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Calvin, Jean - Psalm 44.

Calvin, Jean - Psalm 44.

Inhaltsangabe:Dieser Psalm besteht aus drei Hauptteilen. Im Eingang nämlich erwähnen die Gläubigen das unermessliche Erbarmen Gottes gegen sein Volk und die zahlreichen Beweise, durch die er seine väterliche Liebe bezeugt hatte. Dann beklagen sie sich, dass sie Gottes Gunst nicht mehr so spürbar empfänden, wie sie einst mit den Vätern gewesen sei. Drittens führen sie den Bund Gottes mit Abraham an und versichern, sie hätten denselben mit größter Treue bewahrt, obwohl sie hart geschlagen worden seien; und zugleich halten sie dem Herrn vor, sie würden nur deswegen so grausam gequält, weil sie bei der lauteren Gottesverehrung beständig verharrten. Endlich wird die Bitte hinzugefügt, Gott wolle die unwürdige Unterdrückung der Seinen nicht unbeachtet lassen, zumal sie auf eine Schmähung der Frömmigkeit hinausläuft.

V. 1. Wer den Psalm verfasst hat, ist ungewiss; nur das ist klar ersichtlich, dass er eher von jedem anderen als von David gedichtet worden ist. Die Klagen aber, die er enthält, passen recht eigentlich auf jene elende und unglückselige Zeit, als die schreckliche Gewaltherrschaft des Antiochus wütete; man müsste denn einen ausgedehnteren Zeitraum aus dem Grunde annehmen wollen, weil nach der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft beinahe kein Zeitalter von schweren Bedrängnissen verschont geblieben ist. Sicher aber würde auf die Zeit Davids, unter dessen Königtum die Gemeinde blühte, der Inhalt des Psalms nicht passen. Möglich wäre aber, dass in der Gefangenschaft selbst irgendein Prophet diese Klage dem Volk gewidmet hat. Freilich ist zugleich zu bemerken, dass das Bild der Gemeinde Gottes hier so gezeichnet wird, wie es sich auch nach Christi Offenbarung noch gestalten sollte. Paulus nämlich fasst Röm. 8, 36, wie wir zu dieser Stelle abermals sehen werden, den Sinn unseres Psalms nicht so auf, als hätte sich jene Zeitlage bloß auf ein Jahrhundert beschränkt; er erinnert vielmehr daran, dass ganz denselben Mühseligkeiten die Christen unterworfen sind, und dass dieselben bis ans Ende der Welt nichts anderes zu erhoffen haben, als was Gott an den Juden nach ihrer Rückkehr aus der Gefangenschaft gleichsam als Vorspiel dargestellt hat. Es erschien zwar später Christus als Erlöser seiner Gemeinde, doch nicht zu dem Zwecke, dass wir in fleischlicher Üppigkeit auf Erden schwelgen, sondern vielmehr unter dem Kreuze streiten mögen, bis uns des himmlischen Reiches Frieden umfängt. – Was der Name „Unterweisung“ bedeutet, wurde schon zu Ps. 42 und 32 gesagt: obwohl er bisweilen bei Gedichten fröhlichen Inhalts als Überschrift erscheint, so wird er doch häufiger angewandt, wo vom Unglück die Rede ist; denn das ist die beste Art der Unterweisung, wenn der Herr unseren wilden Sinn bändigt und uns dadurch unter sein Joch beugt.

V. 2. Wir haben gehört usw. Die Kinder Israel halten dem Herrn seine Güte vor, die er einst den Vätern erzeigte: so wollen sie ihn durch Erinnerung an den Abstand zwischen einst und jetzt bestimmen, ihre bedrückte Lage zu bessern. Sie beginnen mit dem Hinweis, dass sie keineswegs von dunklen oder zweifelhaften Vorgängen reden, sondern Geschichten berichten, die von hinlänglichen Bürgen zuverlässig bezeugt seien. Denn wenn sie sagen: „wir haben mit unseren Ohren gehört“, so ist das kein überflüssiger Wortschwall, sondern sie wollen dadurch nachdrücklich bezeugen, der Ruf der Gnade Gottes sei so gefeiert gewesen, dass jeder Zweifel dadurch gehoben sei. Sie fügen hinzu: Diese Kunde sei durch Augenzeugen von langer Hand her überliefert; nicht als hätten die Väter, die aus Ägypten losgekauft worden waren, nach 1 500 Jahren ihren Nachkommen Gottes Wohltaten dargelegt, sondern weil in ununterbrochener Reihenfolge nicht bloß die erste Befreiung, sondern die mannigfache Hilfe, die Gott seinem Volke gebracht hatte, von Hand zu Hand bis auf die letzte Zeit gekommen war. Es reden also aus dem Munde der ersten Generation heraus jene Zeugen und Herolde der göttlichen Gnade, die nach vielen Jahrhunderten auftraten, und deshalb können die Gläubigen mit Recht sagen, was ihnen von den Vätern erzählt worden ist, sei ihnen selbst wie aus Erfahrung gewiss gewesen. Denn die Erkenntnis war durch das Alter der Überlieferung nicht in Verfall geraten, sondern blieb wegen der beständigen Erinnerung lebendig. Alles in allem ist der Sinn, Gott sei nicht etwa nur zehn oder zwanzig Jahre lang gütig gegen Abrahams Kinder gewesen, sondern habe, seitdem er sie in Liebe umfasst hatte, nicht aufgehört, ihnen fortgesetzt seine Gnade zu beweisen.

V. 3. Du hast mit deiner Hand usw. Diese Worte bilden die Erklärung des vorigen Verses. Der Dichter hatte nämlich jenes Gotteswerk noch nicht deutlich bezeichnet, welches in der Rede der Väter gepriesen worden war. Jetzt also fügt er hinzu, Gott habe die Heiden mit seiner Hand vertrieben, um an deren Stelle die Söhne Abrahams zu verpflanzen; er habe jene übel behandelt, um eben diese Söhne Abrahams auszubreiten. Die alten Bewohner des Landes Kanaan vergleicht er mit Bäumen, denn sie hatten durch langen Besitz dort Wurzel geschlagen. Die plötzlich eintretende Veränderung also vollzog sich gerade so, wie wenn man Bäume herausgerissen und an deren Stelle andere eingesetzt hätte. Aber es wäre nicht genug gewesen, das Volk an einem Tage einzupflanzen; daher wird ein zweites Bild beigefügt, in welchem die Gläubigen auch das Wachstum des auserwählten Volkes einer göttlichen Segenswirkung zuschreiben: sie hast du ausgebreitet – gleichwie ein Baum im Laufe der Zeit seine Wurzel wie seine Äste weiter ausbreitet und dadurch fester auf seinem Standorte Boden fasst. Der Zweck aber, wozu die Gläubigen hier diese Gottesgnade rühmen, verdient bemerkt zu werden; denn oft entspringt für uns ein Anlass zur Verzweiflung aus der Schlussfolgerung, wir seien von Gott verschmäht, weil er uns nicht dieselben Wohltaten erweist, deren er unsere Väter gewürdigt hat. Es wäre aber widersinnig, wenn Gläubige, die sich zum Gebete rüsten, ihrem Vertrauen ein solches Hindernis bereiten wollten. Ich gestehe zwar unumwunden ein: je mehr wir an die Wohltaten denken, welche Gott anderen erwies, umso trauriger werden wir berührt, wenn er uns im Unglück nicht hilft. Aber der Glaube leitet uns zu einem anderen Ziel, so dass wir zu dem Schlusse kommen, dass doch auch wir einmal etwas Erleichterung spüren werden, weil Gott sich selbst ähnlich bleibt. Und zweifellos rufen die Gläubigen die Taten, die Gott zum Heil seiner Gemeinde einst vollführte, sich hier ins Gedächtnis zurück in der Absicht, sich zu einer besseren Hoffnung aufzuschwingen (vgl. auch Ps. 22, 5 f.). Denn sie bleiben nicht bei einem bloßen Vergleich stehen, der eine Scheidung vollziehen würde zwischen denen, welche durch göttliches Eingreifen gerettet worden sind, und denen, die jetzt unter Kümmernissen leiden und seufzen; vielmehr stellen sie sich das Band heiligen Zusammenschlusses vor Augen, welches im Bündnis mit Gott gegeben ist, um daraus zu folgern, dass alles auf sie selbst Bezug habe, was die Gemeinde jemals an göttlicher Güte erfahren hat. Zwar liegt eine Beschwerde in ihren ersten Worten, wenn sie fragen, was die Unterbrechung der väterlichen Gunst zu bedeuten habe; aber bald sammeln sie sich, denn es folgt unmittelbar darauf eine neue Betrachtung der Treue und Beständigkeit Gottes, der sie nicht minder als ihre Väter zu Kindern annahm. Freilich ist es nicht zu verwundern, wenn im Gemüt der Frommen einander widersprechende Regungen auch im Gebet gegeneinander ankämpfen; aber dadurch, dass der heilige Geist den maßlosen Schmerz stillt, bringt er alle Klagen mit der Geduld und mit dem Trieb zum Gehorsam in Einklang. – Die Angabe übrigens, dass die Erlösung den Nachkommen von den Vätern erzählt worden sei, entspricht der Vorschrift des Gesetzes, welche den Vätern befiehlt, ihre Söhne zu lehren (5. Mo. 6, 20 ff.). Und dass heutzutage ganz dieselbe Last auch ihnen von Gott auferlegt ist, daran sollen die Gläubigen sich erinnern: denn er vertraut ihnen die Heilslehre mit der Verpflichtung an, sie an die Nachkommen zu übermitteln; und so sollen sie sich, so viel an ihnen ist, bestreben, Gottes Herrschaft auf weitere Frist zu verlängern, damit die Verehrung des Herrn beständig in Kraft bleibe, von einem Lebensalter zum andern.

V. 4. Sie haben das Land nicht eingenommen durch ihr Schwert usw. In Gegensätzen bekräftigt der Dichter, was er soeben schon sagte. Denn wenn die Kinder Israel die Erbschaft des Landes nicht durch eigene Kraft und Kunst angetreten haben, so folgt daraus, dass sie durch eine fremde Hand eingepflanzt worden sind. Denn es zog zwar eine große Menge Menschen aus Ägypten aus, doch waren sie untüchtig zum Kriege und nur an Knechtsdienste gewöhnt, und wären daher sogleich von den Feinden vernichtet worden, die an Zahl und Tapferkeit weit überlegen waren. Endlich wurde dem Volk durch deutliche Zeichen ebenso sehr seine eigene Schwäche als Gottes Kraft bezeugt, so dass sie mit Recht gestehen müssen, das Land sei nicht durch ihr eigenes Schwert erworben, sondern das Heil sei ihnen durch Gottes Hand gebracht. Gerühmt wird zugleich Gottes Arm und seine Rechte: diese Wiederholung will einprägen, dass es sich um eine mehr als gewöhnliche Rettung handelte. Das Licht des göttlichen Angesichts bedeutet seine Gunstbezeugung (vgl. zu Ps. 43, 3); denn wie Gott sein Antlitz, wenn er uns Unglück entgegenschickt, gewissermaßen mit Wolken verhüllt und zuzieht, so erblickten hinwiederum die Israeliten, als sie im Vertrauen auf seine Kraft ihre Feinde ohne große Schwierigkeit weit und breit niederwarfen, sein heiteres und glänzendes Antlitz, als wenn er öffentlich sich ihnen nahe zeigte. Bemerkenswert aber ist der Schluss, welchen der Dichter zieht: das Volk habe das Land als ein Geschenk freier göttlicher Gnade überkommen, weil es dasselbe aus eigener Kraft nicht erworben habe. Wir fangen nämlich erst dann an, dem Herrn zuzuschreiben, was ihm gebührt, wenn wir erwägen, wie wertlos unsere Kräfte sind. Und wenn die Menschen, wie es sehr oft geschieht, Gottes Wohltaten in böswilliger Vergessenheit begraben, so kommt dies sicher nur daher, dass sie, einer unbegründeten Einbildung unterliegend, irgendetwas sich als ihr eigenes Verdienst anmaßen. Deshalb ist das die beste Art der Dankbarkeit, wenn der törichte Wahn von der eigenen Tüchtigkeit zunichte geworden ist. – Es folgt darauf ein noch herrlicheres Lob der Gnade Gottes, wobei der Grund ganz in Gottes gnädiges Wohlgefallen verlegt wird. Denn der Prophet dichtet nicht etwa der Person Abrahams irgendeine Würdigkeit an, noch erkünstelt er an dessen Nachkommen irgendwelche Verdienste, derentwegen Gott so freigebig mit ihnen verfuhr; sondern alles schreibt er dem Wohlgefallen Gottes zu. Das scheint dem Zeugnis Moses entnommen zu sein (5. Mo. 7, 7 f.; 9, 4 ff.): „Nicht weil ihr zahlreicher wäret als andere Völker oder vorzüglicher, erwählt euch Gott; sondern weil er eure Väter geliebt hat.“ Obwohl aber hier im Besonderen von der Verleihung des Landes Kanaan an die Kinder Israel die Rede ist, so leitet uns der Dichter doch damit zu der grundsätzlichen Frage an, warum Gott jenes Volk überhaupt gewürdigt hat, als seine Herde zu gelten. Und gewiss ist die Quelle und der Ursprung der Gemeinde Gottes seine freiwillige Liebe; und welche Wohltaten auch Gott seiner Gemeinde erweisen mag – sie fließen eben alle aus dieser Quelle. Wenn wir also zu einer Gemeinde Gottes gesammelt sind, wenn wir gehegt und beschützt werden durch seine Hand, so ist der Grund dafür nirgends anders als in Gott selbst zu suchen. Es wird aber hier nicht vom allgemeinen Wohlwollen Gottes geredet, welches sich auf das ganze menschliche Geschlecht erstreckt, sondern das auserwählte Volk wird von der übrigen Welt unterschieden, und die Ursache des Unterschieds wird auf das bloße Wohlgefallen Gottes zurückgeführt.

V. 5. Du selbst bist mein König. In diesem Verse bringen die Kinder Israel noch deutlicher zum Ausdruck, was ich soeben schon sagte, nämlich: Gottes Güte sei nicht nur bei der Befreiung des Volkes ersichtlich gewesen, sondern habe sich durch alle Zeitalter hindurch beständig ergossen. Denn wenn Gott selbst es ist, der einst sein Volk erlöste, so kann er sich auch gegen die Nachkommen nicht anders zeigen, - und so entwickelt sich denn gleichsam aus der ersten Heilstat eine lange Reihe von göttlichen Wohltaten. Vielleicht empfiehlt sich aber eine etwas andere Übersetzung: „Du, du bist mein König“, - also nur Du, und sonst niemand. Jedenfalls leiten die Kinder Israel aus ihren bisherigen Erfahrungen die Bitte ab, Gott wolle neue Hilfserweisungen anordnen und senden für sein Volk. Denn weil er zahllose Weisen der Errettung in seiner Hand hat, so wird von ihm gesagt, dass er Hilfsleistungen in der Mehrzahl, wie Boten nach jedem beliebigen Ziele hin, entbiete.

V. 6 bis 8. In dir haben wir unsere Feinde niedergestoßen. Der Prophet legt dar, wie sich Gott als König des Volkes gezeigt hat; so viel Kraft nämlich habe er dargereicht, dass die Kinder Israel allen Feinden furchtbar wurden. Denn hierauf bezieht sich das von den Stieren entnommene Gleichnis, sie seien mit übermenschlicher Stärke ausgerüstet gewesen, um alles Entgegenstehende mit den Hörnern auseinanderzuwerfen und vor sich niederzutreten. Die Ausdrücke „in Gott“ und „im Namen Gottes“ bedeuten dasselbe, nur dass die letztere Redewendung anzeigt: das Volk sei deshalb siegreich gewesen, weil es unter Gottes Leitung kämpfte. Übrigens wenden sie das, was sie soeben von den Vätern gesagt hatten, jetzt auf sich selbst an: denn der Leib der Gemeinde war derselbe; und sie tun das absichtlich, um Vertrauen zu fassen. Denn wenn sie sich von den Vätern trennten, so müsste das abweichende Verhältnis und Verfahren den Lauf der göttlichen Gnade gewissermaßen unterbrechen. Jetzt, wo sie eingestehen, ihnen sei alles gegeben, was Gott den Vätern erwiesen hatte, dürfen sie getrost bitten, er möge sein Werk fortsetzen.

Ferner ist festzuhalten, woran ich schon oben erinnerte, dass sie auf diese Weise dem Herrn ihre Siege insgesamt zuschreiben; denn (V. 7) mit ihrem eigenen Schwert oder Bogen hätten sie nichts Derartiges erreichen können. Diese Gegenüberstellung nämlich setzt Gottes Gnade besser ins Licht, sobald wir erwägen, wie groß unser Mangel ist und wie gar nichts wir ohne Gott sind.

Abermals also wiederholen sie, sie seien durch göttliche Einwirkung errettet worden; derselbe Gott habe die Feinde zu Schanden gemacht.

V. 9. Wir wollen täglich rühmen von Gott. Dies ist der Schluss des ersten Teils. Denn in einem zusammenfassenden Satz erkennen die Kinder Abrahams an, Gottes Güte gegen sie sei zu allen Zeiten so groß gewesen, dass beständiger Stoff zur Danksagung vorhanden sei. Sie reden, als befänden sie sich noch in der Gegenwart in rühmenswerter Lage, erkennen also an, dass sie dem Herrn unauslöschlichen Dank schulden, weil er ihnen nicht bloß kurze Zeit oder ein Jahrhundert lang, sondern viele Menschenalter hindurch eine andauernde Blüte schenkte: denn alle glücklichen Ereignisse dieses langen Zeitraumes setzten sie auf Rechnung seiner Gnade. Und sicherlich ist die Freude, die aus glücklichen Umständen entspringt, erst dann eine heilige und geordnete, wenn sie in Lobpreisungen Gottes ausbricht. Also werden wir uns erinnern, dass sich unser Vers auf jene fröhliche Zeit bezieht, wo Gott seinem Volke Gunst erwies; dass ferner hier die Gläubigen ihre Dankbarkeit bezeugen, indem sie alles falsche Rühmen ablegen und bekennen, von Gott allein seien alle Siege zustande gebracht, durch welche sie so hoch erhoben worden waren, und einzig durch seine Kraft seien sie bisher unversehrt stehen geblieben. Drittens sei ihnen nicht ein- oder zweimal nur ein Anlass zum Lobsingen gegeben gewesen, sondern in einer langen Zeitfolge seien mannigfache Beweise väterlicher Gunst an sie ergangen, so dass mit Recht der lange Besitz derselben ihre Hoffnung habe befestigen müssen.

V. 10 bis 12. Doch du hast uns verstoßen. Jetzt folgt eine Beschwerde, in der die Kinder Israel ihre gegenwärtigen Kümmernisse und äußerste Notlage beklagen. Es wird dabei ein Umschwung beschrieben, welcher bezeugt, dass Gott nicht nur von seinem gewohnten Wohlwollen Abstand genommen hat, sondern zu seinem Volke offenbar in feindlichen Gegensatz getreten ist. Zuerst beklagen sie sich, sie seien in gehässiger Weise verstoßen worden. Dann fügen sie hinzu, sie seien der Schmach ausgesetzt gewesen; denn freilich musste für sie, wenn sie des göttlichen Schutzes beraubt waren, alles unglücklich ablaufen. Das erklären sie auch bald in der Äußerung, Gott zöge nicht mehr aus als Führer oder Vorkämpfer, wenn sie in den Krieg ausrückten. Ihre weiteren Klagen verbreiten sich darüber, dass Gott sie in die Flucht gejagt, dass er sie zur Beute und Speise ausgesetzt habe.

Denn weil sie als Gläubige davon überzeugt sind, dass Menschen nur insoweit tapfer und mutvoll sein können, als Gott sie mit seiner verborgenen Kraft aufrecht hält, so stellen sie den Satz auf (V. 11), bei der Flucht und angstvollen Eile werde die Furcht von Gott aus verhängt, so dass die armen Menschen Vernunft und Beherztheit verlieren müssen. Und diese Meinung ist aus dem Gesetz (5. Mo. 32, 30) entnommen, wo Mose sagt: „Wie geht es zu, dass einer wird ihrer tausend jagen, und zwei werden zehntausend flüchtig machen? Ist es nicht also, dass sie ihr Fels verkauft hat, und der Herr hat sie übergeben?“ Da also die Gläubigen solches Zeugnis besitzen, so schreiben sie es nicht dem Schicksal zu, dass sie beim Anblick der Feinde erschrecken, auf welche sie früher unerschrocken tapfere Angriffe zu machen gewohnt waren, sondern sie fühlen, dass es auf himmlischen Beschluss geschieht, wenn sie zurückgetrieben werden. Und wie sie vorher bekannt haben, ihre frühere Tapferkeit sei ein Geschenk Gottes gewesen, so erkennen sie hinwiederum die Furchtsamkeit als von Gott ihnen eingeflößt an. Wenn aber nun Gott also ihren Mut gebrochen hat, so sind sie, wie sie sagen, der zügellosen Willkür ihrer Feinde preisgegeben. So nämlich lege ich die Wendung: „sichBeute raubenaus, dass die Feinde nach Gutdünken und ohne jeden Widerspruch sie wie eine ihnen zugefallene Beute geplündert haben.

Eben darauf läuft auch der zweite Vergleich hinaus, der in den Worten liegt (V. 12): Du gibst uns zur Speise hin wie Schafe.Gott hatte sie schon vor Beginn des Kampfes, als wären sie ohne weiteres besiegt, den Feinden vor die Füße geworfen, als eine Sättigung für ihre Gier. Doch ist zu bemerken, dass Gott zum Urheber dieser Unglücksfälle nicht deshalb gemacht wird, weil der Dichter etwa mit ihm hadern will, sondern damit die Gläubigen umso zuversichtlicher dieselbe Hand, die sie geschlagen und verwundet hat, um Heilung bitten. Und sicherlich ist es unmöglich, dass Leute, die dem Schicksal ihr Unglück zuschreiben, sich ernstlich zu Gott flüchten oder von ihm Hilfe und Heil erwarten. Wenn deshalb der Herr unserm Unglück abhelfen soll, so ziemt es sich festzustellen, dass uns dasselbe nicht von ungefähr oder durch Zufall zugestoßen, sondern durch Schläge von seiner Hand zugefügt wurde. An die Klage darüber, dass sie den Feinden vorgeworfen worden seien, fügen die Kinder Israel nun die weitere über ihre Versprengung unter die Heiden, eine Zerstreuung, die bitterer war, als ein hundertfaches Sterben. Denn da der ganze Ruhm und das Glück jenes Volkes darauf beruhte, dass sie unter einem Gott und einem Könige versammelt, einen Volkskörper bildeten, so war es ein Merkmal äußerster Beschimpfung, wenn sie wie zerrissene Gliedmaßen mit den Heiden vermischt wurden.

V. 13. Du verkaufst dein Volk. Wenn sie sagen, sie seien ohne Gewinn verkauft worden, so verstehen sie darunter, sie seien wie schlechte und wertlose Leibeigene öffentlich ausgeboten worden. Das zweite Versglied scheint auf die Sitte der Versteigerung anzuspielen. Wir wissen nämlich, dass die feilgehaltenen Sklaven den Käufern nicht eher zugesprochen wurden, als bis eine Versteigerung abgehalten und der Preis dadurch erhöht war. Wenn sie nun dem Herrn vorhalten: Du steigerst ihre Preise nicht, - so wollen sie klagen, er habe sie verschleudert und damit noch unter die Lage aller anderen Sklaven herabgedrückt. Wenn sie sich aber lieber an Gott wenden als an die Feinde, über deren Stolz und Grausamkeit sei sich mit Recht hätten beschweren können, so sollen wir daraus lernen, dass es für uns nichts Besseres oder Nützlicheres gibt, als im Unglück Gottes Vorsehung und Urteil zu erwägen. Gewiss haben wir es, wenn Menschen uns drängen, mit dem Teufel zu tun, der sie dazu anreizt; dennoch müssen wir zu Gott selbst emporsteigen, damit wir verstehen, dass wir von ihm geprüft und erforscht werden, mag er nun uns züchtigen oder unsere Geduld üben, fehlerhafte Regungen unseres Fleisches dämpfen oder uns demütigen und zur Selbstverleugnung erziehen wollen. Wenn wir hören, dass es schon den Vätern, die unter dem Gesetze lebten, so schimpflich ergangen ist, so ist nicht einzusehen, warum uns irgendwelche schmachvolle Lagen zu Falle bringen müssten, wenn uns Gott etwa einmal in eine solche versetzt. Denn es wird von Gott hier nicht einfach gesagt, dass er irgendein Volk, sondern dass er sein eigenes verkauft habe, als erschiene ihm sein Erbteil bereits verächtlich. Und eben darüber werden wir auch heute noch in unseren Bitten Beschwerde führen dürfen; nur mag dies Beispiel unserem Glauben dabei zur Stütze dienen, damit wir nicht, und wären wir auch noch so sehr niedergeschlagen, den Mut sinken lassen. In einem anderen Sinne sagt Gott bei Jesaja (52, 3), das Volk sei von ihm ohne Preis verkauft, um anzuzeigen, es werde ihm keine Mühe kosten, sie zurückzukaufen, weil er den Käufern gegenüber keine bindende Verpflichtung habe.

V. 14 u. 15. Du machst uns zur Schmach. Der Dichter redet von den Nachbarn, welche insgesamt einen versteckten oder offenen Hass gegen das Volk hegten; und es kommt ja oft vor, dass das nachbarliche Zusammenwohnen, welches ein Verhältnis wechselseitiger Liebe begründen sollte, vielmehr Neid, Zwietracht und Streitigkeiten erzeugt. Aber ein besonderer Grund dazu lag bei den Juden vor, welche ihr Land wider den Willen aller anderen eingenommen hatten, und deren Gottesglaube auf die übrigen Völker wie ein Kriegsruf wirkte. Es zeigte sich auch unter vielen ihrer Nachbarn ein verkehrter Nachahmungstrieb, wie bei den Edomitern; diese brüsteten und blähten sich mit der Beschneidung auf, als wenn sie den Gott Abrahams gleichfalls verehrten. Doch war es eine noch größere Entwürdigung für die Juden, dass sie dem Spott derjenigen unterlagen, denen sie wegen der wahren Gottesverehrung verhasst waren. Die Gläubigen zeigen, wie die Furchtbarkeit dieses Übels noch durch den weiteren Umstand gesteigert wird, dass von allen Seiten her jene Beschimpfungen auf sie gehäuft werden; denn im ganzen Umkreise waren sie von Feinden umlagert und wären daher keinen Augenblick ruhig und unbelästigt geblieben, wenn Gott sie nicht wunderbar beschützt hätte.

Darauf (V. 15) blicken sie über den Kreis der nächsten Nachbarn in die weitere Heidenwelt hinaus: selbst dort ging über Israel ein Sprichwort um, d. h. eine geläufige, sei es verwünschende, sei es bloß stichelnde Redeweise, nach welcher der bloße Name eines Juden allgemein als schmähende Bezeichnung empfunden wurde. Hierauf zielt auch die Wendung, dass die Völker das Haupt über uns schütteln (vgl. Ps. 22, 8). Übrigens werden die Gläubigen ohne Zweifel gemerkt haben, dass eine im Gesetz verzeichnete Rachedrohung Gottes sich an ihnen erfüllte. Denn um sich dadurch besser zur Betrachtung der Gerichte Gottes zu ermuntern, ließen sie es sich angelegen sein, alle Strafen, die Gott irgend an ihnen vollzog, mit seinen Drohungen zu vergleichen. Das Gesetz aber hatte eben dieses Gespött der Heiden, welches sie erwähnen, wörtlich im Voraus verkündigt (5. Mo. 28, 37). Mit großem Nachdruck wiederholt der Dichter: „die Heiden“, „die Völker“, - um einen Eindruck davon zu erwecken, wie wenig es zusammenstimmt, dass unheilige Heiden das auserwählte Volk Gottes mit ihren Lästerungen herunterreißen. Ein Beispiel dafür, dass die vorliegende Klage nicht aus der Luft gerissen ist, findet sich in Ciceros Verteidigungsrede für Flaccus. Dieser römische Redner schleudert in seinem heidnischen Übermut nicht minder Gott, dem Herrn, als den Juden die höhnische Bemerkung entgegen: es sei hinlänglich bekannt, wie verhasst den Göttern jenes Volk sei, welches durch so viel Niederlagen nach und nach aufgerieben und in der elendsten Knechtschaft bis aufs äußerste unterdrückt war.

V. 16 u. 17. „Täglich“ bezeichnet eine lange Dauer, während der tagtäglich das gleiche traurige Bild wiederkehrt. Doch kann der hebräische Ausdruck auch einen ganzen oder vollständigen Tag bedeuten von frühmorgens an bis zum Abend gerechnet. Welche Auslegung man aber wählen mag, der Hauptgedanke bleibt: es sei kein Ende der Übel abzusehen. Übrigens redet die ganze Gemeinde wieder in der Einzahl, als wäre sie eine einzige Person. Nachher folgt der Grund, weshalb die Kinder Israel mit Scham bedeckt sind und Antlitz und Augen nicht zu erheben wagen: weil sie der Mutwille und die Lästerungen der Feinde gar nicht zu Atem kommen lassen. Denn wäre es ihnen verstattet gewesen, sich in Schlupfwinkeln zu verbergen, so hätten sie ihre Kränkungen doch irgendwie mit Stillschweigen hinuntergeschluckt; aber die Verletzung ist doppelt schwer, da die Feinde sie dreist und öffentlich verhöhnen. Sie klagen also, hierin liege für sie eine Überhäufung mit Leiden, dass sie beständig gezwungen seien, die Schmähungen und Lästerungen anzuhören; und sie nennen ihre Feinde (V. 17) „rachgierig“, womit bei den Hebräern eine wilde Grausamkeit bezeichnet wird, die sich mit Hochmut paart.

V. 18 u. 19. Dies alles ist über uns kommen usw. Da die Israeliten die Übel, welche sie zu erdulden hatten, vorher Gott zugeschrieben haben, so beschuldigen sie diesen der Ungerechtigkeit, wenn sie jetzt sagen, seine Schläge träfen sie unverdienter Weise; so hätten wir kein heiliges Bittgebet mehr vor uns, sondern vielmehr eine gottlose Lästerung. Dagegen ist zu bemerken: Die Gläubigen beharren, auch wenn sie in ihrem Ungemach die Ursachen desselben nicht klar durchschauen können, dennoch fest bei dem Grundsatz, es müsse für Gott ein Grund dafür bestehen, dass er sie so streng und hart behandelt. Es verdient jedoch zugleich bemerkt zu werden, dass hier nicht von einer verflossenen Zeit geredet, sondern vielmehr die Geduld hervorgehoben wird; und diese erschien als ein ungewöhnliches Zeichen ihrer Frömmigkeit, da sie ihren Nacken gehorsam unter das Joch des Herrn beugten. Denn die meisten Menschen sehen wir gegen Gott murren und hartnäckig wüten, gerade so wie wilde Pferde ausschlagen. Deshalb bedeutet es keinen geringen Fortschritt in der wahren Gottesfurcht, wenn sich jemand bei Schicksalsschlägen gewissenhaft in acht nimmt, um nicht durch irgendwelche Ungeduld querfeldein zu geraten und irre zu gehen. Denn auch den Heuchlern ist es ein Leichtes, im Glück Gott zu danken; sobald er aber streng erscheint, brechen sie in Wut aus. Die Gläubigen bemerken also, sie hätten, obgleich sie durch so viel Unglück vom rechten Wege hätten abgebracht werden können, dennoch Gott nicht vergessen, sondern ihn jederzeit verehrt, wenn er auch weniger gnädig und mild erschien. Sie rühmen also nicht ihr ausgezeichnetes Verhalten in früheren Zeiten, sondern halten dem Herrn nur vor, sie hätten mitten in den Trübsalen beständig an seinem Bund festgehalten. Und es ist allerdings genugsam bekannt, dass lange bevor Antiochus (1. Makkab. 1) wütete, das Volk mit vielerlei Verderbtheit durchsetzt war, welche Gottes Rache herausforderte, so dass sie die hier belobte Unbescholtenheit nicht hätten von sich rühmen können. Freilich hat, wie wir bald nachher sehen werden, Gott sie verschont, so dass sie mehr um seines Namens willen als wegen ihrer eigenen Vergehungen geschlagen worden sind; aber diese göttliche Nachsicht durfte nicht bewirken, dass sie sich von der Schuld freisprachen. Festzuhalten ist daher, dass sie an dieser Stelle nichts anderes vorbringen, als ihre Geduld: weil sie von der Gottesverehrung unter schweren und harten Versuchungen nicht abgefallen waren. Zuerst aber sagen sie, sie hätten den Herrn nicht vergessen: lässt uns doch das Unglück den Himmel gewissermaßen umwölkt erscheinen, so dass das Andenken an Gott leicht in Verfall gerät und er uns wie in weite Ferne entrückt wird. Dann fügen sie hinzu, sie hätten nicht untreulich an seinem Bunde gehandelt d. h. sie hätten ihn nicht gebrochen: pflegt doch der innere Abfall von Gott dann zu Tage zu kommen, wenn Menschen in eine Bedrängnis geraten, in welche sich ihres Herzens Sinn nicht finden kann.

Drittens heißt es (V. 19): Unser Herz ist nicht zurückgewichen, und endlich: noch unser Gang abgetreten von deinem Weg.Denn wie uns Gott täglich einlädt, so sollen auch unsere Herzen immer auf seine Berufung gefasst sein. Daraus folgt dann die entsprechende Richtung unseres Weges; denn durch äußerliche Werke und mit dem ganzen Leben bezeugen wir, dass unser Herz dem Herrn aufrichtig zugetan ist.

V. 20 u. 21. Obwohl du uns zermalmst usw. Der hier beginnende Gedankenzug kommt erst mit V. 22 zum Ziel: „Wenn wir, obwohl (oder: während) du uns zermalmst, unseres Gottes vergessen hätten, - sollte das Gott nicht finden?“ Die Kinder Israel beteuern also hier mit vielen Worten noch einmal, dass sie auf rechtem Wege blieben, obwohl sie in tiefe Leiden versenkt wurden. Wenn wir erwägen, in welcher Bedrängnis sie sich befanden, so wird der Ausdruck, dass sie zermalmt und in die Tiefe gestoßen wurden, uns nicht übertrieben scheinen. Denn nicht an den „Ort der Schakale“, wie viele übersetzen, wird zu denken sein, sondern an den „Ort der Drachen“ oder Seeungeheuer, die im Schlund der Meerestiefe wohnen.1) Darauf deutet auch, dass die Kinder Israel mit Todesschatten bedeckt waren: sie fühlten sich wie vom Tode selbst verschlungen. Wir sollen also wissen, dass uns in diesen Worten vom heiligen Geiste ein Vorbild für das Gebet aufgestellt und uns daher eine unbesiegbare Tapferkeit gelehrt wird, die uns unter dem Druck aller Übel aufrecht halten soll, welche auf uns gehäuft werden. Denn also sollen wir in Wahrheit bezeugen dürfen, dass wir auch in der tiefsten Hoffnungslosigkeit auf Gott gehofft haben, dass keine Versuchungen uns die Gottesfurcht aus dem Herzen gerissen haben, dass endlich keine Last der Trübsale uns gebrochen hat, so dass wir nicht alle Zeit auf ihn geblickt hätten. Doch es lohnt sich, die einzelnen Ausdrücke noch genauer zu erwägen. Indem die Kinder Israel bezeugen wollen, dass sie die Gottesverehrung rein behalten haben, behaupten sie, sie seien (V. 19) mit Herz und (V. 21) Händen nur dem einen Gott Israels zugewandt gewesen. Es genügte ihnen nicht, irgendeine verschwommene Vorstellung von der Gottheit zu hegen, sondern der wahre Glaube sollte bei ihnen seine Kraft beweisen. Denn auch Leute, die wider Gott murren, erkennen notgedrungen irgendein höheres Wesen an, aber sie gestalten sich das Bild ihres Gottes doch nach eigenem Gutdünken. Und es liegt ein Kunststück des Teufels darin, weil er nicht gleich allen Sinn für das Höhere aus dem Herzen herausreißen kann, unsere Gemüter durch solche Ränke zu erschüttern, als müsse ein anderer Gott aufgesucht werden, oder der Gott, den wir bisher verehrt haben, müsse auf andere Weise versöhnt werden, oder die Gewissheit seiner Gnade müsse anderswoher als aus Gesetz und Evangelium gewonnen werden. Da es also, wenn die Fluten der Übel hereinbrechen, mehr als schwierig ist, in rechter innerer Verfassung beim reinen Glauben zu beharren, müssen wir mit Fleiß festhalten, was hier bezeugt ist, dass die heiligen Väter, durch Elend in jeder Hinsicht erschöpft, dennoch nicht abgelassen haben, sich auf den wahren Gott zu stützen. Denn dies ist es offensichtlich, was der Satz besagen will: wir haben unsere Hände nicht aufgehoben zum fremden Gott.Sie haben sich mit dem einen Gott begnügt, haben keine geteilten Hoffnungen gehegt, um andere Hilfsquellen aufzusuchen. Daraus schließen wir: alle diejenigen, welche ihren Sinn zerstreut auf wechselnde Hoffnungen richten, vergessen den wahren Gott. Diesem erweisen wir die gebührende Ehre nur dann, wenn wir in ihm allein Ruhe und Befriedigung finden. Und gewiss behauptet bei einer gesetzmäßigen Verehrung Gottes die erste Stufe der Glauben und die Anrufung, welche daraus entspringt; denn der vorzüglichste Anteil seines Ruhmes wird dem Herrn entrissen, wenn wir auch nur den geringsten Teil unseres Heils außer ihm suchen. Wir wollen uns also einprägen: darin besteht die wahre Erprobung der Frömmigkeit, dass wir, auch wenn wir in die tiefsten Tiefen hinabgestoßen werden, doch unsere Augen, Hoffnungen und Gelübde auf Gott allein richten. Damit ist dargetan, wie gottlos die Päpstlichen verfahren, wenn sie erst wörtlich bekennen, sie „glauben an einen Gott“, und dann seine Herrlichkeit an die Geschöpfe wegwerfen. Denn sie führen zwar zur Entschuldigung an, sie nähmen zu Christophorus und den Heiligen, die sie erdichtet haben, ihre Zuflucht deswegen, um durch deren Fürsprache Gnade vor Gottes Angesicht zu finden. Es steht jedoch fest, dass es in Form und Gebärden keinen Unterschied macht, ob sie sich an Gott oder an die Heiligen wenden. Und genügt denn etwa Christus nicht oder hat er sein Amt aufgegeben, sodass man andere Fürsprecher suchen müsste? Es ist ja auch sehr beachtenswert, dass es Gläubige sind, die an unserer Stelle beteuern, sie hätten ihre Hände nicht zu anderen Göttern erhoben. Denn auch Gläubige begehen nur zu oft den Fehler, dass sie ihren Gott hintansetzen und andere Heilmittel suchen, wenn Leid auf Leid sie drückt. Solange uns Gott mit Liebkosungen und Annehmlichkeiten entgegenkommt, begeben wir uns zu ihm; aber sobald etwas Widriges uns trifft, beginnen wir alsbald zu zweifeln. Wenn wir aber noch weiter bedrängt werden, vollends wenn die Übel kein Ende nehmen, so treibt uns schon allein ihre anhaltende Dauer zur Verzweiflung, und die Verzweiflung erzeugt Vertrauen zu Dingen, die kein Vertrauen verdienen: so werden neue Götter gemacht.

V. 22. Würde das Gott nicht finden? Es ist eine schwerwiegende und ernste Beteuerung, wenn die Kinder Israel es wagen, Gott zum Schiedsrichter für ihre Redlichkeit zu bestellen. Denn daraus ist mit Bestimmtheit zu entnehmen, dass sie ihre Sache nicht vor der Welt verhandelt, sondern im Stillen mit sich geredet haben als vor Gottes Richterstuhl. Noch zuversichtlicher fügen sie sogar hinzu: Er kennt ja unsers Herzens Grund. Woher kommt es nämlich, dass oftmals Heuchler Gott zum Zeugen anrufen? Doch gewiss nur aus dem Wahn, dass sie seinem Gericht entgehen, wenn sie ihre Schlechtigkeit mit einer Schminke übertünchen. So stellt ihr Aberglaube sich einen Gott vor, dem man mit Betrügereien die Augen blenden kann. So oft wir also vor Gottes Angesicht treten, soll uns zugleich der Gedanke kommen: weil er der Herzenskündiger ist, so ist mit Schönfärberei nichts bei ihm auszurichten.

V. 23. Denn wir werden ja um deinetwillen erwürgt. Durch einen anderen Grund suchen die Gläubigen Gottes Mitleid zu erwecken; sie sagen, sie würden nicht wegen ihrer Übeltaten geschlagen, sondern nur um des Namens Gottes willen hätten sie die Ungläubigen als Feinde gegen sich. Es scheint freilich auf den ersten Blick, als sei diese Beschwerde töricht; denn einen glänzenderen Anschein trägt doch eine Äußerung wie jene, die Sokrates strafend seiner Gattin zur Antwort gab: Es ist dienlicher, unschuldig umzukommen, als durch eigenes Verschulden. Ja die Tröstung, welche Christus uns vorhält, scheint weit von diesen Worten abzuweichen, denn er sagt (Mt. 5, 10): „Selig sind, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden.“ Ebenso meint Petrus (1. Petr. 4, 14): Wenn jemand um des Namens Christi willen leidet, so ist dies vielmehr ein Grund zur Freude und zur Beglückwünschung. Ich antworte darauf: Es ist zwar der beste Trost im Schmerze, uns in unserer Rechtssache mit Christus verbunden zu wissen; doch können die Gläubigen mit Fug und Recht Gott vorhalten, sie würden seinetwegen in unwürdiger Weise bedrängt, um ihn zu desto schärferem Einschreiten gegen ihre Feinde zu veranlassen. Denn er muss billigerweise selbst darauf bedacht sein, seinen Ruhm zu wahren, und diesen verhöhnen die Gottlosen alsdann, wenn sie dreist gegen seine Verehrer wüten. Daraus aber ergibt sich mit ziemlicher Deutlichkeit, dass dieser Psalm zu der Zeit verfasst worden ist, als das Volk unter dem Druck der Verbannung lebte, oder als Antiochus die Kirche verwüstete: denn der Anlass dieser Bedrückungen war der rechte Gottesglaube. Die Babylonier nämlich trieb des Volkes Standhaftigkeit zur Wut, da sie ihre abergläubischen Gebräuche seitens besiegter und zu Boden geworfener Leute noch immer der Verurteilung unterliegen sahen; und auch bei Antiochus richtete sich die ganze Wut auf die Austilgung des Namens Gottes. - Der Unwille der Frommen wird noch gesteigert, weil Gott die Willkür der Gottlosen so wenig einschränkt, dass sie zügellos und ohne Ende in ihrer Grausamkeit fortfahren dürfen. Daher sagen die Gläubigen, sie würden täglich erwürgt, und dann: sie würden nicht anders eingeschätzt als wie Schlachtschafe. Übrigens müssen wir uns immer daran erinnern, was ich oben berührt habe: sie waren nicht derart rein von jeder Schuld, dass sie Gott nicht gerechter Weise für ihre Sünden hätte strafen können; aber nach seiner unvergleichlichen Nachsicht begräbt er die Sünden und setzt uns ungerechten Verfolgungen aus, damit wir uns mutiger rühmen dürfen, dass wir das Kreuz mit Christo tragen, auf dass wir der seligen Auferweckung Mitgenossen und Teilhaber werden. Wir haben aber schon gesagt, dass die Wut der Feinde nur deshalb so hitzig entbrannte, weil das Volk nicht vom Gesetz abfallen noch den wahren Gottesdienst von sich werfen wollte. Wir aber entnehmen hier für uns folgende Lehren: erstlich sollen wir nach dem Beispiel der Väter Trübsale mit Sanftmut tragen; denn dadurch bekräftigen wir das Bekenntnis unseres Glaubens. Sodann: auch im tiefsten Todesdunkel müssen wir beständig Gottes Namen anrufen und in seiner Furcht beharren. Paulus jedoch geht noch weiter, wenn er zu Röm. 8, 36 die vorliegende Stelle nicht nur als Beispiel wieder anführt, sondern behauptet, das beständige Geschick der Gemeinde Gottes werde darin abgebildet. Also werden wir sagen müssen, dass es uns durch himmlischen Beschluss auferlegt wurde, in einem beständigen Kampfe das Kreuz zu tragen. Allerdings wird bisweilen ein Waffenstillstand oder eine Erleichterung gewährt, weil Gott unsere Schwachheit schont; aber wenn auch die Schwerter nicht immer gegen uns gezückt sind, so müssen wir doch als Glieder Christi zur Gemeinschaft des Kreuzes gerüstet sein. Damit uns also die Herbheit des Kreuzes nicht erschrecke, soll uns jene Lage der Gemeinde Gottes immer vor Augen schweben: dieweil wir in Christo zu Gottes Kindern angenommen sind, sind wir zur Schlachtung übergeben. Sonst wird es uns ebenso ergehen, wie wir es an vielen Abtrünnigen sehen: denn bei Lebzeiten beständig zu sterben, dem Gespött ausgesetzt zu sein, und keinen Augenblick ohne Furcht verbringen zu können, ist ihres Erachtens allzu hart und elend; um sich daher dieser Notlage zu entziehen, verlassen und verleugnen sie Christum schändlicher weise. Damit uns also nicht Ekel oder Grauen vor dem Kreuz von der Frömmigkeit abziehe, wollen wir beständig erwägen: wir sollen den Kelch trinken, welchen Gott uns darreicht, und keiner kann ein Christ sein, der sich nicht dem Herrn zum Opfer darbietet.

V. 24 u. 25. Erwecke dich, Herr! Warum schläfst du? Nunmehr fordern die Heiligen, Gott möge sich doch endlich ihrer erbarmen und Hilfe und Heilung bringen. Nun heißt es freilich unvernünftig stammeln, wenn man den Gott, der unablässig für das Wohl der Seinen wacht, anruft, dass er aufwache. Aber der Herr gestattet den Gläubigen zuweilen, so zu beten. Gewiss darf man nicht mit den Epikuräern2) annehmen, dass Gott in müßiger Ruhe sich selbst ergötze. Er sorgt für uns, auch wenn er uns zu vergessen scheint. Aber dies begreift nur der Glaube, - unser langsames und fleischliches Erkenntnisvermögen bleibt dagegen am Augenschein haften. Dieses lastenden Eindruck entledigen wir uns dann in vertraulich-ungenauer Ausdrucksweise vor Gott. Auf diese Weise scheiden die Gläubigen krankhafte Ausflüsse des Gemütslebens aus ihrem Innern aus, damit hernach der Glaube rein und geläutert hervorgehe. Wenn jemand daraus entnehmen sollte, das Gebet, das heiligste, was es gibt, werde dadurch befleckt, wenn eine verkehrte Einbildung des Fleisches sich mit demselben vermischen darf, so gestehe ich dies zwar ein. Aber so lange wir diese Freiheit gebrauchen, die der Herr verstattet, sollen wir wissen, dass Gottes Nachsicht jenen Fehler austilgt, damit er unsere Bitten nicht beflecken kann.

V. 26 u. 27. Denn unsere Seele ist gebeugt. Wiederum beklagen die Kinder Israel die Wucht ihrer Leiden und geben an, sie würden auf ungewohnte Weise zu Boden geschlagen. Sie wollen damit Gott umso geneigter machen, ihnen Hilfe zu bringen. Denn mit diesem bildlichen Ausdruck deuten sie an, sie seien nicht nur niedergeworfen, sondern fast zur Erde gestoßen, so dass sie sich nicht erheben können. Dass aber gerade die Seele gebeugt ist, will besagen, dass die innerste Lebenskraft gebrochen wurde, sodass sie ohne Hoffnung auf Wiederherstellung am Boden liegen.

So schließen sie denn an diese Klage die Bitte zu Gott (V. 27): Mache dich auf, hilf uns! Wenn sie aber den Ausdruck gebrauchen, dass er sie „erlöse“, so erbitten sie eine ungewöhnlich kräftige Hilfe, weil sie anders als durch solche Erlösung eben nicht gerettet werden könnten. Dabei wird den Betern ohne Zweifel die große Haupterlösung vorschweben, von der uns in den täglichen Durchhilfen Gottes gleichsam nur kleine Bächlein zufließen. Obwohl sie aber erst kurz zuvor mit gutem Gewissen sich wegen der Beständigkeit ihres Glaubens gerühmt haben, so soll dennoch zum Vorschein kommen, dass sie nicht mit Verdiensten haben prahlen wollen; deshalb fordern sie nicht irgendein Entgelt dafür, sondern begnügen sich mit der unverdienten Güte Gottes, die sie zum alleinigen Grund ihres Heils machen.

1)
„Ort der Schakale“ zweifellos richtig. Gemeint ist die Wüste, wohin viele Israeliten in der Bedrängnis geflüchtet sein mochten.
2)
Der Philosoph Epikur lebte in Athen um 300 v. Chr. Vgl. Apg. 17, 18
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