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Calvin, Jean - Psalm 102.

Calvin, Jean - Psalm 102.

Inhaltsangabe: Dieses Gebet ist den Gläubigen wohl geschenkt worden, als sie in der babylonischen Gefangenschaft schmachteten. Im Eingang klagen sie in trauriger Beugung über ihre Bedrängnis. Darauf legen sie dem Herrn die Wiederherstellung der heiligen Stadt und des Tempels ans Herz, und, um sich in der Zuversicht des Gebets zu stärken, gedenken sie der Verheißungen Gottes von einer glücklichen Erneuerung des Königtums und Priestertums. Und sie versprechen sich nicht bloß eine Befreiung aus der Gefangenschaft, sondern bitten auch, dass Gott Könige und Völker unter seine Botmäßigkeit zwingen möge. Dann schieben sie wieder eine kurze Klage ein über ihren traurigen und bedrängten Zustand, suchen jedoch Trost in Gottes Ewigkeit: denn er hat seine Knechte für eine bessere Hoffnung angenommen und dadurch über das gemeine Los der Menschen erhoben.

1 Ein Gebet des Elenden, so er betrübt ist, und seine Klage vor dem Herrn ausschüttet. 2 Herr, höre mein Gebet, und lass mein Schreien zu dir kommen! 3 Verbirg dein Antlitz nicht vor mir in der Not, neige deine Ohren zu mir; wenn ich dich anrufe, so erhöre mich bald.

V. 1. Ein Gebet des Elenden. Der unbekannte Prophet, der den Psalm verfasst hat, bietet die Form eines Gebets für die Wiederherstellung von Tempel und Stadt. Gerade nur an die Zeit denken, da die Juden von den benachbarten Stämmen am Bau des Tempels gehindert wurden, scheint mir nicht angebracht. Ich glaube vielmehr, dass der Psalm vor der Rückkehr des Volkes gedichtet wurde, als die Zeit der verheißenen Erlösung bereits nahe war. Denn damals begannen die Propheten besonders die Herzen der Frommen aufzurichten, gemäß jener Weissagung des Jesaja (40, 1): „Tröstet, tröstet mein Volk, spricht euer Gott.“ Der Psalmsänger aber beabsichtigt nicht bloß, das Volk zu ermutigen, sondern auch demselben Eifer und Fürsorge für die Gottesgemeinde einzuflößen. Die Überschrift zeigt, für welchen Zweck der Psalm bestimmt war. Sie deutet nämlich durchaus nicht auf die Vergangenheit, sondern eher auf die Zukunft: wenn der Elende betrübt sein wird, soll er sich von Trauer und Verzweiflung nicht umstricken lassen, sondern noch Raum finden für dieses Gebet. Wir sollen wissen, dass die Betrübnis und die Klage, oder „das Sinnen“, vor dem Herrn aufeinander angelegt sind. Wenn wir in der Qual des Schmerzes das Licht und die Begegnung mit Menschen fliehen, so ist doch unseren Gebeten die Tür nicht verschlossen, ja gerade jetzt ist für sie die rechte Zeit: denn allein dies bringt Erleichterung für unsre Sorgen, wenn wir unser Herz frei vor Gott ausschütten dürfen. Einprägen wollen wir uns auch, dass mit diesen Worten die Kinder Israel darauf hingewiesen werden, in welcher Stimmung allein man sich dieses Gebets bedienen darf: es ist nur für solche bestimmt, die sich um den Zerfall der Gottesgemeinde ängsten.

V. 2. Herr, höre mein Gebet. Diese Inbrunst der Rede zeigt noch einmal, dass diese Worte nicht für sichere und fröhliche Leute bestimmt sind: wollten solche sie gebrauchen, so würden sie vielmehr Gottes spotten. Diese Worte sind ein Zeugnis, dass der Sänger harte Qualen erduldet und von glühender Sehnsucht brennt, Erleichterung zu erlangen. Es wäre eine Entweihung, sie ohne tiefste Ergriffenheit zu beten. Auch der besondere Umstand ist bemerkenswert, dass der heilige Geist uns mit diesem Psalm aufwecken will, wenn es gilt, den Herrn um das Wohlergehen der ganzen Gemeinde zu bitten. Denn während jeder für sich persönlich Sorge trägt, gehen unter Hundert kaum einem die Nöte der Gemeinde gebührend zu Herzen. Darum bedurfte es eines starken Antriebes, wie wir denn sehen, dass der Prophet durch eine gewaltige Häufung von Worten unsere Kälte und Trägheit vertreiben will. Gewiss wäre es die Pflicht des Herzens, die Zunge in Bewegung zu setzen und zum Gebet zu treiben, aber weil es oft unruhig wird oder sein Amt lässig und träg übt, bedarf es der Hilfe der Zunge. Überhaupt stützen die beiden sich gegenseitig: das Herz muss vor allen Worten in Bewegung kommen und dieselben gestalten, aber auch die Zunge hilft dem Herzen, seine Gleichgültigkeit zu überwinden. Oft werden nun die Gläubigen nicht bloß ernstlich, sondern auch brünstig beten, ohne dass irgendein Wort aus ihrem Munde geht: doch ist kein Zweifel, dass der Prophet als Schreien ein besonders heftiges Beten bezeichnet, wie es der Schmerz zum Ausdruck bringt.

V. 3. Verbirg dein Antlitz nicht vor mir. Diese Bitte ist keineswegs überflüssig. Nachdem das Volk schon fast siebzig Jahre in der Gefangenschaft schmachtete, schien Gottes Gunst sich abgewendet zu haben. Doch in der äußersten Bedrängnis wird es geheißen, zum Gebet als zum einzigen Hilfsmittel seine Zuflucht zu nehmen. Denn wenn die Juden sagen, dass sie in der Not schreien, so ist dies nicht, wie bei Heuchlern, ein Ausdruck widerspenstigen Murrens, sondern der Empfindung, dass sie jetzt von Gott gerufen werden.

Erhöre mich bald. Wenn Gott uns erlaubt, unsre Schwachheiten ohne Scheu vor ihm aufzudecken, lässt er in übergroßer Nachsicht wohl auch eine törichte Rede zu. Freilich wäre es seiner Majestät nicht würdig, dass wir wie ungeduldige Kinder vor ihm jammern, wenn er nicht diese übergroße Freiheit uns freiwillig eingeräumt hätte. Dieses Ausdrucks will ich mich gern bedienen, damit schwache Gemüter, die sich scheuen, dem Herrn zu nahen, einen Eindruck davon bekommen, wie freundlich er sie einlädt, so dass nichts sie vom vertrauten Zutritt abzuhalten braucht.

4Denn meine Tage sind vergangen wie ein Rauch, und meine Gebeine sind verbrannt wie ein Herd. 5Mein Herz ist geschlagen und verdorret wie Gras, dass ich auch vergesse, mein Brot zu essen. 6Mein Gebein klebt an meinem Fleisch vor Heulen und Seufzen. 7Ich bin gleich wie eine Rohrdommel in der Wüste; ich bin gleich wie ein Käuzlein in den verstöreten Städten. 8Ich wache, und bin wie ein einsamer Vogel auf dem Dache.

V. 4. Denn meine Tage sind vergangen. Das sind überschwängliche Reden, die aber doch in Wahrheit ausdrücken, wie tief fromme Gemüter sich durch die Verwüstung der Gottesgemeinde verwundet fühlen müssen. Möge in diesem Stück ein jeder sich prüfen. Denn wenn wir nicht die Sorgen der Gemeinde allen andern voransetzen, sind wir nicht wert, ihre Glieder zu heißen. Und so oft uns solche Redeweisen begegnen, sollen wir sie als einen Vorwurf gegen unsre Trägheit empfinden, welcher die Leiden der Gemeinde nicht tief genug ins Herz dringen. Der Dichter vergleicht seine Tage mit einem Rauch, seine Gebeine aber mit einem Herd, dessen Steine im Laufe der Zeit vom Feuer endlich verzehrt worden. Unter den Gebeinen versteht er alles, was von Kraft in den Menschen ist. Wenn sie nicht ganz gefühllos waren, musste ja das traurige Schauspiel des göttlichen Zornes ihre Gebeine austrocknen und ihre ganze Lebenskraft verzehren.

V. 5. Mein Herz ist geschlagen usw. In einem dritten Bilde vergleicht der Dichter sein Herz mit abgehauenem Gras, welches nun verdorret und ganz trocken ist. In diesem Ausdruck liegt mehr, als dass es ausgetrocknet ist, wie die Gebeine. Wie nämlich abgeschnittenes Gras nicht mehr seinen Saft aus der Erde ziehen und die Lebenskraft behalten kann, die aus der Wurzel aufstieg, so, meint der Dichter, sei ihm das Herz gleichsam ausgerissen und ausgeschnitten und nun des natürlichen Kraftzuflusses beraubt.

Dass ich auch vergesse, mein Brot zu essen, d. h. die Traurigkeit hinderte ihn, die gewöhnliche Nahrung zu sich zu nehmen. Gewiss aßen die Gläubigen auch in der Verbannung, und es wäre ein Zeichen gottloser Verzweiflung gewesen, hätten sie auf Nahrung verzichtet, um sich aufzureiben. Aber besondere Traurigkeit flößt uns Ekel an der Speise und an allen Dingen ein. So fügt der Prophet endlich hinzu (V. 6), dass sein ganzer Leib verschrumpfte und die Haut an den Knochen hing.

V. 7. Ich bin gleich wie eine Rohrdommel. Hier werden Unglücksvögel aufgezählt, welche in dunklen Bergen und Wüsten hausen, deren scheußlicher Gesang die Menschen erschaudern lässt. Der Prophet will damit sagen, dass er von allem Verkehr mit Menschen fern und gleichsam wie ein wildes Tier gewesen sei. Gewiss brachten die Gläubigen ihr Leben in einer angebauten und fruchtbaren Gegend hin: aber es ist doch kein Zweifel, dass ganz Chaldäa und Assyrien ihnen eine Wüste war. Denn ihre Gedanken kamen nicht los von dem Tempel und dem Vaterland, aus dem sie vertrieben waren. Ein einsamer Vogel ist ein besonders passendes Bild für eine unruhige Traurigkeit: manche Vögel tragen ja eine verwaiste Einsamkeit mit einer solchen Ungeduld, dass die Trauer alles Maß übersteigt.

9 Täglich schmähen mich meine Feinde; und die gegen mich wüten, schwören bei mir. 10 Denn ich esse Asche wie Brot, und mische meinen Trank mit Weinen 11 vor deinem Dräuen und Zorn, dass du mich emporgehoben und zu Boden gestoßen hast. 12 Meine Tage sind wie ein lang gestreckter Schatten, und ich verdorre wie Gras.

V. 9. Täglich schmähen mich meine Feinde. Die Gläubigen wollen Mitleid erregen, indem sie darauf hinweisen, dass sie für ihre Feinde nicht bloß ein Gegenstand des Spottes, sondern auch der Verwünschung sind. Der Prophet klagt, wie unwürdig die Gottlosen das auserwählte Volk Gottes schmähen und sogar sein Unglück zu einer Schwurformel benützen. Sie betrachteten also die Juden als ein besonderes Beispiel des Fluchs. Wenn heutzutage gottlose Leute sich die Zügel zu gleicher Frechheit schießen lassen, wollen wir lernen, uns mit diesen Waffen zu schützen, mit denen man solche, allerdings besonders schwere Versuchungen überwinden kann. Denn indem der heilige Geist dem Propheten diese Form des Gebets eingab, wollte er bezeugen, dass der Herr durch solche Schmähungen sich bewogen fühlt, den Seinen zu helfen. So lesen wir auch bei Jesaja (37, 23): „Wen hast du geschmäht und gelästert? Über wen hast du die Stimme erhoben? Wider den Heiligen in Israel.“ Im vorangehenden Verse vernahmen wir aber die Worte: „Die Tochter Zion verachtet dich; die Tochter Jerusalem schüttelt das Haupt dir nach.“ Welch unvergleichlicher Trost, dass die übermäßige Frechheit unserer Feinde den Herrn ganz besonders antreibt, sich zur Hilfe für uns zu rüsten! Denn freilich muss der Prophet darüber klagen, dass die Frevler rasend gegen die Gläubigen wüten.

V. 10. Denn ich esse Asche wie Brot. Wenn Menschen ausgestreckt am Boden lagen, wie dies eine Gewohnheit in der Trauer war, leckten sie gleichsam die Erde. Außerdem will der Prophet vielleicht darauf hinweisen, dass man nicht einen Tisch hinsetzte, wenn man Speise zu sich nahm, sondern in hässlicher Weise das Brot auf die Erde warf. Er sagt im Namen der Gläubigen, die Traurigkeit habe ihn derart in den Staub gebannt, dass er nicht einmal sich erhob, wenn er Speise zu sich nehmen wollte. Eben darauf deutet auch die weitere Aussage: und mische meinen Trank mit Weinen. Sonst pflegen Trauernde den Schmerz ein wenig zu dämpfen, wenn sie sich mit Speise erquicken; aber der Prophet erklärt, dass sein Trauern ununterbrochen fort ging.

V. 11. Vor deinem Dräuen und Zorn. Die Traurigkeit entsprang nicht einfach aus Leiden und Lasten, sondern aus der Empfindung davon, dass die Strafe von Gott verhängt war. Sicherlich muss uns nichts tiefer verwunden, als wenn wir fühlen, dass Gott gegen uns steht. Der Prophet meint also dies: Herr, ich richte meine Gedanken nicht bloß auf das, was unheiligen Menschen in den Sinn kommen würde, sondern vielmehr auf deinen Zorn; denn wenn du nicht wider uns stündest, würden wir des Erbes genießen, das du uns schenktest, aus dem uns mit Recht dein Grimm vertrieben hat. Wir empfangen hier eine nützliche Mahnung, dass wir nicht bloß stumpfsinnig seufzen sollen, wenn Gottes Hand uns schlägt, sondern vor allem den Grund erwägen und uns ernstlich demütigen sollen.

Dass du mich emporgehoben und zu Boden gestoßen hast. Diese Aussage verträgt eine doppelte Deutung. Sie könnte auf ein besonders gewaltsames Niederwerfen zielen, wie man denn einen Menschen, den man hart auf die Erde schleudern will, zuvor emporhebt. Doch scheint es vielmehr ein anderer Gedanke zu sein, durch welchen der Schmerz als besonders groß dargestellt werden soll. Nichts ist bitterer, als dass Menschen aus einem glücklichen Stande herab geworfen und in das tiefste Elend gestoßen werden. So ergeht hier eine schmerzliche Klage darüber, dass Gottes Volk der glänzenden Wohltaten, die es einst schmückten, beraubt war. Gerade die Erinnerung an diese Wohltaten Gottes, die tröstlich hätte wirken sollen, machte den Schmerz noch bitterer. Es war aber nicht Undankbarkeit, dass den Juden die vergangenen Wohltaten Gottes ein Stoff zur Traurigkeit wurden, da sie ja anerkannten, dass sie durch eigene Schuld so elend und jämmerlich entblößt waren. Denn Gott hat keine Freude daran, eine Veränderung herbeizuführen und uns seiner Güte nach kurzem Genuss zu berauben: seine Güte ist vielmehr unausschöpflich, darum würde sein Segen uns ununterbrochen zufließen, wenn unsere Sünden seinen Lauf nicht hemmten. Dass also die Erinnerung an Gottes Wohltaten unsere Schmerzen lindern sollte, besteht zusammen mit der andern Tatsache, dass wir über unsern Fall aus so großer Höhe doppelten Schmerz empfinden; wird es doch nun offenbar, dass wir den Zorn Gottes gereizt haben, so dass er seine freundliche und wohltätige Hand von uns abziehen musste. So mögen wir auf der einen Seite bedenken, dass Gottes Bild, welches in Adam zu sehen war, ein Abglanz der himmlischen Herrlichkeit war; auf der andern Seite stößt uns die schändliche Hässlichkeit auf, mit welcher Gott uns zum Zeichen seines Zornes brandmarkte. Darum wird uns eben jene Gegenüberstellung umso tiefer verwunden. So oft also Gott uns von dem Schmuck entblößt, den er uns geschenkt hatte, und uns nun in unserer Schande hinstellt, sollen wir dies als einen desto größeren Grund zur Trauer empfinden, weil wir das Licht durch unsere Schuld in Finsternis verwandelt haben.

V. 12. Meine Tage sind wie ein lang gestreckter Schatten. Wenn die Sonne im Mittag über unsern Häuptern steht, lassen sich bekanntlich plötzliche Veränderungen des Schattens viel weniger beobachten, als wenn sie beginnt, sich zum Untergang zu neigen: dann wechselt der Schatten beinahe in jedem Augenblick. Dies ist der Grund, weshalb der Prophet ausdrücklich von einem lang gestreckten Schatten spricht. Scheint nun auch das, was er im Namen der gebeugten Gottesgemeinde hier ausspricht, allen Sterblichen gemein zu sein, so passt dieser Ausdruck doch ganz besonders für die unglücklichen Zustände der Verbannung. Allerdings ist es wahr, dass wir, sobald wir zum Greisenalter uns neigen, in kurzer Zeit ganz zusammensinken: aber eben darüber klagt der Prophet, dass das Volk Gottes davon bereits auf der Höhe seines Lebensalters betroffen worden sei. Denn als seine „Tage“ bezeichnet er seinen ganzen Lebenslauf. Er will damit sagen, dass die Verbannung für die Frommen wie der Untergang der Sonne war, da sie ja schnell dahin sanken. Endlich wiederholt er das Gleichnis vom verdorrten Gras, dessen er sich schon bediente. Er beschreibt damit das Leben in der Verbannung als ein mit traurigen Zufällen angefülltes, welche den Lebenssaft vertrocknen ließen. Man soll sich nicht wundern, dass jene Lebenslage schlimmer hätte sein müssen als ein hundertfacher Tod, hätten sie sich nicht durch die Hoffnung künftiger Erlösung aufrechterhalten dürfen. Waren sie auch nicht völlig durch die Anfechtung erdrückt, so musste es ihnen doch nicht geringe Traurigkeit bereiten, von Gott verworfen zu sein.

13Du aber, Herr, bleibest ewiglich, und dein Gedächtnis für und für. 14Du wirst dich aufmachen und über Zion erbarmen; denn es ist Zeit, dass du ihr gnädig seiest, und die Stunde ist kommen. 15Denn deine Knechte haben seine Steine lieb, und es jammert sei seines Staubes.

V. 13. Du aber, Herr, bleibest ewiglich. Es scheint ein schwacher Trost, dass der Prophet Gottes ewigen Bestand sich vorhält, um sich zu guter Hoffnung zu erwecken. Denn was hilft es uns, dass Gott unveränderlich und unbewegt auf seinem himmlischen Throne sitzt, während unsre gebrechliche und hinfällige Lage uns nicht erlaubt, auch nur einen Augenblick zu stehen? Ja, aus der Erkenntnis der seligen Ruhe, welche Gott genießt, ergibt sich nur noch deutlicher, dass unser Leben ein bloßes Spiel ist. Aber indem der Prophet uns an die Verheißungen erinnert, in denen Gott bezeugt hatte, dass ihm seine Gemeinde am Herzen liegen solle, und besonders an jenes herrliche Hauptstück des Bundes (2. Mos. 25, 8): „Ich will in eurer Mitte wohnen,“ – spricht er im Vertrauen auf dies heilig und unlösliche Band unbedenklich den im Staube liegenden Frommen Anteil und Gemeinschaft an der himmlischen Herrlichkeit zu, in der Gott wohnt. Darauf deutet die Wendung: und dein Gedächtnis für und für. Denn was sollte es uns nützen, dass Gottes Wesen ewig besteht, wenn nicht auf Grund des in freier Gnade geschlossenen Bundes in unsern Herzen die Erkenntnis Gottes lebendig wäre, aus welcher die Zuversicht erwächst, dass eine Verbindung zwischen uns und ihm besteht? Alles in allem: wenn wir auch sind wie trockenes Gras, in jedem Augenblick zusammenbrechen, immer am Rande des Grabes wandeln, ja schon gleichsam im Grabe wohnen, so hat doch Gott mit uns einen Bund geschlossen und verheißen, seines Volkes Hüter zu sein, er hat sich an uns gebunden mit der Erklärung, immer in unserer Mitte wohnen zu wollen; darum dürfen wir gute Hoffnung hegen. Wenn wir mit unseren Gedanken an uns selbst hängen bleiben, kommen wir freilich über die Verzweiflung nicht hinaus; aber wir sollen unsre Sinne zum Himmelsthron emporrichten, von welchem Gott uns endlich seine Hand entgegenstrecken wird. Wer einigermaßen in der Schrift bewandert ist, lernt, wenn ein vielfacher Tod uns umdrängt, daran gedenken, dass der Herr sich immer gleich bleibt und kein Schatten ihn verdunkelt, so dass er uns immer helfen kann. Und er will und wird es auch tun: denn wir haben sein Wort, durch welches er sich an uns gebunden und sein Gedächtnis bei uns gestiftet hat, welches eine heilige und untrennbare Gemeinschaft in sich birgt.

V. 14. Du wirst dich aufmachen. Hier wird jene Folgerung ausgesprochen, die ich darlegte: Gott ist ewig, also wird er sich über Zion erbarmen. Wir müssen aber seine Ewigkeit in seinem Gedächtnis oder Wort betrachten, in welchem er sich uns verpflichtet und die Sorge für unser Heil auf sich nimmt. Weil es ihm an Macht nicht fehlt und er auch unmöglich sich selbst verleugnen kann, brauchen wir nicht zu fürchten, dass etwa sein Versprechen im entscheidenden Augenblick unerfüllt bliebe. Dass Gott sich „aufmachen“ wird, haben wir, wie öfter schon dargelegt, als einen Ausdruck zu verstehen, der in Rücksicht auf unsere Erfahrung gewählt wurde. Wenn auch Gott unveränderlich ruht, so beweist er doch seine Erhabenheit, wie man zu sagen pflegt, durch einen äußeren Akt, in welchem er seine Macht offenbart. Den Grund der Wiederherstellung der Gemeinde erkennt der Prophet nun in Gottes Erbarmen. Er verfolgt dasselbe in doppelter Richtung und bedient sich dafür verschiedener Worte. Einmal kann man Gottes Erbarmen unter dem Gesichtspunkt betrachten, dass für menschliche Verdienste kein Raum ist und Gott nicht von außen her zum Aufbau seiner Gemeinde sich bestimmen lässt: so liegt der Grund in seiner freien Gnade. Auf einer zweiten Stufe redet der Prophet von Gottes Erbarmen, wie es sich an die Verheißungen bindet: Es ist Zeit, dass du gnädig seiest, und die Stunde ist kommen. Es war die Absicht des Propheten, Gottes Erbarmen hoch zu erheben, damit die Gläubigen wüssten, dass in ihm ihr Heil beschlossen liegt. Und er deutet auf die von Gott selbst angesagte Stunde. Damit blickt er ohne Zweifel auf eine Weissagung des Jeremia (29, 10; 2. Chron. 36, 22) zurück. Denn wenn die Gläubigen nicht bei der langen Dauer des Elends müde werden sollten, mussten sie auf der Hoffnung ausruhen, dass der Gefangenschaft vom Herrn ein Ende bestimmt sei und sie nicht länger als siebenzig Jahre währen solle. Wir sahen auch, dass dem Daniel (9, 2) dieser Gedanke geläufig war, als er für die Wiederherstellung der Gemeinde betete. So wollte auch jetzt der Prophet an jene berühmte Weissagung von der Gefangenschaft erinnern, um sich und anderen zu furchtlosem Gebet Mut zu machen. Wenn wir uns in unseren Gebeten nicht immer Gottes Verheißungen vergegenwärtigen, steigen ja unsere Wünsche nur wie Rauch in die Luft. Bemerkenswert ist auch, dass der Prophet, obwohl die bestimmte Zeit der Erlösung herannahte und schon beinahe erfüllt war, doch nicht von den Bitten absteht, zu welchen Gott in seinem Wort uns aufruft. Und obwohl die Zeit fest bestimmt war, hört der Prophet doch nicht auf, an die freie Gnade sich zu wenden, indem er den Herrn an seine Zusage erinnert: denn die Verheißungen, in welchen Gott sein Wort verpfändet hat, können doch seine Gnade nicht verdunkeln.

V. 15. Denn deine Knechte haben seine Steine lieb. Es scheint, dass der Psalm gedichtet wurde, bevor der Erlass des Kyrus über die Rückkehr des Volkes ergangen war. Der Prophet redet nun von der ganzen Gemeinde und will etwa sagen: nicht bloß ein einzelner Mensch hegte dieses Begehren, sondern die ganze Gemeinde stimmte darin zusammen. Um auf den Herrn desto tieferen Eindruck zu machen, ruft der Prophet alle Frommen, so viele ihrer damals in der Welt waren, als seine Mitbeter auf. Es ist eine ganz gewaltige Stärkung der Zuversicht, wenn eine Person ihre Bitten im Namen einer großen Gemeinschaft vortragen darf, wovon auch Paulus zu sagen weiß (2. Kor. 1, 11). Mit großem Nachdruck deutet die Rede auf Zions „Steine“, also auf den wüsten Haufen, der nach der Zerstörung übrig blieb. Sie gibt damit zu verstehen, dass die Gläubigen nicht bloß früher von dem Glanz des Tempels hingenommen waren, als derselbe die Augen der Menschen auf sich zog und alle Sinne zur Bewunderung hinriss: auch wenn jetzt der Tempel zerstört war und man nur hässliche Ruinen sah, bleibt die Liebe der Gläubigen doch daran haften und erkennt in den zerbrochenen und wüsten Steinen Gottes Herrlichkeit. Da der Tempel unter Gottes Leitung erbaut und seine Wiederherstellung von ihm verheißen war, mussten sich die Gläubigen mit ihrer Empfindung noch an seine Ruinen klammern. Dabei wussten sie, um durch den Spott der Heiden sich nicht völlig erschüttern zu lassen, in Gottes Wort noch etwas anderes erschauen, als jetzt vor Augen lag. Sie wussten, dass der Ort dem Herrn heilig war, und dass dort der Tempel wieder errichtet werden sollte: darum streifen sie als Gläubige die Ehrfurcht vor dem Tempel nicht ab, obwohl seine Steine zerbrochen und ordnungslos als ein unnützer Schutt umher lagen. Je trauriger also die Gemeinde verwüstet ist, desto weniger sollen wir die Liebe zu ihr erkalten lassen. Vielmehr soll dieser erbarmungswürdige Zustand uns Seufzer und Bitten entlocken. Wäre es doch nicht nötig, in unserer Zeit an diese Lehre erinnern zu müssen! Gewiss hat Gott hier und dort seine Tempel, in denen man ihn rein und lauter verehrt; aber im Blick auf den ganzen Erdkreis müssen wir sagen, dass sein Wort mit Füßen getreten und seine Anbetung mit zahllosen Entweihungen befleckt wird. Darum ist sein heiliger Tempel überall in trauriger Weise zerbrochen, und jene kleinen Gemeindlein, in welchen der Herr wohnt, sind zerrissen und zerstreut. Was sind diese Hütten im Vergleich mit jenem glänzenden Gebäude, welches bei Jesaja, Hesekiel und Sacharja beschrieben wird! Aber keine Verödung soll uns hindern, die Steine und den Staub der Gottesgemeinde zu lieben. Mögen die Papisten ihr stolzes Wesen treiben bei ihren Altären, gewaltigen Domen und allerlei Pracht, - dieser ganze unheilige Glanz ist vor Gott und den Engeln ein Gräuel, aber die Ruinen des wahren Tempels sind heilig.

16Und die Heiden werden den Namen des Herrn fürchten, und alle Könige auf Erden deine Ehre, 17denn der Herr bauet Zion und erscheinet in seiner Ehre. 18Er wendet sich zum Gebet des Verlassenen, und verschmähet ihr Gebet nicht. 19Das werde geschrieben auf die Nachkommen; und das Volk, das geschaffen soll werden, wird den Herrn loben.

V. 16. Und die Heiden werden den Namen des Herrn fürchten. Dies ist die Frucht der Erlösung, dass dadurch Gottes Ehre vor Völkern und Königen groß wird. Zwischen den Zeilen kann man hier lesen, dass die Unterdrückung der Gemeinde auch der Ehre Gottes Abbruch tut, wie denn damals ohne Zweifel die Gottlosen über den Gott Israels spotteten, als könne er den Seinen nicht helfen. Der Prophet sagt also, dass es ein herzliches Zeichen der Macht Gottes sein wird, wenn er sein Volk erlöst: die Heiden werden sich zur Ehrfurcht gegen den Gott gezwungen sehen, den sie verhöhnen. Denn es heißt (V. 17), dass der Herr in seiner Ehre erscheinet, wenn er seine Gemeinde aus der Finsternis des Todes herausführt, wie es im Blick auf die erste Erlösung anderwärts heißt (Ps. 114, 2): „Da ward Juda sein Heiligtum, Israel seine Herrschaft.“ So erscheint hier der Herr in seiner Herrlichkeit, wenn er sein zerstreutes Volk sich wieder sammelt und seine Gemeinde gleichsam aus dem Tode erweckt. Welch ein Trost! So groß ist Gottes Liebe gegen uns, dass er seine Herrlichkeit durch unsere Errettung leuchten lassen will. War nun auch inmitten der Trübsale den Gläubigen die Kraft Gottes verborgen, so haben sie dieselbe doch immer mit den Augen des Glaubens und im Spiegel der Verheißungen geschaut.

V. 18. Er wendet sich zum Gebet. Dass die Erlösung auf das Gebet der Gläubigen zurückgeführt wird, erscheint bemerkenswert. Gewiss hat den Herrn nichts als reine Erbarmung dazu bestimmt, die Gemeinde zu erlösen, wie er denn aus freier Gnade versprochen hatte, dies zu tun. Um aber die Gläubigen zu eifrigem Gebet anzuspornen, verheißt er als Gabe für ihr Gebet, was er doch aus freien Stücken tun wollte. Dies beides streitet nun nicht wider einander, dass die Rettung der Gemeinde aus Gottes freiem Erbarmen quillt, und dass sie doch zugleich eine gnädige Erhörung des Gebets ist. Denn da an Gottes gnädige Verheißungen Gebete der Gläubigen geknüpft sind, so vermittelt sich ihr wirklicher Vollzug eben durch diese. Das Gebet des Verlassenen ist nicht als das Gebet bloß eines Menschen gedacht, wie denn alsbald die Rede in die Mehrzahl übergeht. Alle Juden sind solche Verlassenen, solange sie, fern vom Vaterlande, auf fremdem Boden wohnen mussten. Mochten Assyrien und Chaldäa besonders fruchtbare und schöne Länder sein, - die Juden weilten dort als arme Verbannte wie in der Wüste. Wie nun damals das verlassene Volk durch sein Seufzen Gottes Gnade gewann, so wird auch heute der Herr trotz ödester Zerstreuung die Seufzer seiner Gläubigen erhören, obwohl sie zerstreut sind und des rechtmäßigen Gottesdienstes entbehren1). Mögen sie nur in treuer Gemeinschaft des Glaubens sich der Wiederherstellung der Gemeinde entgegenstrecken!

V. 19. Das werde geschrieben auf die Nachkommen. Jetzt rühmt der Dichter die Frucht der Erlösung noch höher, um sich und alle anderen in der Hoffnung zu stärken, dass sie kommen werde. Dies Werk Gottes wird so denkwürdig sein, dass sein Lob bis auf die spätesten Geschlechter währt. Es gibt viele rühmenswerte Ereignisse, deren Andenken doch erlischt; aber die Rettung der Gemeinde, um welche der Prophet betet, soll sich hoch über die alltäglichen Wohltaten erheben. Indem ihre Geschichte geschrieben wird, empfängt sie ein würdiges und öffentliches Denkmal, welches die Erinnerung an sie den Nachkommen übermittelt. Dass ein neues Volk geschaffen werden soll, hebt sich gegensätzlich von dem jetzigen Untergang ab. Nachdem Gott sein Volk verworfen hatte, war die Gemeinde gleichsam erloschen. Ihr Name schien erstorben, da die Juden mit unheiligen Heiden vermischt waren und keinen Volkskörper mehr bildeten. So war die Rückkehr wie eine zweite Geburt, so dass der Prophet Grund hat, auf eine neue Schöpfung zu hoffen. Mochte die Gemeinde untergegangen sein, er war doch überzeugt, dass Gottes wunderbare Kraft sie von neuem beleben und auferstehen lassen werde. Eine sehr bemerkenswerte Stelle, die uns lehrt, dass der Herr keineswegs immer seine Gemeinde in augenfälliger Gestalt erhält, dass er sie aber, wenn sie erstorben scheint, plötzlich von neuem schafft, so oft es ihm gefällt. Keine Zerstörung also darf uns diese Hoffnung rauben; hat Gott einmal die Welt aus nichts erschaffen, so ist es auch sein eigenes Werk, die Gemeinde aus den Schatten des Todes zu reißen.

20Denn er schauet von seiner heiligen Höhe, und der Herr siehet vom Himmel auf die Erde, 21dass er das Seufzen des Gefangenen höre, und losmache die Kinder des Todes; 22auf dass sie zu Zion predigen den Namen des Herrn und sein Lob zu Jerusalem, 23wenn die Völker zusammenkommen und die Königreiche, dem Herrn zu dienen.

V. 20. Denn er schauet von seiner heiligen Höhe. Jetzt erfasst der Prophet die Erlösung, der er seufzend und ängstlich sich entgegenstreckte, als wäre sie bereits geschehen. Damit aber eine solche Wohltat nicht durch menschliche Böswilligkeit verdunkelt werde, schreibt er den Ruhm derselben mit klaren und ausdrücklichen Worten dem Herrn zu; wie denn in allerlei Weise das Volk gezwungen wurde, Gottes Hand zu erkennen. Um zu bezeugen, dass Gott sein Gericht ergehen ließ, wurde die Niederlage vorausgesagt, längst ehe das Volk in die Verbannung ging. Zugleich wurde die Erlösung verheißen und ihr Eintritt auf das siebzigste Jahr festgesetzt. So konnte menschliche Undankbarkeit keinen anderen Grund für die Rückkehr ersinnen und erdichten, als Gottes reine Güte. So heißt es: der Herr siehet vom Himmel, damit die Juden ihre Rettung, die offensichtlich vom Himmel kam, nicht der Gnade und Gunst Kyrus zuschreiben möchten. Die „heilige Höhe“, von welcher Gott herabschaut, ist eben der Himmel. Denn wenn sonst der Tempel Gottes Wohnung heißt (Ps. 26, 8; 76, 3), so gilt dies nur in Rücksicht auf die Menschen. Damit wir von Gott nichts Irdisches gedenken, bezeichnet er auch den Himmel als seine Wohnstätte, - nicht als wäre er darin eingeschlossen, sondern damit wir uns über die Welt emporschwingen, wenn wir ihn suchen. Darauf (V. 21) wiederholt der Prophet, was er schon von der Erhörung des Gebets sagte. Er will damit die Herzen der Frommen zum Beten anspornen. Wenn sie dann die Befreiung erleben, sollen sie dieselbe als eine Gabe für ihren Glauben empfinden; denn im Vertrauen auf die Verheißungen haben sie ihr Seufzen nach oben geschickt. Als Gefangene oder „Gefesselte“ werden sie bezeichnet, weil ihnen die Verbannung wie ein hartes Gefängnis war, wenn man sie auch nicht gerade mit Fesseln gebunden hatte. Kinder des Todes heißen sie und sollen daraus abnehmen, dass sie verloren gewesen wären, hätte nicht Gottes besondere Kraft sie aus dem Tode gerissen.

V. 22. Auf dass sie zu Zion predigen usw. Hier wird eine noch größere und reichere Frucht der Erlösung gepriesen, als zuvor; nicht bloß die Juden werden sich sammeln, dem Herrn Dank zu sagen, sondern wenn sie in ihr Vaterland zurückgekehrt sind, sollen mit ihnen auch Völker und Könige in Einheit des Glaubens zusammenkommen, dem Herrn zu dienen. Es war nun damals ganz unglaublich, dass nicht nur in dem zerstörten und niedergerissenen Tempel bald Gottes Lob erklingen werde, wie ehedem, sondern dass auch von allen Seiten die Völker kommen sollten, um sich mit den Juden, die jetzt wie ein verwesender Leichnam waren, sich zur Verehrung Gottes zusammenzuschließen. Dass Gott den Ort, den er sich erwählt hatte, unmöglich für immer verlassen könne, darauf gründete der Prophet die Hoffnung auf eine Rückkehr des Volkes. Dass aber Gottes Name von allen Völkern angebetet werden wird, soll ein neuer Anlass sein, den Herrn zu loben; seine Gemeinde wird nicht nur aus einem Volk, sondern aus dem ganzen Erdkreis sich zusammensetzen. Wir wissen, dass dies durch Christus erfüllt wurde, wie auch Jakobs Weissagung es bezeugt hatte (1. Mos. 49, 10): „Zu ihm werden die Heiden sich sammeln.“ Wie es nun überhaupt der Propheten heilige Gewohnheit ist, beim Blick auf die Erlösung über die babylonische Gefangenschaft hinaus bis auf Christi Ankunft zu schauen, so bleibt auch unser Psalm nicht bei einem Stück stehen, sondern verfolgt Gottes Gnade bis zum letzten Ziel. Gewiss ist es nun nicht nötig, nach Jerusalem hinaufzugehen, um sich zu Christus zu bekehren; aber der Prophet bedient sich in geläufiger Weise dieser Form des alttestamentlichen Kultus als des Symbols wahrer Frömmigkeit. Übrigens wollen wir aus dieser Stelle lernen, dass Gottes Name am besten verherrlicht wird, wenn seine Erkenntnis sich ausbreitet und seine Gemeinde wächst, welche darum eine Pflanzung zum Preise des Herrn heißt (Jes. 61, 3).

24Er demütigt auf dem Wege meine Kraft, er verkürzet meine Tage. 25Ich sage: Mein Gott, nimm mich nicht weg in der Hälfte meiner Tage! Deine Jahre währen für und für. 26Du hast vormals die Erde gegründet, und die Himmel sind deiner Hände Werk. 27Sie werden vergehen, aber du bleibest. Sie werden alle veralten wie ein Gewand; sie werden verwandelt wie ein Kleid, wenn du sie verwandeln wirst; 28du aber bleibest, wie du bist, und deine Jahre nehmen kein Ende. 29Die Kinder deiner Knechte werden bleiben, und ihr Same wird vor dir gedeihen.

V. 24. Er demütiget auf dem Wege meine Kraft. Diese Klage beziehen manche Ausleger meines Erachtens unpassend allein auf die Zeit der Belästigungen, die man den Juden noch antat, nachdem ihnen bereits die Freiheit zur Rückkehr gewährt war. Vom „Wege“ wird vielmehr in bildlichem Sinne gesprochen. Das Ziel, welchem das Volk des alten Bundes entgegenging, war die Erscheinung Christi; nun klagen sie mit Recht, dass sie mitten auf dem Wege dorthin gedemütigt wurden. Sie halten auf diese Weise dem Herrn seine Verheißung vor. Sind sie doch nicht vorwitzig, sondern seiner Zusage folgsam auf diesen Weg getreten. Und nun hat seine Hand sie mitten im Lauf gebeugt. Sie rechten zwar nicht mit Gott, als hätte er sie in ihrer Hoffnung betrogen; aber in der festen Überzeugung, dass er mit seinen Anbetern nicht trüglich handeln könne, klagen sie, um sich zu guter Hoffnung zu stärken. In demselben Sinne fügen sie hinzu: Er verkürzet meine Tage. Denn sie blicken auf die Zeit der Erfüllung, die ja noch immer in der Schwebe blieb, solange Christus nicht geoffenbart war. Daher auch die Fortsetzung (V. 25): Nimm mich nicht weg in der Hälfte meiner Tage. Die Zwischenzeit nämlich, bis zur Erscheinung Christi, wird mit der halben Lebenszeit verglichen, da ja, wie wir sagten, die Gemeinde Christi erst mit der Erscheinung Christi ihr volles Alter erreicht. War nun auch jenes Unglück vorausgesagt, so hätte es doch dem Wesen des Bundes entsprochen, dass Gott sein Volk unter seiner Hand hegte und schützte; darum war die Gefangenschaft ein gewaltsamer Bruch, und die Gläubigen dürfen umso größere Zuversicht schöpfen zu dem Gebet, dass sie nicht vor der Zeit mitten auf dem Wege hingerafft werden möchten. Damit bestimmen sie nicht willkürlich die Länge ihres Lebens; vielmehr hatten sie gutes Recht, den Herrn an seine Verheißung zu erinnern, der sie aus Gnaden angenommen und ihnen den Anfang des Lebens als ein Unterpfand dafür geschenkt hatte, dass er sie bis zu Christi Ankunft geleiten werde. Es ist, als sprächen sie: „Herr, du hast uns nicht ein Leben versprochen für drei Tage oder einen Monat oder wenige Jahre, sondern das währen soll, bis du den ganzen Erdkreis erneuerst und alle Völker unter die Hand deines Christus sammelst. Was soll es also, dass wir mitten im Lauf zugrunde gehen?“ Der nun beigefügte Grund scheint freilich nicht durchschlagend: Deine Jahre währen für und für. Sind etwa die Menschen ewig, weil Gott es ist? Aber wir haben schon früher (zu Ps. 90, 2) dargestellt, inwiefern sich unsere Heilszuversicht sehr wohl auf Gottes Ewigkeit gründen kann. Gott will nicht allein in seinem verborgenen Wesen, sondern auch in seinem Wort als ewig erkannt werden, wie es bei Jesaja (40, 6) heißt: „Alles Fleisch ist Heu und alle seine Herrlichkeit wie des Grases Blume. Aber des Herrn Wort bleibet in Ewigkeit.“ Wie er uns nun durch das Wort an sich gebunden hat, mag immerhin unsere Gebrechlichkeit von seiner himmlischen Herrlichkeit weit abstehen, - unser Glaube muss doch zu jener seligen Höhe empor dringen, aus welcher Gott auf unsern Jammer herabblickt. Auch noch aus einem andern Grunde stellt der Prophet Gottes ewiges Leben und des Menschen kurzen Lebenslauf gegeneinander; er will den Herrn zum Erbarmen bewegen, indem er sein Auge darauf lenkt, wie schnell die Menschen vorübergehen und wie bald sie verschwinden.

V. 26. Du hast vormals die Erde gegründet usw. Was wir soeben hörten, wird noch weiter ausgeführt: die ganze Welt ist im Gegensatz zum ewigen Gott ein flüchtiges Bild. Alsbald aber (V. 29) folgt der Hinweis, dass die Gemeinde diesem allgemeinen Los entnommen ist, weil sie auf Gottes Wort gegründet wurde und unter Hut eben dieses Wortes steht. Zwei Gedankenglieder also heben sich voneinander ab: Wenn schon die Himmel vor Gott wenig anders sind als ein Rauch, so unterliegt vollends das Menschengeschlecht einer Gebrechlichkeit, die Gottes Erbarmen erregen muss. Aber wie unbeständig Himmel und Erde sein mögen, das Heil der Gemeinde wird immer feststehen, weil es durch Gottes ewige Wahrheit gestützt ist. Durch das erste Gedankenglied werden die Gläubigen gelehrt, wenn sie vor Gottes Angesicht treten, in demütiger Beugung zu bedenken, wie flüchtig und hinfällig ihr Wesen ist, damit sie nichts als ihre Nichtigkeit vor Gott bringen. Denn wenn man Gnade gewinnen will, ist solche Demütigung der erste Schritt: Gott hat versprochen, dass unser Elend ihn rühren und zur Gnade stimmen soll. Sehr passend ist nun der vergleichende Hinweis auf die Himmel: wie viel höheren Alters sind sie, als unser kurzes Leben, das so schnell vorübergeht, oder besser, vorüber fliegt! Wie viele Geschlechter der Sterblichen sind verflossen, seitdem die Himmel ihr Wesen haben und unaufhörlich umschwingen“ Und ihr wohlgeordneter, herrlicher Bau verkündet, dass sie ein Werk der Hände Gottes sind. Aber weder ihr Alter noch ihre wohlgeordnete Schönheit erhebt sie über die Vergänglichkeit. Wie wird es erst uns armen Sterblichen ergehen, die fast nur geboren werden, um zu sterben! Jedes Stück unseres Lebens neigt sich schnellem Tode entgegen. Alles in allem: wohin wir die Augen wenden, begegnet uns Verzweiflung, bis wir Gottes gedenken. Denn was anders ist in uns als Verwesung? Was anders sind wir selbst als ein Spiegel des Todes? Ja, was anders ist die fortwährende Verwandlung der ganzen Welt als eine Vorahnung und ein Vorspiel des Untergangs? Wenn das ganze Weltgebäude sich seinem Ende entgegenbewegt, was wird mit dem Menschengeschlecht werden? Wenn alle Völker untergehen, wie können die einzelnen Menschen Bestand haben? Wir sollen also nirgend anders als allein in Gott unsern Bestand suchen.

V. 29. Die Kinder deiner Knechte usw. Diese Worte lassen ersehen, dass der Prophet für die Erhaltung der Gemeinde nicht bittet, sofern sie ein Teil des Menschengeschlechts ist, sondern weil Gott sie über die Wandlungen der Welt emporgehoben hat. Nimmt er uns doch ohne Zweifel eben deshalb zu seinen Dienern an, damit er uns in seinem Schoße hege. Darum ist es kein fern liegender Schluss, dass der Prophet inmitten der zahllosen Stürme, von denen jeder einzelne uns wegraffen könnte, für die Gemeinde festen Bestand erhofft. Sind wir auch durch unsere Schuld dem Herrn fremd geworden und zugleich von der Lebensquelle abgeschnitten, so beginnt dieselbe doch uns wieder zuzufließen, sobald wir mit Gott ausgesöhnt sind. Darum müssen die Gläubigen, die aus unvergänglichem Samen wiedergeboren sind, den Tod überleben, denn Gott bleibt immer derselbe. Denn dass sie „bleiben“, deutet auf ein festes und ewiges Erbe. Hinzugefügt wird „vor dir, “ d. h. vor Gottes Angesicht. Denn das Heil der Gläubigen ist nicht in ihrem Verhältnis zur Welt oder nach der gemeinen Weise Himmels und der Erde so gesichert, sondern allein durch die heilige Verbindung, in der sie mit Gott stehen. Als Kinder und Same der Frommen dürfen nicht alle ihre oft entarteten, fleischlichen Nachkommen gelten, sondern nur die im Glauben der Eltern verharren. Auf diese Forterbung aber wird ausdrücklich hingewiesen, weil der Bund, wie wir auch im nächsten Psalm sehen werden, sich auf alle künftigen Zeitalter erstrecken wird. Wenn wir also den bei uns niedergelegten Schatz des Lebens treulich bewahren, sollen wir nicht zweifeln, dass inmitten zahlloser Todesgefahren der Anker unseres Glaubens in den Himmel gesenkt ward, so dass unser fester Bestand in Gott gegründet ist.

Quelle: Müller, Karl / Menges I. - Johannes Calvins Auslegung der Heiligen Schrift - Psalter

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Dies sagt Calvin offenbar im Blick auf Frankreich, wo 1557, als er diesen Kommentar schrieb, die Evangelischen nur heimlich sich versammeln konnten.
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