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Calvin, Jean - Psalm 139.

Calvin, Jean - Psalm 139.

Inhaltsangabe: David will sich aller nebelhaften Einbildungen, mit denen die Mehrzahl der Menschen sich betrügen, entschlagen und so sein Herz von Heuchelei reinigen. Zu dem Zweck führt er mit vielen Worten aus, dass nichts, auch das Heimlichste nicht, vor Gottes Augen verborgen ist. Und das bekräftigt er mit dem Hinweis auf die Erschaffung des Menschen. Wenn nämlich Gott uns im Mutterschoß unsere Gestalt bereitet und jedem Gliede sein Amt und seine Fähigkeiten zugewiesen hat, so versteht sich, dass alles, was wir tun, sich unter seinen Augen abspielt. Nachdem er aber durch diese Betrachtung sein Herz zur aufrichtigen Gottesfurcht gestimmt hat, bezeugt er, dass er mit den glaubens- und gewissenlosen Gottesverächtern nicht das mindeste gemein habe. Und im Vertrauen auf diese seine rechtschaffene Gesinnung, deren ihm sein Gewissen Zeugnis gibt, ruft er Gott an, er möge ihn nicht mitten auf seinem Lebensweg im Stiche lassen.

V. 1 bis 3. Herr, du erforschst mich. In diesen einleitenden Worten spricht David aus, dass er nicht mit der Meinung vor Gott tritt, als ob er mit Verstellung irgendetwas erreichen könnte, wie etwa die Heuchler, die ihr Wesen verschleiern und unterdessen in vermeintlicher Sicherheit ihre Lüste befriedigen. Weil er vielmehr überzeugt ist, dass vor Gott nichts verborgen ist, so deckt er freiwillig all sein Sinnen auf und will sich prüfen lassen. Du, o Gott, spricht er, vermagst alles zu durchschauen, was in mir ist, und deinem Blick kann nichts entrinnen. Er fügt dann einzelne Umstände bei, um an ihnen zu zeigen, wie keine Seite seines Lebens dem Herrn verborgen ist. „Ob ich ruhe, ob ich wandle, ob ich aufstehe: alle meine Bewegungen beobachtest du.“

Statt (V. 2) „von ferne“ übersetzen manche „vorlängst“. Das betreffende hebräische Wort kommt an manchen Stellen in dieser Bedeutung (einer zeitlichen Entfernung) vor. Der Satz hätte dann diesen Sinn: Jeden Gedanken, der in mir aufsteigt, hast du, Herr, längst zuvor wahrgenommen. Ich ziehe aber die andere Übersetzung, der ich gefolgt bin, vor, die besagt, dass Gott nicht im Himmel eingeschlossen ist, so dass er (nach epikureischer Meinung) in behaglicher Muße sich um die Angelegenheiten der Menschen nicht kümmerte; sondern, ob wir schon fern von ihm wandeln, so ist er doch nicht fern.

Das hebräische Wort im 3. Vers, das wir wiedergeben: „so bist du um mich“, hat auch die Bedeutung: „sichten“ (mit der Worfschaufel) und wird öfters bildlich gebraucht in dem Sinne, dass etwas aus dem Dunkeln an das Licht gebracht wird. Man kann demnach die Worte auch so übersetzen: „Du sichtest mein Wandeln usw.“ Wähle denn jeder die ihm am meisten zusagende Auslegung.

V. 4 u. 5. Denn siehe, es ist kein Wort usw. Diese Worte lassen zweierlei Deutung zu. Manche finden darin den Sinn: „Noch ehe ein Wort über meine Zunge geht, weißt du, Herr, was ich zu sagen vorhabe“, - andere aber: „Wenn ich auch gar kein Wort verlauten lasse, sondern meine Pläne mit Stillschweigen zu verdecken suche, so ist dir doch nichts verborgen.“ Beides kommt ungefähr auf dasselbe hinaus, so dass die Wahl freisteht. Der Hauptgedanke ist jedenfalls der: Vor Menschen offenbart die Zunge unsere Gesinnung, denn durch Reden teilt man sich dem Nächsten mit. Gott aber als der Herzenskündiger bedarf unserer Aussprache nicht. Das Wörtlein „siehe“ soll diesen Aussagen größeren Nachdruck verleihen. Auch die geheimsten Winkel der Herzens, will der Prophet sagen, müssen zum Vorschein kommen.

Im 5. Vers bekennt David, dass er auf allen Seiten von Gott umgeben und von seinen aufmerksamen Blicken umfangen ist, so dass es vergeblich wäre, entfliehen zu wollen, wohin er sich auch wenden möchte. Das Gleiche besagt der zweite Teil des Verses: „und hältst deine Hand über mir“. Auf alle Sterblichen legt Gott gleichsam seine Hand und behält sie so unter seiner Aufsicht, so dass sie ohne sein Vorwissen auch nicht den geringsten Schritt zur Seite tun können.

V. 6. Deine Erkenntnis ist mir zu wunderbar. Mit diesen Ausruf deutet David an, dass es verkehrt und töricht ist, wenn Menschen Gottes Wissen nach ihrem kleinen Maß bemessen wollen, da er nach seiner wunderbaren Herrlichkeit hoch über uns steht. Es gibt nämlich viele, die, so oft von Gott die Rede ist, sich in ihrem Urteil über ihn von ihrem Verstande leiten lassen, - ein Vermessenheit, die gehörig zurückgewiesen werden musste. Man will gemeinhin Gott nur so viel Erkenntnis zugestehen, wie man selber begreift. David hingegen bekennt, Gottes Erkenntnisvermögen sei ihm unfassbar, mit anderen Worten: er könne das mit keinen Worten genügend ausdrücken, wovon er hier redet, nämlich dass vor Gott nichts verborgen ist. Es ist eben in Gott eine schrankenlose Erkenntnis. So bleibt ihm denn nichts übrig, als im Bewusstsein seines geistigen Unvermögens voll Ehrfurcht zu solcher Geisteshöhe aufzublicken.

V. 7 bis 10. Wo soll ich hingehen? Denselben Gedanken wie vorhin verfolgt nach meiner Ansicht David auch hier, nämlich dass die Menschen vergeblich versuchen, sich den Blicken Gottes zu entziehen. Geist steht hier nicht wie oft in der Schrift einfach für Kraft, sondern für Vernunft und Einsicht. Da nämlich beim Menschen der Geist der Sitz der Vernunft ist, so wendet David das auf Gott an. Noch deutlicher tritt uns das im zweiten Teil des Verses entgegen, wo Angesicht im Sinn von Blick oder Wahrnehmung gebraucht ist. Der Gedanke ist der: David kann seinen Ort nicht wechseln, ohne dass Gott es inne wird und ihn auf der Flucht mit seinen Blicken verfolgt. Es war also verkehrt, diese Stelle als Beweis für Gottes Unendlichkeit aufzufassen. Obschon diese ja ohne Zweifel feststeht, so wollte doch David etwas anderes sagen, nämlich dass er im geheimsten Schlupfwinkel offenbar ist vor Gottes Augen, die durch Himmel und Hölle dringen. Mag er also über die Himmel emporfliegen oder in den tiefsten Abgründen sich verstecken, am einen wie am anderen Ort sieht Gott alles.

Eine prächtige Umschreibung liegt in den Worten „Flügel der Morgenröte“. David denkt an die Strahlen, welche die Sonne im Augenblick ihres Aufgangs in schnellstem Fluge in alle Gegenden der Welt sendet. Dieselbe Umschreibung begegnet uns beim Propheten Maleachi (3, 20). Würde also jemand an Schnelligkeit selbst mit den Sonnenstrahlen wetteifern, so könnte er, will David sagen, keinen so abgeschiedenen Ort finden, dass er nicht noch immer unter Gottes Herrschaft stände. Die HandGottes bedeutet hier nämlich seine Macht, vermöge deren es in seinem Belieben steht, Menschen, die seinen Blicken entfliehen möchten, alsbald herum zu holen.

V. 11 u. 12. Spräche ich usw. David versetzt sich in die Lage eines Menschen, der auf allerlei Schleichwege sinnt, um womöglich sich aus seiner Verlegenheit zu helfen. Alle Fluchtversuche sind unnütz. Nun redet er von einem neuen Mittel und sagt: Wenn denn keine Schnelligkeit mit den Blicken Gottes entreißen kann, so mag das Licht erlöschen und Finsternis kommen, mich eine Zeitlang zu verbergen, dass ich solange wenigstens Luft kriege. Aber auch dies, sagt er, ist umsonst, da Gott in den dichtesten Finsternissen nicht weniger scharf sieht als am Mittag. –

Viele Ausleger geben die Sätze in etwas anderer Verbindung: „Spräche ich: Finsternis wird mich decken, - so muss die Nacht auch licht um mich sein.“ Dann wäre die Meinung, dass David, obwohl er selbst nicht sieht, doch vor Gott im Lichte steht. Doch dürfte der Nachsatz erst mit V. 12 anheben. David will sagen, wenn er nur etwas fände, das ihn decke, so würde ihm das einige Bewegungsfreiheit bringen; etwa wie bei Räubern und wilden Tieren, die im Walde hausen, die Nacht den Tag ersetzen muss, weil sie dann freier umherstreifen können. Wenn ich mir also, sagt er, vom nächtlichen Dunkel etwas wie eine Ruhepause verspräche, so würde diese Meinung trügerisch sein, weil die Finsternis Gottes Licht nicht verdunkelt. Findet jemand, diese Rede, dass vor Gott Licht und Finsternis keinen Unterschied ausmachen, sei überflüssig, so beweist dagegen die Erfahrung zur Genüge, dass die Menschen nur schwer und mit äußersten Widerwillen dahin zu bringen sind, dass sie sich vor Gottes Angesicht einstellen ohne Hülle, so wie sie sind. Zwar bekennen wir alle Gottes Allwissenheit; aber was niemand bestreitet, betrachtet doch jeder stillschweigend als nicht vorhanden, indem wir sicheren Sinnes mit Gott unser Spiel treiben und durch keine Ehrfurcht vor ihm uns nötigen lassen, ihm wenigstens so viel Geltung bei uns einzuräumen wie einem sterblichen Menschen. Einen Menschen zum Mitwisser und Zeugen unserer schlechten Gesinnung zu machen, davor scheuen wir uns; Gottes Urteil aber verachten wir gerade so, als ob unsere Missetaten durch einen Schleier seinen Blicken entzogen wären. Wenn diese unsere Torheit nicht aufs schärfste gegeißelt wird, so verkehrt sie uns nächstens noch das Licht in dichte Finsternis. David dringt demnach nicht ohne Grund so kräftig darauf, uns solchen eitlen Dunst zu vertreiben. Es bleibt uns also, wenn allzu große Sicherheit uns beschleicht, nur übrig, dass ein jeder mit diesen Erwägungen sein Gemüt anspornt und erweckt.

V. 13 u. 14. Denn du hast meine Nieren bereitet. David fährt zwar in derselben Lehre fort, geht aber einen kleinen Schritt weiter und sagt, es sei nicht zu verwundern, dass der, der die Nieren oder das Herz bereitet hat, auch die geheimsten Gedankengänge der Menschen durchforscht. Er bezeichnet also die Nieren als eine Richtertribüne, von der aus Gott sein Gericht ausübt. Es ist auch, sagt er, nicht zu verwundern, dass die Ränke und Ausflüchte unseres Herzens den nicht täuschen, der uns noch im Mutterleibe so klar durchschaut hat, als ob wir mitten im hellen Lichte gestanden hätten. Damit ist uns klar, was David veranlasste, von der Erschaffung des Menschen zu sprechen.

Dasselbe hat er im folgenden Vers im Auge, dessen Worte zwar verschiedene Auslegung zulassen, dessen Sinn aber leicht verständlich ist. Er besagt, dass David wunderbar gebildet worden ist, so dass es ihn mit gerechter Bewunderung und mit Schrecken erfüllen muss. Und das drängt ihn, in einen Lobpreis Gottes auszubrechen. Daher kommt ja unser fleischlich sicheres Sichgehenlassen, weil wir nicht genug erwägen, wie wunderbar der himmlische Werkmeister uns geformt hat. Hierauf geht David vom Einzelnen zum Allgemeinen über und ruft aus, alle die Werke Gottes, denen unsere Blicke begegnen, seien ebenso viele Wunder, die unsere Seelen mit Macht zu ihm ziehen sollen. Denn erst das ist (wie wir schon anderswo sagten) eine rechte Betrachtung der Werke Gottes, die in Bewunderung ausschlägt. Wenn er nun beifügt: Das erkennt meine Seele wohl – nämlich die Wunder, die doch unser Verstand nicht zu fassen vermag – so will er damit nichts anderes sagen, als dass er bescheiden und nüchtern darnach trachten und dazu tüchtig werden will, die Wunder Gottes zu spüren und seine unendliche Herrlichkeit und Hoheit anzubeten. Es ist also hier nicht ein solches Erkennen gemeint, bei welchem unsere natürlichen Sinne sich der Wunder bemächtigen, die ja nach Davids Bekenntnis unbegreiflich sind (wie denn die Weltweisen in ihrer Vermessenheit Gott alles Geheimnisvolle nehmen wollen); sondern es wird nur das gläubige Aufmerken angedeutet, das uns erweckt, Gott die Ehre zu geben.

V. 15. Es war dir mein Gebein nicht verhohlen usw. David fährt fort, an der Schöpfung des Menschen nachzuweisen, dass vor Gott nichts verborgen ist. Er zeigt, dass Gott auch die begabtesten Künstler alle bei weitem übertrifft. Während jene zur Verfertigung eines Bildwerkes auf ihre Augen angewiesen sind, hat Gott unsere Gestalt im Schoße unserer Mutter geformt. Den Mutterleib vergleicht er dann weiter mit den Örtern unten in der Erde. Wenn ein Künstler in irgendeiner finsteren Höhle ohne Hilfe des Lichtes ein Werk in Angriff nehmen will, wo soll er anfangen? Wie will er es ausarbeiten und zur Vollendung bringen? Gott hingegen formt das allervollkommenste Werk, den Menschen, ganz, ohne sich des Lichtes zu bedienen, im Mutterschoße. Das wird noch mehr hervorgehoben durch den Ausdruck, dass der Mensch „gewirkt“ ward. David will damit ohne Zweifel bildlich beschreiben, welch unvergleichliches Kunstwerk uns in der Gestalt des menschlichen Körpers entgegenstrahlt. Wenn wir z. B. nur die Nägel betrachten: man könnte daran nichts ändern, ohne dass der Gebrauch der Finger erschwert würde und die Naturordnung empfindlich gestört wäre. Wie erst, wenn auch nur einzelne Glieder ganz entfernt würden? Welcher Goldsticker könnte mit allem Fleiß und aller Geschicklichkeit solch vielfaches und mannigfaltiges Gebilde nur zum hundertsten Teil erreichen? Es ist also nicht zu verwundern, wenn Gott die Menschen, nachdem sie ans Licht der Welt gekommen, so genau kennt, sie, die er im dunklen Mutterschoß so vollkommen gebildet hat, dass an ihnen nichts fehlt.

V. 16. Da ich noch ungestaltet war. Vom Größeren schließt David aufs Kleinere: wenn er dem Herrn bekannt war, noch ehe er bei seinem Wachstum im Mutterleibe bestimmte Gestalt gewonnen hatte, so kann er es jetzt noch viel weniger vermeiden, von ihm erkannt zu werden. Er sagt weiter: es war alles auf dein Buch geschrieben, d. h. der ganze Plan der Schöpfung (des Menschen) war dem Herrn vollkommen bewusst. Der Ausdruck „auf das Buch schreiben“ ist von menschlichen Verhältnissen herübergenommen, wo Bücher und Aufzeichnungen dem Gedächtnis nachhelfen müssen. Derartiger Stützen bedarf Gott für sein Gedächtnis nicht. Er weiß also alles so sicher, als hätte er es in einer Chronik aufgezeichnet.

Im zweiten Versteil sind die Ausleger nicht einig. Die einen halten dafür, die „Tage“ selbst seien als das bezeichnet, was „gebildet“, d. h. vorherbestimmt wurde1). David würde dann sagen: Alle meine Gebeine waren auf dein Buch geschrieben, vom Beginn der Welt an, als du die Tage schufst und in Wirklichkeit noch nichts vorhanden war. Aber die Andere Auslegung hat mehr für sich, nämlich dass die einzelnen Teile des menschlichen Körpers im Lauf der Zeit gebildet wurden. Von den allmählich entstehenden Gliedern heißt es dann: „und noch war keines da“, d. h. es war noch keine Ordnung und Gliederung eingetreten. Es wird hier also die Vorsehung Gottes gepriesen, da er den formlosen Stoff ordnet und aufs Schönste gestaltet.

V. 17 u. 18. Aber wie köstlich usw. Statt „Gedanken“ haben viele, einem alten Ausleger folgend, „Freunde“ übersetzt, so dass der Prophet jetzt schon dazu überginge, die Gläubigen von den Gottlosen zu unterscheiden. Der Zusammenhang fordert aber, dass noch von der unvergleichlichen Vorsehung Gottes die Rede ist. David wiederholt also das, was er weiter oben gesagt hat. Und das nicht ohne Grund. Denn auch die wundervollen Proben verborgener Weisheit, die Gott in der Erschaffung des Menschen wie in der Regierung des menschlichen Lebens überhaupt abgelegt hat, werden bekanntlich teils übersehen, teils nicht nach Gebühr geschätzt. Köstlich, d. h. unschätzbar, nennt der Prophet die Gedanken Gottes, weil sie nicht im Bereich der menschlichen Urteilskraft liegen, und fügt in ähnlichem Sinne bei: „Wie mächtig sind ihre Summen!“ Sie sind dazu angetan, des Menschen Geist zu überwältigen. Dieser Ausruf erinnert daran, dass, wenn die Menschen nicht so unvernünftig, ja stumpfsinnig wären, sie von den geheimen, innerlichen Gerichten Gottes erschüttert werden müssten, so dass sie nicht mehr nach ihrer gewohnten Frechheit seiner spotten, sondern mit Furcht und Zittern vor seinem Richterstuhl sich einstellen würden.

Dasselbe bekräftigt auch der folgende Vers: Sollte ich sie zählen, so würde der geheimen Gedanken Gottes mehr sein denn des Sandes am Meer. Unser kleines Maß vermag nicht den tausendsten Teil davon zu fassen. –

Die folgenden Worte: „Wenn ich aufwache, bin ich noch bei dir“, werden zwar verschieden erklärt. Ich stehe aber nicht an, sie einfach in dem Sinne zu nehmen: so oft David vom Schlaf erwacht, bietet sich ihm neuer Stoff, der unfassbaren Weisheit Gottes nachzudenken. Das Aufwachen braucht also nicht auf einen Tag2) beschränkt werden. Sondern wie David bekannt hat, dass seine Sinne von der unendlichen Größe der Weisheit Gottes ganz hingenommen sind, so fügt er nun bei: „Täglich bei meinem Aufwachen finde ich neuen Grund zur Bewunderung“. Nun ist uns klar, was David eigentlich sagen will: Gott waltet so über dem Menschengeschlechte, dass ihm schlechthin nichts verborgen ist, auch nicht die in der Tiefe schlummernden Gedanken. Und mögen auch viele in grober Gleichgültigkeit sich in Sünden aller stürzen, als ob sie nie unter Gottes Augen kämen, so graben sie sich ihre Verstecke umsonst. Denn sie werden, ob sie wollen oder nicht, ans Licht gezogen werden. Diese Lehre dürften wir umso fleißiger erwägen, alt unter denen, die beim Betrachten ihrer Hände und Füße sich an ihrer schönen Gestalt ergötzen, kaum der hundertste seines Schöpfers und Bildners eingedenk ist. Aber auch wenn manche Gott als den Urheber ihres Lebens gelten lassen, so schwingt sich doch keiner zum wichtigsten Gedanken auf, dass der, der die Ohren und Augen bereitet und das vernunftbegabte Herz erschaffen hat, alles hört, sieht und erkennt.

V. 19. Wenn du, Gott, die Gottlosen usw. Ich kann mit denen nicht anschließen, die diese Worte als Wunsch auffassen: „Ach, dass du tötetest die Gottlosen“, ebenso wenig denen, die glauben, David wünsche sich Glück, wenn die Gottlosen beseitigt werden. Es scheint mir vielmehr, dass er durch Betrachtung der Gerichte Gottes sich befleißigen will, in der Furcht Gottes und in der Frömmigkeit zuzunehmen, so oft er sieht, wie die Abtrünnigen gestraft werden. Diese stellt Gott als Beispiel hin, damit die über sie verhängten Strafen die Auserwählten von der Gemeinschaft mit ihnen abschrecken. Und wenn auch David willig und bereit war, dem Herrn zu dienen und ihn zu fürchten, so bedurfte er doch so gut wie andere Gläubige einer gewissen Zügelung; wie es auch bei Jesaja (26, 9) heißt: „Wo deine Gerichte im Lande gehen, so lernen die Einwohner des Erdbodens Gerechtigkeit“, so dass sie nämlich in der Furcht Gottes bleiben. Dabei stellt sich der Prophet vor Gott hin als vor den Zeugen seiner Rechtschaffenheit, wie wenn er sagen wollte, er trete frei und offen vor den Richterstuhl Gottes, weil er keiner von den gewissenlosen Gottesverächtern sei, noch etwas mit ihnen zu tun haben wolle.

V. 20. Denn sie reden von dir lästerlich. David schildert, wie weit die Gottlosen ihre Zügellosigkeit treiben, wenn Gott sie schont und nicht mit rächender Hand sie heimsucht. Sie behaupten nämlich nicht nur, es müsse ihnen alles ungestraft hingehen, sondern sie stoßen auch noch offenbare Lästerungen gegen den Richter selbst aus. Sie versuchen nicht einmal, ihrer Bosheit einen beschönigenden Anstrich zu geben, während andere, die noch etwas Scheu im Herzen bewahrt haben, doch ihre Zunge im Zaum halten. Sie dagegen tragen ihre Gottesverachtung offen zur Schau. Das will David sagen mit den Worten: „sie reden von dir lästerlich“.

Das zweite Satzglied wird sehr verschieden gedeutet. Wir bleiben bei der Übersetzung: deine Feinde erheben sich ohne Ursache oder „in frecher Weise“, in aufgeblasenem Stolz. Dieses Sicherheben geht nahezu immer mit der vorhin geschilderten Frechheit Hand in Hand. Woher anders kommt es denn sonst, dass sie es wagen, ihre giftigen Unverschämtheiten gegen Gott auszustoßen, wenn nicht von ihrem Hochmutstaumel? Der macht, dass sie auf der einen Seite nicht bedenken, was für armselige Menschen wir sind, und anderseits dem Herrn seine Macht nicht zugestehen wollen. Darum nennt David sie auch Feinde Gottes. Denn jeder, der sich selbst über die ihm gebührende Stufe erheben will, streitet gegen Gott wie einst die himmelstürmenden Giganten.

V. 21. Ich hasse sie in rechtem Ernst. Ähnlich wie im Vorhergehenden ist auch hier der Hauptgedanke der, dass David aus Eifer um Gott nichts von der Gemeinschaft mit den Werken der Finsternis wissen mag. Denn wer gegen Verbrechen Nachsicht übt und ihnen durch sein Stillschweigen Vorschub leistet, ist ein treuloser Verräter an der Sache Gottes, der uns allen zur Pflicht macht, für seine Gerechtigkeit schützend einzutreten. Daraus lernen wir, dass wir im Kampf für Gottes Ehre mit tapferem, hochgesinntem Herzen alle Feindschaft der Gottlosen gering achten sollen. Lieber sollen wir auf alle irdischen Freundschaften verzichten, als aus verkehrter Gesinnung uns mit Schmeicheleien bei denen in Gunst setzen zu wollen, die sich gern bei Gott verhasst machen. Und umso mehr verdient diese Lehre Beachtung, da uns die Sorge um unser persönliches Wohlergehen, unsern Ruhm und unsere Annehmlichkeiten so stark reizt, dass wir bei erlittenen Beleidigungen uns nicht bedenken, Streit anzufangen. Wo es aber gilt für Gottes Ehre einzutreten, da sind wir gar furchtsam und lässig. Unsern eigenen Nutzen nehmen wir wahr, und die Rache für persönlichen Unglimpf treibt uns zu Zwietracht, Streit und Krieg; wo aber Gottes Majestät verletzt wird, da rührt sich niemand. Wenn dagegen der Eifer um Gott in uns kräftig ist, so zeigt sich dies darin, dass wir mit den Gottesverächtern lieber einen unversöhnlichen Krieg führen, als ihnen zuliebe uns von Gott entfremden. Doch ist zu bemerken, dass der Hass, von dem der Prophet spricht, nicht sowohl den Personen als ihren Fehlern gilt. Wir sollen ja, so viel an uns ist, mit allen Frieden haben, sollen es auch gern sehen, wenn es allen wohl geht, und sollen sie, wenn möglich, mit Leutseligkeit und allerlei Dienstfertigkeit auf den rechten Weg locken. Insofern es aber Feinde Gottes sind, ist es unsere Pflicht, ihrem Toben scharf entgegenzutreten.

V. 23. Erforsche mich, Gott. David betont aufs Neue, dass er aus keinem anderen Grunde ein Feind der Gottesverächter sei, als weil er den Herrn aus reinem Herzen verehrt und wünscht, dass Gott auch von anderen in gleicher Gesinnung gefürchtet werde. Wer nun so furchtlos sich zur Prüfung vor Gott darstellt, der muss freilich ein seltenes Maß von Zuversicht im Herzen tragen. Weil aber David sich einer aufrichtigen Gottesfurcht durchaus bewusst war, so war dieses sein zuversichtliches Erscheinen vor Gottes Richterstuhl kein leichtfertiges Sichvordrängen. Doch wollte er auch nicht behaupten, dass er von aller Verschuldung unberührt geblieben sei, er, der über die Last seiner Sünden trauerte und seufzte. Es bleibt dabei, dass die Heiligen, so oft sie auch von ihrer Gerechtigkeit reden, sich doch immer auf die Vergebungsgnade stützen. Übrigens, da sie gewiss sind, dass ihre Frömmigkeit von Gott gutgeheißen wird, auch wenn sie etwa aus Schwachheit straucheln, so ist es nicht zu verwundern, wenn sie freimütig sich von den Gottlosen absondern. Bei aller Beteuerung seiner offenen und geraden Gesinnung stellt sich also David doch nicht als frei von aller Sünde hin, sondern sagt nur, dass er keinem bösen Wesen huldigt. Er hütet sich davor, den ungerechten Leuten gleich zu werden, von denen es bei Jesaja (59, 7) heißt: „Ihr Weg ist eitel Verderben und Schaden“.

V. 24. Und leite mich auf dem Wege durch die Welt. Dabei denkt David ohne Zweifel an das Menschenleben in seinem ganzen Verlauf. Er bittet, Gott möge ihm ein Führer sein auf seiner Laufbahn bis zum Ziele. Ich weiß wohl, dass manche übersetzen: „auf dem Wege der Ewigkeit“ oder auf ewigem Wege. Auch leugne ich nicht, dass man bei einer Leitung bis zum letzten Ziel auch mit an das ewige Leben denken kann. Aber ich begnüge mich mit dem einfachen Wortsinn, Gott solle seinen Knecht, dem er einmal die Hand gereicht hat, bis zum Ende regieren und ihn nicht mitten auf dem Wege verlassen.

1)
So übersetzt Luther: „und waren alle Tage auf dein Buch geschrieben, die noch werden sollten, und derselben keiner da war“. Obgleich auch diese Übersetzung des vielleicht etwas verstellten hebräischen Textes nicht einwandfrei ist, dürfte sie doch der Wahrheit näher kommen.
2)
Des Erwachens nach dem Tode
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