottes hervorgehen. Ist die Furcht Gottes der Weisheit Anfang, so bleibt nichts mehr richtig und zuverlässig, sobald man davon weicht. Sie ist ein Zügel unserer Bosheit: fehlt derselbe, so stürmen wir vorwärts in zügelloses Laster. – Doch damit niemand glaube, dass diese Bibelstellen unpassender weise aus dem Zusammenhang gerissen seien, wollen wir jede einzelne in ihrem ursprünglichen Zusammenhang erwägen. Ps. 14, 1 sagt David: die Verkehrtheit der Menschen sei so ausgebreitet, dass Gott bei genauer Betrachtung auch nicht einen einzigen Gerechten finden konnte. Da nun Gott nichts zu entgehen vermag, muss das Verderben das gesamte Menschengeschlecht durchdringen. Der Schluss des Psalms redet nun freilich von Israels Erlösung: aber wir werden bald zeigen, wie und inwieweit die Heiligen dem allgemeinen Verderben enthoben werden. In den andern Psalmen klagt David über die Schlechtigkeit seiner Feinde: nun steht er aber mit den Seinen als Vorbild des Reiches Christi da -, unter der Gestalt seiner Feinde erscheinen also alle, welche fern von Christus, von seinem Geist sich nicht leiten lassen. Jesaja deutet mit klaren Worten auf Israel: die gegen dieses erhobene Anklage trifft aber noch viel mehr auch die Heiden. Was folgt aus dem allen? Dass ohne Zweifel alle diese Aussagen beschreiben, wie der Mensch von Natur ist, wenn er sich selbst überlassen bleibt. So sind nach dem Zeugnis der Schrift alle, die nicht durch Gottes Gnade wiedergeboren wurden. Der Zustand der Heiligen würde dabei um nichts besser sein, wenn ihre Sündhaftigkeit nicht Heilung erfahren hätte. Damit sie aber nicht vergessen, dass sie von Natur auf der gleichen Stufe stehen, müssen sie in den Überresten des Fleisches, welche sie stetig umgeben, den Samen aller Sünden noch immer spüren, der unaufhörlich seine Früchte bringen würde, wenn die Abtötung es nicht hinderte. Und diese verdanken sie nicht ihrer Natur, sondern der Barmherzigkeit des Herrn. Nun ist allerdings nicht jeder Mensch mit allen hier aufgeführten Fehlern behaftet. Dass dieselben trotzdem mit Fug und Recht der menschlichen Natur zugeschrieben werden müssen, wurde zu 1, 26 ausgeführt.

19 Wir wissen aber, dass, was das Gesetz sagt, das sagt es denen, die unter dem Gesetz sind, auf dass aller Mund verstopft werde und alle Welt Gott schuldig sei; 20 darum, dass kein Fleisch durch des Gesetzes Werke vor ihm gerecht sein kann; denn durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.

V. 19. Wir wissen aber usw. Jetzt bleiben die Heiden außer Betracht, und die soeben angeführten Sprüche werden ausdrücklich den Juden zugeschoben. Diese waren ja von wahrer Gerechtigkeit ebenso weit entfernt wie die Heiden; aber da sie ihre persönliche Unheiligkeit hinter dem besonderen Bunde Gottes, der sie zum auserwählten Volke machte, zu verstecken suchten, so war es nötig, sie besonders scharf anzufassen. Der Apostel kannte die geläufige jüdische Ausflucht, dass man die Sprüche der Schrift über die allgemeine Sündhaftigkeit des menschlichen Geschlechts allein auf die Heiden bezog. Darum erinnert er daran, dass die Schrift sich doch an die Juden wendet: sie gehören also mit in den allgemeinen Haufen, und das Urteil trifft sie sogar ganz besonders. Wem galt denn das Gesetz sonst, und wen anders wollte es unterweisen als die Juden? Was bezüglich anderer Menschen gelegentlich darin vorkommt, ist Nebensache: zugeschnitten ist die Lehre des Gesetzes auf seine eigentlichen Jünger. Die Juden stehen unter dem Gesetz, weil für sie das Gesetz bestimmt war und also auf sie besonders zielte. Unter „Gesetz“ werden dabei auch die Weissagungen, überhaupt der ganze Inhalt des Alten Testaments verstanden.

Auf dass aller Mund verstopft werde. D. h. jede Ausflucht und Entschuldigung soll abgeschnitten werden. Das Bild erinnert an einen Gerichtsverhandlung: ein Angeklagter, der wirklich etwas zu seiner Verteidigung vorzubringen hat, erbittet sich das Wort, um sich von falschem Verdachte zu befreien; fühlt er sich aber im Gewissen geschlagen, so muss er schweigen und still seine Strafe erwarten: und schon jenes notgedrungene Schweigen spricht ihm das Urteil. Den gleichen Sinn hat Hiob 40, 4: „Ich will meine Hand auf meinen Mund legen.“ – Eine weitere Auslegung unseres Wortes bietet die nächste Wendung: und alle Welt Gott schuldig sei. Dem ist der Mund verstopft, der sich so im Gerichte gefangen sieht, dass jedes Entweichen unmöglich ist.

V. 20. Des Gesetzes Werke. Was hier unter „des Gesetzes Werke“ zu verstehen ist, haben selbst sehr kundige Leute sehr verschieden dargestellt. Die einen verstehen darunter die Beobachtung des ganzen Gesetzes, die andern wollen es allein auf die Einhaltung der Zeremonien beziehen. Die Vertreter der erstgenannten Anschauung berufen sich vor allem auf das Wort „Gesetz“, das eine Einschränkung nicht vertrage. Ich bin der Ansicht, dass dies Wort hier freilich eine andere Aufgabe hat: Unsere Werke sind vor dem Herrn soweit gerecht, als wir ihm durch sie Dienst und Gehorsam zu leisten trachten. Um nun allen unsern Werken die Fähigkeit, uns gerecht zu machen, abzusprechen, nennt Paulus gerade die Werke, die das noch am ehesten vermöchten, wenn es überhaupt ginge. Denn am Gesetz hängen doch die Verheißungen, ohne die unsere Werke gar keinen Werkt vor Gott hätten. Paulus braucht also das Wort „Gesetz“, weil in ihm allenfalls unsere Werke einen Wert gewinnen könnten. Selbst die Scholastiker wussten noch darum, dass unsere Werke nicht aus sich, sondern im Zusammenhang mit Gottes Bund verdienstlich sein könnten. Sie bedachten dabei freilich nicht, dass diese unsere Werke befleckt sind und deshalb tatsächlich keinerlei Verdienst begründen; aber der oben genannte Grundsatz ist richtig. Es ist deshalb auch wohlbegründet, dass Paulus hier nicht von Werken schlechthin, sondern von des Gesetzes Werken redet. Paulus wendet sich hier offenbar gegen Leute, die das Volk mit einem falschen Vertrauen auf die Zeremonien irreführten. Um diesem Irrtum entgegenzutreten, beschränkt er sich aber nicht auf die Frage nach dem Wert der Zeremonien, sondern fragt nach dem ganzen Gesetz. Dafür ist der ganze Zusammenhang, den Paulus bisher verfolgt hat und auch weiter verfolgt, ein Beweis. Aber auch viele einzelne Stellen führen auf das gleiche Ergebnis. Es geht doch immer wieder um den Hauptgrundsatz: alle Menschen werden ohne jede Ausnahme durch das Gesetz der Ungerechtigkeit überführt und beschuldigt. Der Gegensatz, der alles durchzieht, ist doch der zwischen der Gerechtigkeit aus den Werken und dem Schuldzustand, der aus unserer Übertretung folgt. – Unter Fleisch schlechthin werden die Menschen verstanden. Nur wirkt der Ausdruck noch umfassender, so wie etwa: kein Sterblicher.

Denn durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde. Der Beweis vollendet sich durch den Hinweis auf das Gegenteil: Gerechtigkeit kann das Gesetz nicht bringen, weil es uns der Sünde und der Verdammnis überführt. Aus dem gleichen Brunnen quillt nicht Leben und Tod. Indessen bleibt es eine unangetastete Wahrheit, dass das Gesetz an sich zur Gerechtigkeit gegeben ward und der Weg zum Leben ist. Aber unsere Sünde und Verderbtheit macht, dass dies Ziel nicht erreicht werden kann. So vermag das Gesetz nur dem Menschen seine Sünde zu enthüllen und ihm die Hoffnung der Seligkeit zu nehmen. Dabei wollen wir nur noch anmerken: wen das Gesetz zum Sünder stempelt, der ist aller und jeder Gerechtigkeit bar. Wenn die römischen Kirchenlehrer eine halbe Gerechtigkeit erdichten, zu welcher die Werke wenigstens einen Teil beitragen sollen, so ist das ein gottloses Gerede.

21 Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart und bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. 22 Ich sage aber von solcher Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesum Christum zu allen und auf alle, die da glauben.

V. 21. Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit usw. Ob man „Gerechtigkeit Gottes“, wie die Worte im griechischen Text heißen, übersetzen soll: „die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt“ oder „die Gerechtigkeit, welche Gott uns schenkt“ – ist eine untergeordnete Frage (vgl. auch zu 1, 17). Denn auch in letzterem Falle steht fest, dass die von Gott dem Menschen geschenkte Gerechtigkeit, welche allein als solche vor Gott gilt und Anerkennung findet, offenbart wurde ohne Zutun d. h. ohne Mithilfe des Gesetzes. Und bei diesem Gesetz muss man an die Werke insgesamt denken, deren Verdienst also in jedem Falle ausgeschlossen bleibt. Die Werke erscheinen auch nicht im Verein mit der Barmherzigkeit Gottes wenigstens als ein Nebengrund unserer Gerechtigkeit. Jeder Gedanke an sie bleibt völlig ausgeschlossen, und Gottes Erbarmen bildet den alleinigen Grund. Nun weiß ich freilich, dass Augustinus 1) und viele neuere Lehrer, welche damit eine besondere Weisheit entdeckt zu haben glauben, die „von Gott geschenkte Gerechtigkeit“ als die Gnadengabe der Wiedergeburt deuten, welche deshalb ein Geschenk der freien Gnade sein soll, weil Gottes Geist es ist, der ohne irgendein vorhergegangenes Verdienst in uns die Erneuerung schafft. Werkes des Gesetzes sollen deshalb davon ausgeschlossen sein, weil die Menschen aus eigner Kraft, abgesehen von der geschenkten Erneuerung, kein Verdienst erwerben können. Aber der Apostel schließt aus dem Handel der Rechtfertigung alle und jede Werke aus, auch diejenigen, welche Gott in den Seinen wirkt. Das wird der Zusammenhang der Rede vollends deutlich machen. Denn Abraham (4, 2) war zu der Zeit, von welcher Paulus sagt, er sei nicht durch Werke gerecht geworden, ohne Zweifel wiedergeboren und vom Geiste Gottes getrieben. Aus der Rechtfertigung des Menschen scheiden also nicht bloß die Werke der so genannten natürlichen Moral aus, sondern auch die Werke der Gläubigen. Wenn ferner als Beschreibung der Gerechtigkeit (4, 6-7) der Spruch dasteht: „Selig sind die, welchen ihre Ungerechtigkeiten vergeben sind“ – so ist von gar keinen Werken irgendwelcher Art die Rede, sondern mit Ausschluss alles Verdienstes der Werke erscheint als ein Grund der Gerechtigkeit die Vergebung der Sünden. Nun meint man allerdings, es stimme ganz gut zusammen, dass der Mensch durch den Glauben und Christi Gnade gerechtfertigt werde -, und dass er doch die Rechtfertigung auch durch Werke erlange: denn die Werke erwüchsen ja aus der Erneuerung des Geistes, und diese wieder verdanken wir der göttlichen Gnade und empfangen sie durch den Glauben. Aber Paulus hegt viel tiefere Gedanken: er weiß, dass die Gewissen nicht stille werden, bis sie allein in Gottes Erbarmen ruhen. So kann er (2. Kor. 5, 19-21) sagen: Gott war in Christus und schaffte der Welt Versöhnung und Gerechtigkeit -, und kann erläuternd hinzufügen: dies geschah dadurch, dass er ihnen ihre Sünde nicht zurechnete. So stellt er auch im Galaterbrief (3, 12) das Gesetz in einen Gegensatz zum Glauben: es kann nicht Gerechtigkeit schaffen, weil es das Leben nur denen verspricht, welche tun, was es gebietet.

Nun fordert aber das Gesetz nicht nur einen Schein- und Buchstabendienst, sondern völlige Liebe zu Gott. Daraus folgt, dass die Gerechtigkeit des Glaubens für irgendwelches Verdienst der Werke keinen Raum lässt. Es ist also eine ganz oberflächliche Rede, wenn man sagt: wir würden in Christus gerechtfertigt, weil wir als Glieder Christi durch seinen Geist erneuert werden; wir würden durch den Glauben gerechtfertigt, weil wir durch den Glauben dem Leibe Christi eingefügt werden; wir würden aus Gnaden gerechtfertigt, weil zuvor Gott in uns nichts anderes fand als Sünde. Vielmehr: wir empfangen unsere Rechtfertigung in Christus, weil sie außer uns liegen muss; wir empfangen sie durch den Glauben, weil wir uns allein auf Gottes Barmherzigkeit und die Zusagen seiner freien Gnade stützen müssen; wir empfangen sie umsonst, weil Gott uns dadurch mit sich versöhnt, dass er unsere Sündenschuld begräbt. Bei dem allen darf man nun durchaus nicht bloß an den Anfang des Gerechtigkeitsstandes denken, wie manche Träumer wollen. Denn der Spruch: „Selig sind, welchen ihre Ungerechtigkeiten vergeben sind“ – traf doch auf David noch immer zu, als er sich schon längst im Dienste Gottes geübt hatte. Und Abraham, der als ein Muster seltener Heiligkeit dastand, konnte noch 30 Jahre nach seiner Berufung kein Werk aufweisen, dessen er sich vor Gott rühmen durfte: dass er der Verheißung glaubt, wird ihm zur Gerechtigkeit gerechnet. Diese Predigt des Paulus, dass Gott die Menschen rechtfertigt, indem er ihnen die Sünden vergibt, soll in der Kirche stetig widerklingen. Der Friede des Gewissens, den jeder Seitenblick auf die Werke stören kann, soll eben nicht bloß einen Tag anhalten, sondern das ganze Leben. So folgt, dass wir bis zum letzten Atemzuge auf keine andere Weise gerecht sein können, als dass wir allein auf Christus blicken, in welchem Gott uns zu seinen Kindern angenommen hat, und in welchem wir ihm angenehm sind. Aus dem allen lässt sich ersehen, wie falsch der Vorwurf ist, dass wir das Wörtlein „allein aus Gnaden“ erst in die Bibel hineingelesen hätten, welches doch so nicht darin stünde. Liegt aber die Gerechtigkeit einerseits nicht im Gesetz, andererseits auch nicht in, sondern außer uns -, so muss sie wohl der Gnade allein zugeschrieben werden. Hängt sie aber allein an der Gnade, so auch allein am Glauben. – Das Wörtlein nun könnte einfach einen Gegensatz des Gedankens einleiten. Besser aber wird es noch sein, an einen wirklichen Fortschritt der Zeit zu denken: jetzt, nachdem Christus im Fleische erschienen ist und das Evangelium von ihm gepredigt wird, ist die Offenbarung der Glaubensgerechtigkeit vorhanden. Deshalb muss sie doch vor Christi Ankunft nicht gänzlich verborgen gewesen sein. Man muss eben eine doppelte Kundgebung der Gerechtigkeit unterscheiden: die eine geschah bereits im Alten Testament und erfolgte durch Wort und Sakramente; die andere geschieht im Neuen Testament: sie fügt zu den Verheißungen und heiligen Wahrzeichen die wesenhafte Erfüllung in Christi Person. Außerdem ist auch die Deutlichkeit der Offenbarung im Evangelium größer.

Bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. Dieser Zusatz soll dem Schein entgegenwirken, als stünde die Austeilung der frei geschenkten Gerechtigkeit durch das Evangelium im Widerspruch mit dem Gesetz. Paulus hat gesagt, die Glaubensgerechtigkeit bedürfe nicht des Zutuns des Gesetzes. Jetzt gesteht er zu, dass sie eine Bestätigung durch dessen Zeugnis wohl empfangen kann. Weist nun das Gesetz auf die frei geschenkte Gerechtigkeit hin, so kann es nicht dazu gegeben sein, die Menschen eine wirklich erreichbare Gerechtigkeit aus Werken zu lehren. Solcher Gebrauch des Gesetzes wäre ein Missbrauch. – Sucht man einen Beweis für diese Lehre, so mag man das ganze Alte Testament durchgehen: dort wird man finden, dass dem aus Gottes Reich getriebenen Menschen nur übrig blieb, auf die Erlösung zu hoffen, welche die erste evangelische Verheißung (1. Mose 3, 15) in dem gesegneten Samen suchen lehrte, der den Kopf der Schlange zertreten und den Völkern Segen eröffnen sollte. Weiter wird man merken, wie die Gebote uns unsere Ungerechtigkeit enthüllten und wie die Opfer und heiligen Darbringungen darauf hindeuten, dass Genugtuung und Reinigung allein in Christus werde zu finden sein. Kommt man dann zu den Propheten, so wird man einen wahren Reichtum von Zusagen freier Gnade entdecken.

V. 22. Ich sage aber von solcher Gerechtigkeit usw. Es folgt nun in wenigen Worten eine genauere Beschreibung der Rechtfertigung: sie hat ihren Sitz in Christi Person und wird durch den Glauben ergriffen. Hier werden in geordneter Folge noch mancherlei Wahrheiten deutlich. Zuerst: in der Frage nach unserer Gerechtigkeit entscheidet kein menschliches Urteil, sondern allein Gottes Gericht, welches nur eine ganz vollkommene Rechtschaffenheit und einen restlosen Gehorsam gegen das Gesetz gelten lassen wird. Da aber kein Mensch solche Leistungen vollbringen kann, so sind sie alle in sich selbst ohne Gerechtigkeit. Zweitens tritt dann Christus auf den Plan, der einzig Gerechte, welcher seine Gerechtigkeit uns zuspricht und uns dadurch gerecht sein lässt. Jetzt erkennen wir, wie die Gerechtigkeit des Glaubens Christi Gerechtigkeit ist. Wenn wir gerechtfertigt werden, so ist die treibende Kraft dafür Gottes Erbarmen; der Grund, welcher die Rechtfertigung ermöglicht, ist Christus; das im Glauben ergriffene Wort ist das Mittel. Nun ist klar, weshalb es heißt, dass der Glaube uns rechtfertige: er ist das Mittel und Werkzeug, welches Christus ergreift, in welchem die Gerechtigkeit uns zuteil wird. Nachdem wir Christi Genossen wurden, ist nicht bloß unsere Person gerecht, sondern auch unsere Werke werden vor Gott gerecht geschätzt: denn was an ihnen Unvollkommenes bleibt, findet seine Deckung durch Christi Blut. Jetzt erst werden die nur bedingungsweise gegebenen Verheißungen ebenfalls durch Gottes Gnade für uns erfüllt: denn Gott kann unsere Werke für vollkommen ansehen, seit die freie Vergebung die Mängel ersetzt.

Zu allen und auf alle, die da glauben. In feierlicher Wiederholung drückt der Apostel immer wieder mit andern Worten aus, was wir schon wissen, dass allein Glaube erfordert wird. Damit fällt auch jeder äußerliche Unterschied zwischen den Gläubigen: es ist gleichgültig, ob sie Juden oder Heiden sind.

23 Denn es ist hier kein Unterschied: sie sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten, 24 und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, so durch Christum Jesum geschehen ist, 25 welchen Gott hat vorgestellt zu einem Gnadenstuhl durch den Glauben in seinem Blut, damit er die Gerechtigkeit, die vor ihm gilt, darbiete in dem, dass er Sünde vergibt, welche bisher geblieben war unter göttlicher Geduld; 26 auf dass er zu diesen Zeiten darböte die Gerechtigkeit, die vor ihm gilt; auf dass er allein gerecht sei und gerecht mache den, der da ist des Glaubens an Jesum.

V. 23. Es ist hier kein Unterschied. Alle ohne Ausnahme sollen ihre Gerechtigkeit einzig in Christus suchen. Nicht darf sich der eine hierhin, der andere dorthin wenden: alle müssen den Weg des Glaubens gehen, weil sie als Sünder keinen Grund zum Ruhm vor Gott haben. Es bleibt auch kein Raum für eine halbe Gerechtigkeit: Paulus nimmt dem Sünder jeglichen Ruhm. So könnte er nicht sprechen, wenn wir halb durch unsere Werke, halb durch Gottes Gnade gerechtfertigt würden. Wo überhaupt Sünde sich findet, da ist solange keine Gerechtigkeit, bis Christus den Fluch hinweg nimmt. Deshalb heißt es Gal. 3, 10-13: „die mit des Gesetzes Werken umgehen, die sind unter dem Fluch … Christus aber hat uns erlöset von dem Fluch des Gesetzes.“ – Ruhm, den sie bei Gott haben sollten, ist ein solcher, den Gott ihnen zusprechen könnte. Wie es Joh. 12, 43 heißt: „Sie hatten lieber Ruhm bei Menschen als Ruhm bei Gott.“ So werden wir wiederum von menschlichem Beifall hinweg auf Gottes Gericht gewiesen.

V. 24. Und werden ohne Verdienst gerecht. Da den Menschen, welche von Gottes gerechtem Gericht getroffen werden, nichts bleibt als Verderben, so müssen sie die Rechtfertigung bei der freien Gnade suchen. Christus kommt unserm Elend zu Hilfe, teilt sich den Gläubigen mit und lässt sie in seiner Person alles finden, was ihnen selbst fehlt. In der ganzen Bibel steht fast kein anderer Spruch, der so trefflich die Kraft der Gerechtigkeit bezeugt. Ohne unser Verdienst, aus seiner Gnade spricht uns Gott gerecht. Der einfache Gegensatz von Gnade und Verdienst hätte auch genügt: aber der doppelte Ausdruck prägt umso tiefer ein, dass es sich nicht um eine Halbheit handelt, sondern dass Gottes Erbarmen ganz allein eine volle Gerechtigkeit schafft.

Durch die Erlösung usw. Das ist der tragende Grund unserer Gerechtigkeit, dass Christus durch seinen Gehorsam dem Gerichte des Vaters Genüge geleistet und als unser Stellvertreter uns von der Herrschaft des Todes befreit hat, die uns gefangen hielt. Durch sein sühnendes Opfer ward unsere Schuld getilgt. Daraus lässt sich von neuem ersehen, dass unsere Rechtfertigung durchaus nicht als eine innerliche Erneuerung vorgestellt werden darf. Denn wenn Gott uns als gerecht gelten lässt, weil ein Preis für uns entrichtet ward, so versteht sich ja von selbst, dass wir anderswoher entlehnen, was man in uns nicht finden kann. Was jene „Erlösung“ bedeutet und worauf sie zielt, führt Paulus sofort weiter aus: wir werden mit Gott versöhnt. Denn Christus wird (V. 25) eine „Sühne“, oder besser (damit der Anklang an das alttestamentliche Vorbild deutlicher werde) ein „Sühnopfer“ genannt. Was heißt das aber anders, als dass wir dadurch gerecht werden, dass Christus uns einen gnädigen Vater schafft? Aber diese Worte fordern genauere Erwägung.

V. 25. Welchen Gott hat vorgestellt usw. Herrlicher Lobpreis der Gnade, welche aus freiem Triebe einen Weg suchte und fand, unsern Fluch zu bannen! Unser Wort deckt sich ganz mit dem Spruche (Joh. 3, 16): „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab.“ Den er längst der Welt zum Mittler bestimmt hatte, hat Gott zu seiner Zeit öffentlich vorgestellt. Das Wort Gnadenstuhl erinnert daran, dass uns in Christus wahrhaftig geschenkt wird, was der Alte Bund im ahnungsvollen Schattenbilde darstellte. Paulus will uns damit einprägen, dass Gott, abgesehen von Christus, Zorn gegen uns hegt; durch Christus aber kommt die Versöhnung zustande, indem seine Gerechtigkeit uns Gott angenehm macht. Gott verwirft ja an uns nicht sein eignes Werk, das, was er selbst ursprünglich geschaffen hat. Er verwirft vielmehr unsere Unreinigkeit, welche den Glanz seines Ebenbildes verwischt hat. Sobald Christi Reinigung diese abgewaschen, liebt und küsst uns der Vater als sein neu gereinigtes Werk.

Ein Gnadenstuhl durch den Glauben in seinem Blut. So möchte ich die Worte des Apostels in geschlossenem Zusammenhange wiedergeben. Denn er scheint sagen zu wollen: wir haben einen versöhnten Gott, sobald unser Glaube auf dem Blute Christi ruht. Durch den Glauben kommen wir erst in den wirklichen Besitz der Wohltat Christi. Wenn aber Paulus allein das Blut erwähnt, will er andere Stücke des Erlösungswerkes sicher nicht ausschließen, sondern unter einem wesentlichen Stück das Ganze begreifen. Dabei wird gerade das Blut genannt, weil es das Mittel ist, die Sünde abzuwaschen.

In dem, dass er Sünde vergibt. Durch Vergebung der Sünden bietet Gott die Gerechtigkeit dar. Daraus wird noch einmal klar, dass unsere Gerechtigkeit auf bloßer Zurechnung ruht, nicht aber darauf, dass wir etwa in tatsächlich Gerechte verwandelt würden. Mit immer wieder neuen Worten schließt der Apostel bei dieser Gerechtigkeit jedes eigene Verdienst aus. Erlangen wir die Gerechtigkeit durch Vergebung der Sünden, so muss dieselbe ja wohl außer uns liegen. Und wenn die Vergebung ein Geschenk der freien Gnade ist, so fällt jedes Verdienst. Es fragt sich aber, weshalb Paulus lediglich an die Vergangenheit zurückdenkt und allein von der Sünde redet, welche bisher geblieben war unter göttlicher Geduld. Er erinnert damit an die alttestamentlichen Sühneordnungen, welche wohl auf die zukünftige Genugtuung weissagen, nicht aber Gottes Gnade wirklich erwerben konnten. In demselben Sinne sagt der Hebräerbrief (9, 15), dass durch Christus eine Erlösung von den Übertretungen vollbracht sei, welche unter dem Alten Bunde noch bestehen blieben. Natürlich soll das nicht heißen, dass Christi Tod nur die Sünden der vergangenen Zeit gesühnt habe. Vielmehr will Paulus andeuten, dass bis zu Christi Tod kein vollgültiges Mittel da war, um Gott zu versöhnen, auch nicht in den Schattenbildern des Gesetzes. Die Wahrheit und Wirklichkeit trat erst in der Zeit der Erfüllung ein. Selbstverständlich gibt es auch zur Sühne der Sünden, welche wir noch täglich begehen, kein anderes Mittel. Von göttlicher Geduld redet Paulus aber, um der Verwunderung darüber zu begegnen, dass die Gnade so spät erschienen ist. Voller Sanftmut hat Gott sein Gericht hintangehalten und hat seinen Flammen gewehrt, zu unserm Verderben hervorzubrechen, bis endlich die Zeit erfüllet war, dass er uns in seine Gnade aufnahm.

V. 26. Auf dass er darböte die Gerechtigkeit. Mit gewaltigem Nachdruck wird dieser Satz wiederholt, weil Paulus ihn besonders einschärfen wollte. Denn nichts geht dem Menschen schwerer ein, als auf sich selbst zu verzichten und alles von Gott zu erwarten. Im Besonderen sollten die Juden erinnert werden, wohin es galt, die Augen zu richten. Zu diesen Zeiten. Keinem Zeitalter fehlten Offenbarungen der göttlichen Gnadengerechtigkeit gänzlich. Aber völlig und klar wurde diese Offenbarung erst, als die Sonne der Gerechtigkeit aufging und Christus uns geschenkt ward. Jetzt ist die angenehme Zeit und der Tag des Heils. Das Alte Testament besaß die Wahrheit nur verhüllt.

Auf dass er allein gerecht sei usw. Hier empfangen wir die weitere Beschreibung der Gerechtigkeit, welche durch Christi Ankunft oder, wie es im ersten Kapitel (1, 17) heißt, im Evangelium offenbart ward. Dieselbe besteht in zwei Stücken. Zuerst ist Gott selbst gerecht, nicht als einer unter vielen Gerechten, sondern als der, welcher allein in sich alle Fülle der Gerechtigkeit trägt. Nur so zollt man Gott seine ganze Ehre, wenn man ihn allein gerecht und die ganze Menschheit ungerecht sein lässt. Zweitens teilt Gott seine Gerechtigkeit aus: er will seinen Reichtum nicht bei sich verschließen, sondern den Menschen zufließen lassen. So erscheint Gottes Gerechtigkeit in uns, wenn er uns durch den Glauben an Christus gerecht spricht. Denn Christus wäre uns umsonst zur Gerechtigkeit geschenkt, wenn wir ihn nicht im Glauben genießen wollten.

27 Wo bleibt nun der Ruhm? Er ist ausgeschlossen. Durch welches Gesetz? Durch der Werke Gesetz? Nicht also, sondern durch des Glaubens Gesetz. 28 So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.

V. 27. Wo bleibt nun der Ruhm? Gründe zur Zerstörung des falschen Vertrauens auf die Werke waren im bisherigen genug angeführt: jetzt schickt sich der Apostel an, die selbstgefällige Eitelkeit zu schelten. Solche lebhaftere Tonart war nötig: in diesem Stücke reicht die nüchterne Lehrhaftigkeit nicht aus, der Heilige Geist muss unsern Hochmut mit stärkeren Blitzen treffen. Jeder Ruhm muss aber ohne Zweifel deshalb schwinden, weil wir keine Leistung aus unserm eigenen aufweisen können, die wert wäre, von Gott gebilligt und gut befunden zu werden. Es gibt weder ein ganzes noch ein halbes Verdienst, mit welchem wir die Versöhnung mit Gott verdienen könnten. Paulus redet nicht von einem mehr oder weniger, er lässt uns keinen einzigen Tropfen übrig. Der Glaube tilgt alles Verdienst der Werke, und man kann die Lehre vom Glauben nur rein halten, wenn man dem Menschen nichts lässt und alles der Barmherzigkeit Gottes zuschreibt: also dürfen die Werke gar nichts zu unserer Rechtfertigung beitragen.

Der Werke Gesetz. Wie kommt der Apostel hier plötzlich zu der Aussage, dass das Gesetz uns keineswegs allen Ruhm nehme, während er doch soeben noch gerade aus dem Gesetz uns unsere Verdammnis nachwies? Wie sollten wir denn noch auf der Bahn des Gesetzes Ruhm finden zu können glauben, wenn uns doch das Todesurteil gesprochen ward? Nimmt uns denn nicht allerdings das Gesetz jeden Ruhm und überhäuft uns mit Vorwürfen? Indessen wollten die früheren Ausführungen zeigen, dass das Urteil des Gesetzes unsere Sünde enthülle, weil wir alle vom Gehorsam abgewichen. Hier aber liegt der Nachdruck auf der Aussage, dass, wenn es überhaupt eine Gerechtigkeit infolge von Gesetzeswerken gäbe, unser Ruhm nicht dahinfallen würde: nur weil wir alles dem Glauben zuschreiben, behalten wir nichts für uns übrig; denn der Glaube empfängt alles von Gott und bringt ihm nichts außer dem demütigen Bekenntnis der eigenen Leerheit. Dabei will der scharfe Gegensatz von Glaube und Werken wohl beachtet sein: es ist also an Werke schlechthin zu denken, nicht bloß an Zeremonien oder äußerlichen Schein des Verdienstes, sondern an alles, was das Verdienst einer eigenen Tat begründen könnte. – Des Glaubens Gesetz. Das ist eine uneigentliche Redeweise. Die Bezeichnung als Gesetz soll die Art des Glaubens durchaus nicht undeutlich machen. Der Apostel will nur zu verstehen geben, dass die eigene Natur und Ordnung des Glaubens jeden Ruhm der Werke niederschlage: mag das Gesetz die Gerechtigkeit der Werke preisen -, der Glaube hat sein eigenes Gesetz, und dieses lässt nicht zu, in irgendwelchen Werken irgendwelche Gerechtigkeit zu finden.

V. 28. So halten wir nun dafür. Damit wird der Hauptsatz des Briefes als eine unzweifelhafte Schlussfolgerung ausgesprochen und des Weiteren erläutert. Denn die Rechtfertigung aus Glauben tritt in helles Licht, sobald man den Werken ausdrücklich jedes Verdienst nimmt. Deshalb legen unsere heutigen Gegner ein besonderes Gewicht darauf, in den Glauben noch irgendwie ein Verdienst der Werke einzumischen. Sie sagen, dass der Mensch allerdings durch den Glauben gerechtfertigt werde, aber nicht allein: sondern die Gerechtigkeit, die dem Worte nach dem Glauben gehören soll, käme tatsächlich doch erst durch die Liebe zustande. Paulus dagegen verkündigt hier die freie Gnade in einem Sinne, der jede Bedeutung der Werke ausschließt. Des Gesetzes Werke. Gemeint ist, wie schon zu 3, 20 dargelegt wurde, nicht bloß Zeremonien oder ein Buchstabendienst ohne Christi Geist, sondern alle Werke, welche ein Verdienst, wie das Gesetz es verspricht, beanspruchen. – Lesen wir nun bei Jakobus (2, 17.21), dass der Mensch nicht durch den Glauben allein, sondern durch die Werke gerechtfertigt werde, so steht dies nur in scheinbarem Widerspruch zur Lehre des Paulus. Man muss an beiden Orten auf den Zusammenhang und die Absicht der Rede achten. Hier handelt es sich um die Frage, wie der Mensch vor Gott gerecht werden könne. Jakobus dagegen stellt die ganz andere Frage, wie der Mensch seine Gerechtigkeit beweisen solle. Er kämpft wider die Heuchler, die mit einem leeren Glauben prunken. Handeln nun beide von ganz verschiedenen Dingen, so versteht sich von selbst, dass die Worte „Gerechtigkeit“ und „Glaube“, welche jeder in seiner besonderen Weise gebraucht, gar nicht miteinander in Beziehung gesetzt werden dürfen. Jakobus will – dies zeigt bei ihm der Zusammenhang – nur behaupten, dass ein heuchlerischer und toter Glaube nicht rechtfertige, und dass man keinen für gerecht halten könne, der es nicht mit Werken beweist.

29 Oder ist Gott allein der Juden Gott? Ist er nicht auch der Heiden Gott? Ja freilich, auch der Heiden Gott. 30 Sintemal es ist ein einiger Gott, der da gerecht macht die Beschnittenen aus dem Glauben und die Unbeschnittenen durch den Glauben.

V. 29. Ist Gott allein der Juden Gott? Der zweite Hauptsatz des Briefes lautet: die Gerechtigkeit ist den Heiden nicht weniger als den Juden zugedacht. Dies musste besonders betont werden, wenn Christi Königreich die ganze Erde erobern sollte. Der Sinn der Frage ist nicht, ob Gott nicht ebenso der Schöpfer der Heiden wie der Juden sei? Dies stand ja über jeden Zweifel erhaben fest; sondern: ob er nicht in gleicher Weise ihr Heiland sein wolle? Will Gott wirklich alle Völker der Erde seine Barmherzigkeit erfahren lassen, so muss ihnen auch allen in gleicher Weise die Gerechtigkeit gehören, ohne die man nicht selig werden kann. Wenn es nun heißt, Gott sei auch der Heiden Gott, so liegt darin, wie so oft in der Schrift, auch umgekehrt die Beziehung der Heiden zu ihm beschlossen: „Ich will euer Gott sein und ihr sollt mein Volk sein.“ Die besondere Auswahl Israels konnte ja die ursprüngliche Ordnung der Natur nicht aufheben, nach welcher alle Menschen Gottes Ebenbild an sich tragen und in dieser Welt der ewigen Seligkeit entgegengeführt werden sollen.

V. 30. Die Beschnittenen aus dem Glauben und die Unbeschnittenen durch den Glauben. Das Wortspiel zeigt nur, dass im Handel der Rechtfertigung kein wirklicher Unterschied obwaltet. So verspottet der Apostel die Juden, welche den Abstand zwischen sich und den Heiden noch offen halten wollten. Kann man Gnade nur durch den Glauben ergreifen, und ist der Glaube überall sich selbst gleich, so ist es lächerlich, nach einem Unterschied zu fragen. Wollte man aber, so sagt der Apostel ironisch, solchen Unterschied zwischen Heiden und Juden noch gelten lassen, so wäre es der: die einen werden aus dem Glauben, die andern durch den Glauben gerecht. Außerdem ließe sich höchstens etwa sagen: die Juden werden aus Glauben gerecht, weil sie bereits als Erben der Gnade geboren werden und das Recht der Kindschaft schon von ihren Vätern her empfangen -, die Heiden aber durch den Glauben, weil für sie der Eintritt in den Bund etwas Neues ist.

31 Wie? Heben wir denn das Gesetz auf durch den Glauben? Das sei ferne! sondern wir richten das Gesetz auf.

V. 31. Aus dem hier aufgestellten Gegensatze zwischen Glaube und Gesetz schöpft die fleischliche Vernunft leicht den Verdacht, als handle es sich wirklich um einen Kampf des einen gegen das andere. Diese falsche Ansicht lag aber vollends nahe, wenn eine oberflächliche Kenntnis des Gesetzes d. h. des Alten Testaments nur an die Werke, nicht aber an die Verheißungen dachte. So hatte ja nicht bloß Paulus, sondern der Herr selbst den Vorwurf hören müssen, dass seine ganze Predigt auf die Abschaffung des Gesetzes ausginge. Daher das Wort des Herrn (Matth. 5, 17): „Ich bin nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen.“ Der Verdacht entstand nun sowohl im Blick auf das Moralgesetz, wie auf die Zeremonialgebote. Macht das Evangelium allen mosaischen Gebräuchen ein Ende, so scheint es ja den Dienst des Mose zu zerstören. Vernichtet es alle Gerechtigkeit der Werke, so scheint es den vielfachen Zeugnissen des Gesetzes zu widersprechen, welche besagen, dass uns Gott im Gesetz den Weg der Gerechtigkeit und des Heils vorgeschrieben. Deshalb müssen wir auch die gegenwärtige Aussage des Paulus weder allein von den Zeremonien, noch allein von den Moralgeboten verstehen, sondern von dem ganzen ungeteilten Gesetze. Das Moralgesetz gewinnt durch den Glauben an Christus Kraft und Bestand: denn es ward gegeben, um den Menschen seiner Sünde zu überführen und zu Christus zu leiten. Ohne Christus kann es nicht gehalten werden und predigt umsonst, was man tun soll; es kann nur die böse Lust steigern und damit die Verdammnis bringen. Hat man aber Christus gefunden, so gewinnt man erst in ihm die Gerechtigkeit, welche das Gesetz vorschreibt: sie wird uns durch den Glauben zugerechnet. Danach erwächst auch die Heiligung, welche in unsern Herzen einen zwar unvollkommenen, aber doch dem Ziel entgegenreifenden Gehorsam gegen das Gesetz Gestalt gewinnen lässt. Ebenso steht es mit den Zeremonien: sie hören auf und schwinden bei Christi Ankunft, und doch finden sie durch ihn erst ihre wahre Bestätigung. An sich betrachtet sind sie ja nichtige und schattenhafte Bilder: einen tieferen Hintergrund findet man in ihnen erst, wenn man ihren Zweck und ihr Ziel versteht. Ihr gewissestes Siegel empfangen sie durch die Lehre, dass ihre Wahrheit in Christus erschienen ist. Wir werden also das Evangelium so zu predigen haben, dass dadurch zugleich das Gesetz Festigkeit gewinnt, aber keine andere als die auf den Glauben an Christus sich stützt.

1)
geb. 354, gest. 430: nordafrikanischer Bischof, war einer der tiefsinnigsten und einflussreichsten Kirchenlehrer. Er verteidigte mit Kraft die freie Gnade und wurde in diesem Stück der Lehrer der Reformatoren. Es bedurfte erst vieler Erfahrung und Schriftforschung, bis die Reformatoren über die Autorität Augustins hinauswuchsen und die biblische Rechtfertigungslehre völlig klar erfassten. Die Vermittler, welche zwischen der alten Kirche und dem neu entdeckten Evangelium noch Brücken schlagen wollten, blieben ungefähr auf dem Standpunkte Augustins stehen: gegen sie richten sich manche der folgenden Ausführungen Calvins.
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