Calvin, Jean - Der Prophet Jesaja - Kapitel 64.

Calvin, Jean - Der Prophet Jesaja - Kapitel 64.

V. 1. Ach, dass du den Himmel zerrissest usw. Die Gläubigen sprechen hier ihr Verlangen in ungewöhnlich glühender Weise aus, wie es zu geschehen pflegt, wenn wir unter dem Druck großer Not unserem Empfinden keinen entsprechenden Ausdruck in gewöhnlicher Rede zu geben vermögen. Dass der Gott den Himmel zerreißt, sagt man, wenn er irgendein einzigartiges, merkwürdiges Zeichen seiner Kraft gibt, und zwar unvermutet. Man gebraucht diesen Ausdruck, nicht nur weil die Menschen in ihren schweren Nöten zum Himmel emporblicken und von dort Hilfe erwarten, sondern auch weil die Wunder unter Durchbrechung der Naturordnung sich einen ungewöhnlichen Weg bahnen. Gott aber scheint in den Himmel eingeschlossen und gleichgültig zu sein gegen das, was auf Erden geschieht, wenn er uns ohne Hilfe lässt. Deshalb sagt man, dass er den Himmel zerreiße und öffne, wenn er, der nach unserer Meinung weit entfernt ist, uns irgendein Zeichen seiner Gegenwart gibt. Dieser Ausdruck aber wird gebraucht mit Rücksicht auf unser fleischliches Verständnis. Ebenso verhält es sich mit dem Wunsch: und führest herab. Gott braucht ja nicht seinen Platz zu verlassen. Wir sollen nur dadurch alles besser verstehen. „Dass die Berge zerflössen“ bedeutet: deine Majestät möge sich öffentlich zeigen, dass die davon erschütterten Elemente zurückweichen und dir zu Dienst stehen. Im Folgenden wird das noch ausführlicher dargestellt.

Wie ein heiß Wasser usw. Dies alles kann als in der Zukunft liegend gedacht und in Form eines Wunsches übersetzt werden (V. 2): dass du so herabführest! Vielleicht wäre aber die Übersetzung in der Vergangenheitsform noch einfacher: so bist du herabgefahren. Denn jedenfalls erinnert der Prophet an die Erscheinung Gottes auf dem Berge Sinai, da der Herr sich seinem Volke kundmachte. Diese Anspielung soll zur Bekräftigung des zuvor ausgesprochenen Wunsches dienen, Gott möge den Himmel zerreißen und herabfahren. Wir haben nun schon anderwärts gesehen, dass die Propheten gern an die Geschichte der Erlösung erinnern, wenn sie dartun wollen, wie Gott seinem Volk geholfen habe. Beim Hinweis auf diese Geschichte denken sie aber an alle Wohltaten, welche Gott jemals dem Volk erwiesen hat, nicht nur dass er es von der Tyrannei Pharaos befreite, dass er sich auf dem Berge Sinai offenbarte, sondern auch dass er ihm vierzig Jahre lang alle Notdurft in der Wüste gewährte und dass er es nach der Besiegung der Feinde in den Besitz des Landes Kanaan setzte. Ja, sie verstehen darunter alle Zeugnisse, durch die sich Gott seinem Volke einst gnädig, seinen Feinden schrecklich gezeigt hatte. Dass durch heftiges Feuer das Wasser versiedet, erinnert daran, dass bei Gottes Offenbarung am Sinai unter die gewaltigen Regengüsse sich in ungewöhnlicher Weise Feuer und Blitze mischten. Dass die Berge vor Gottes Angesicht zerflossen, deutet darauf, dass er seinem Volke einen Weg auch durch die schroffsten Hindernisse bahnte. Der Prophet fügt hinzu, dass die Kinder Israel Dinge schauen durften, der man sich nicht versieht. Wenn der Herr sie auch im Voraus darauf hingewiesen und bereits mancherlei Erfahrungen seiner Kraft ihnen geschenkt hatte, so überstieg doch jenes schreckhafte Schauspiel, von dem hier die Rede ist, völlig jedes menschliche Denken und Verstehen.

V. 3. Wie denn von der Welt hier nicht vernommen ist. Dieser Vers bestätigt die vorhergehenden Worte; die Frommen bitten hier um nichts Neues oder Ungewohntes, sondern nur, dass Gott sich ebenso gegen sie verhalten wie einst gegen ihre Väter und sein Wohltun fortsetzen möge; und da er den Seinigen zu Hilfe zu eilen und gewisse Zeichen seiner Gegenwart zu geben pflege, so möge er in Zukunft nicht damit aufhören, auf dass seine Kraft und Stärke mehr und mehr hervorleuchte. Jesaja lässt die Gläubigen in dieser Weise zu Gott beten, damit sie sich durch die Erinnerung an die Vergangenheit stärken und nun mit desto größerem Vertrauen ihre Zuflucht zu dem starken Gott nehmen.

Hat auch kein Auge gesehen usw. Wenn der Prophet die vielen dem Volke einst von Gott erwiesenen Wohltaten erwähnt, dann hat er zweifellos die Absicht, Gottes unermessliche Güte zu preisen. Dies ist die herrlichste Art des Lobpreises, dass er, hingerissen zur Bewunderung der göttlichen Taten, ausruft: Es gibt keinen Gott außer ihm, und unerhört und ungewöhnlich ist alles, was der Herr zur Beseligung seines Volkes angeordnet hat. Kein Ohr, will er sagen, hat gehört, kein Auge gesehen einen solchen Gott, der so handelt. So unterscheidet sich auch Gott von den Götzen, von denen abergläubische Menschen alle Gaben zu empfangen vermeinen. Jene sind nichts anderes als Gebilde menschlicher Gedanken und können weder nützen noch schaden, während Gott seinen Knechten Wohltaten aller Art verleiht. Paulus scheint diese Stelle anders auszulegen. Er führt sie (1. Kor. 2, 9) auch mit anderen Worten an, indem er der griechischen Übersetzung folgt. Die Apostel waren in diesem Stück nicht ängstlich, indem sie mehr auf den Inhalt als auf die Worte achteten. Es genügt ihnen, den Leser auf die Schriftstelle hinzuweisen, wo er das, was sie lehrten, finden konnte. Wenn nun aber Paulus anscheinend von sich aus hinzugesetzt hat: „Und ist in keines Menschen Herz gekommen, das Gott bereitet hat denen, die ihn lieben“, so ist das der Erklärung wegen geschehen. Er setzt nichts hinzu, was nicht mit der Lehre des Propheten übereinstimmt. Um seine Übereinstimmung mit dem Propheten desto besser zu verstehen, müssen wir seine Absicht uns vergegenwärtigen. Er spricht an dieser Stelle von der Lehre des Evangeliums, die über das Verstehen des menschlichen Geistes hinausgehe. Denn sie fasst in sich ein ganz eigenartiges und von unserem fleischlichen Verstehen sich unterscheidendes Wissen, sie ist eine verborgene Weisheit. Dadurch wird Paulus mit Recht zur Bewunderung derselben hingerissen. Und wie der Prophet bei der Betrachtung der wunderbaren Wohltaten Gottes gleichsam ganz erstaunt ausruft, dass niemals derartiges gehört sei, so dürfen wir auch gegenüber der herrlichen Wohltat, der Darbietung Christi durch das Evangelium, ebenso ausrufen: O Herr, was du deinem Volke gibst, übersteigt alles menschliche Verstehen; kein Auge, kein Ohr, keine Empfindung, kein Verstand kann zu solcher Höhe empordringen. So wendet also Paulus diese Stelle ganz richtig, ohne einen Missbrauch mit des Propheten Gedanken zu treiben, auf seinen Gegenstand an, indem er die besondere Gnade, die Gott seiner Gemeinde zuwendet, über die Welt erhebt. Nur bleibt noch die eine Schwierigkeit übrig, dass Paulus das, was der Prophet hier über zeitliche Segnungen sagt, aufs Geistliche überträgt. Indessen können wir sagen, dass Jesaja, wenn er auch das gegenwärtige Leben im Auge hat, doch auf die Ursache der göttlichen Wohltaten blickt. Es ist ja alles, was wir zur Erhaltung und Pflege des Lebens von Gott empfangen, ein Zeichen seiner väterlichen Güte gegen uns. Und dies ist des Glaubens Art, dass er von den sichtbaren Gnadengütern zu den unsichtbaren vordringt. Wenn also der Prophet auch anscheinend von äußerer Befreiung und anderen Gütern dieses Lebens redet, so hat er doch Höheres im Auge und schaut vor allem auf das, was sich in besonderer Weise auf das Volk Gottes bezog. Was für eine Torheit wäre es, wenn wir beim Genuss der göttlichen Wohltaten die Quelle selbst, d. h. die väterliche Liebe, außeracht ließen? Ohne Unterschied genießen Gute und Böse die gewöhnlichen Gaben, aber jene Gnade, mit der er uns umfasst, bezieht sich nur auf die Hausgenossen. So sehen wir nicht nur auf das für Menschen Sinnenfällige, sondern betrachten die Ursache selbst. Wenn nun auch weder die Augen noch die Ohren dahin dringen, dass sie die Gnade der Kindschaft erkennen, kraft deren sich Gott als unseren Vater bezeugt, so enthüllt er dies doch durch das Zeugnis seines Geistes. Wahrscheinlich ist auch der Prophet nach seiner Erörterung über die besondere Wohltat Gottes zu dieser allgemeinen Betrachtung gekommen. Denn bei dem Nachdenken über die Werke Gottes pflegen die Frommen von dem Einzelnen auf das Ganze zu kommen. So konnte dieses eine herrliche Beispiel der göttlichen Güte den Geist des Propheten dahin erheben, dass er den unermesslichen Reichtum an Gaben, der für die Gläubigen im Himmel aufbewahrt ist, bei sich betrachtete. Ja, wir erkennen es deutlich, dass bei diesem Lobpreis der Gnadenbund gemeint ist, durch den Gott die Kinder Abrahams in die Hoffnung des ewigen Lebens aufnahm. Das ist also das Ergebnis: Wenn Gottes Güte und Macht so groß ist, so dürfen wir ihm nicht misstrauen, vielmehr muss unser Vertrauen so sehr in ihm ruhen, dass unsere Hoffnung auf seine Hilfe ganz gewiss ist. Dahin zielen auch alle vom Propheten hier erwähnten, herrlichen Wohltaten Gottes.

V. 4. Du begegnetest den Fröhlichen usw. Der gleiche Gedankengang wird fortgesetzt. Das Volk beklagt ein Schicksal, dass es in seinem Unglück keinerlei Hilfe erfährt, während doch Gott einst den Vätern seine Hand entgegenzustrecken pflegte. Die Gläubigen sprechen etwa folgendermaßen: Du pflegtest unseren Vätern zu begegnen, jetzt aber ist dein Antlitz von uns abgewendet; weil wir ganz erfolglos dich anrufen, scheinst du unerbittlich zu sein. Woher kommt dieser Wechsel? Bist du ein ganz anderer geworden, als du früher warst? Sie fügen aber das Bekenntnis hinzu, dass sie mit Recht gestraft werden, weil sie gesündigt haben. Schon früher habe ich darauf hingewiesen, dass man im Unglück nichts Besseres tun könne, als sich der Wohltaten Gottes erinnern, nicht bloß solcher, die wir selbst erfahren haben, sondern auch derjenigen, von denen die Schrift berichtet. Mit diesem Schild können wir uns am besten gegen Versuchungen aller Art wappnen. Unrichtig ist es nach meiner Meinung, die beiden Satzglieder in eins zusammenzuziehen: Du begegnetest denen, die fröhlich, d. h. mit freudiger Freiwilligkeit dir dienten. Unter den „Fröhlichen“ sind vielmehr Leute zu verstehen, die über einen glücklichen Zustand sich freuen durften, während jetzt das Volk in Leid und Kummer steckte. Zu Grunde liegt ja der unausgesprochene Gegensatz: Einst pflegtest du den Vätern zu begegnen, bevor sie noch von irgendwelcher Not bedrückt waren, und sie durch deine Ankunft zu erquicken; jetzt bist du weit entfernt und lässt uns in Leid und Schmerz umkommen. Eben darauf zielt die Erinnerung, dass die Kinder Israel einst auf Gottes Wegen Gottes gedachten: sie genossen seine gegenwärtige Gnade und erkannten ihn an als den Urheber und Schützer ihres Heils. Unter den Wegen Gottes ist also eine glückliche Führung zu verstehen, sei es, dass Gott uns dadurch, dass er uns sanft und freundlich wie Söhne behandelte, nahe kam, sei es, dass er von Natur zum Wohltun geneigt ist. Da aber der Prophet sagt, dass Gott dem, der Gerechtigkeit tut, zu begegnen pflegt, so kann unser „Gedenken“ an ihn als ein Ausdruck rechter Frömmigkeit und Gottesverehrung verstanden werden. So gäbe der Prophet hier eine Erklärung des vorigen Satzgliedes. Gottes gedenken heißt, von der köstlichen Erinnerung an ihn so hingenommen werden, dass wir nicht mehr begehren, als unser Glück in ihm zu begründen. Nichts kann mehr erfreuen als das Gedächtnis der göttlichen Güte. Wenn wir aber wissen, dass Gott zürnt, versetzt uns die Erinnerung an ihn in Schrecken.

Du zürntest wohl, da wir sündigten. Obwohl also die Kinder Israel Gott auch von einer ganz anderen Seite kennen lernen, murren sie doch nicht wider ihn, sondern legen sich selbst alle Schuld bei. Daraus sollen wir lernen, dass uns beim Nachdenken über die Züchtigungen, die Gott über uns verhängt, immer unsere Sünden in den Sinn kommen müssen; wir müssen eingestehen, dass wir mit Recht gestraft werden.

Und lang drinnen blieben. Buchstäblich lautet der Satz: „Dauer darin.“ So ist eine verschiedene Ergänzung möglich. Einmal können wir dabei an unsere Sünden denken: obgleich wir lang darinnen blieben und hundertmal das Verderben verdient hätten, sind wir doch durch deine Barmherzigkeit bewahrt worden. Man kann aber auch an die Wege Gottes denken; dann wird der Grund angegeben, weshalb das Volk nicht unterging: weil Gottes Gnadenwege von unwandelbarer Dauer sind und seine Barmherzigkeit kein Ende hat, ward uns geholfen. Dieser Gedanke würde trefflich mit dem Wort des Psalms (30, 6) zusammenstimmen: „Gottes Zorn währt einen Augenblick und lebenslang seine Gnade.“ Er lässt sich nicht übereilt und maßlos dahinreißen in seinem Zorn, wie es die Menschen tun, sondern übt beständig Güte und Gnade. Doch haben wir damit den Sinn des Propheten noch nicht völlig erfasst. Er spricht davon, dass das Volk gerettet sei, während es doch in die Verbannung wie in ein Grab versenkt wurde und sein Unglück beweinen musste. So liegt hier also mehr ein Wunsch oder eine Bitte als eine Behauptung vor. Die Heiligen rühmen nicht ein Heil, das sie bereits erlangt haben, sondern beklagen ihr Unglück und flüchten sich zur ewigen Barmherzigkeit Gottes. Sie preisen also etwas, das sie erwünschen, nicht etwas, das sie schon erlangt haben.

V. 5. Aber nun sind wir allesamt wie die Unreinen. Die Gläubigen setzen ihre Klage fort, sie jammern über ihren Zustand, dass Gott ihrer nicht mehr zu gedenken scheine. Zwei Punkte müssen hier beachtet werden, einmal dass die Gläubigen ihre Schuld eingestehen und ihre Strafe als gerecht anerkennen, sodann dass sie nichtsdestoweniger sich über die Schwere der zu erduldenden Strafen beklagen, nicht um mit Gott zu rechten, sondern um ihn zur Milde zu stimmen, wie auch der Angeklagte, um den Richter zu erweichen, ihm seine Leiden und sein Unglück erzählt. Hier quälen sich einige Ausleger damit ab, dass der Prophet, indem er von dem Schmutz der Sünde spricht, ausnahmslos auf alle Juden ziele, unter denen doch noch eine Anzahl aufrichtiger Gottesverehrer übrig geblieben war. Dieses Bedenken ist überflüssig. Denn der Prophet redet hier nicht von einzelnen, sondern vom ganzen Volkskörper. Er vergleicht ihn mit einem schmutzigen Lumpen, denn er war tief hinabgestoßen unter die übrige Menschheit und in das äußerste Elend gestürzt. Manche pflegen diese Stelle zum Beweis dafür heranzuziehen, dass unsere Werke nicht bloß keinen Anspruch auf Verdienst haben, sondern vor Gott sogar widerwärtig und hässlich seien. Nach meiner Meinung liegt solches dem Propheten fern; denn er redet nicht vom ganzen Menschengeschlecht, sondern beschreibt die Klage derer, die in der Verbannung den Zorn Gottes gegen sich fühlten und darum sich mit ihrer Gerechtigkeit einem beschmutzten Lumpen ähnlich erachteten. Fürs erste fordert er sie zum Bekenntnis ihrer Sünde und zur Anerkennung ihrer Schuld auf, sodann zur Bitte um Vergebung bei Gott, die man auf diese Weise erlangen kann. Denn indem wir unser Elend und Unglück beklagen, erkennen wir es als gerechte Strafe für unsere Sünden an.

Wir sind alle verwelkt. Es ist ein äußerst anschaulicher Vergleich, dass die Menschen völlig verwelken und dahinschwinden, wenn sie Gottes Zorn fühlen, wie es so treffend gesagt wird Ps. 90, 5 und 103, 15, auch Jes. 40. Wir gleichen wirklich Blättern, die von den Verschuldungen wie von einem Winde fortgeführt werden.

V. 6. Niemand ruft deinen Namen an. Der Prophet fordert die Gläubigen auf, die göttlichen Strafen trotz ihrer scheinbaren Härte als verdiente anzuerkennen. Schwere Sünden erwähnt er. Da es zu weitläufig wäre, sie alle einzeln aufzuzählen, nennt er ihre Quelle, nämlich dass man die Verehrung Gottes vernachlässigt hat. Denn unter der Anrufung Gottes ist hier, wie öfters in der Schrift, der gesamte Gottesdienst zu verstehen; denn es ist das Hauptstück unserer Gottesverehrung, dass wir den Herrn anrufen und Zeugnis von unserem Vertrauen auf ihn geben. Zwar sind zweifellos Gebete und Gelübde immer in Übung gewesen, aber weil das Herz nicht dabei war, achtet der Prophet alle solche gemachten Zeremonien für nichts. Dies sagt er noch deutlicher mit den folgenden Worten, dass niemand ernstlich die Aufmerksamkeit auf den Herrn richte und sich Mühe gebe, Gott zu suchen, sondern dass alle zerfahren und der Trägheit völlig ergeben seien. Zunächst will er damit uns vorhalten, dass es nichts Wünschenswerteres für uns gebe als eine völlige Verbindung mit Gott. Wenn wir fern von ihm sind, geht es uns sicher in allen Dingen schlecht. Von Natur sind wir träge und langsam, deswegen bedürfen wir der Reizmittel, die uns antreiben. Da wir uns in unserer Trägheit gern gehen lassen, müssen wir den Rat des Propheten annehmen, damit wir nicht völlig abstumpfen; sonst wird Gott uns endlich zurückweisen und vor Überdruss wegstoßen. Denn der Prophet beschreibt den jämmerlichen Zustand eines Volkes, in dem es keinen Eifer im Trachten nach Gott gab und keine Möglichkeit, das Herz zur Frömmigkeit anzuregen. So müssen die Juden klagen, dass sie in ihren Sünden verschmachten: sie liegen unter schwerem Druck und erlangen keine Erleichterung von Gott. Jesaja sagt dies im Namen des ganzen Volkes und bittet Gott, dass er es nicht länger in solchem Elend verschmachten lasse.

V. 7. Aber nun, Herr du bist unser Vater. Nach der Klage über das sie fast erdrückende Elend bitten sie Gott schon mit etwas mehr Zuversicht um Verzeihung und Hilfe und halten ihm mit größerem Vertrauen vor, dass sie doch seine Kinder seien. Einzig und allein ihre Kindschaft konnte sie ja ermutigen, zu hoffen und trotz des Druckes der Trübsale in ihrem Vertrauen zu ihm nicht nachzulassen. Dieser Gedanke ist wohl zu beachten. Denn damit wir uns wirklich von Herzen demütigen, ist es uns gut, wenn wir erniedrigt, zu Boden geworfen, ja fast zertreten werden. Wenn sich aber die Verzweiflung einstellt, müssen wir dieses Unterpfand des Trostes ergreifen, dass wir auch in der schlimmsten Lage von Gott unser Heil erwarten dürfen, da er ja in Gnaden uns zu seinen Kindern auserwählt hat. Mit Rücksicht also auf den Gnadenbund rühmen sich die Israeliten, Kinder Gottes zu sein; seine väterliche Güte möchten sie erfahren, damit seine Verheißung nicht vergeblich sei. Durch das Bekenntnis, sie seien aus verachtetem Ton gemacht, heben sie die Gnade Gottes noch mehr hervor. Sie finden den Grund ihres Vorzugs nicht in sich, sondern preisen in ihrer Herkunft die Barmherzigkeit Gottes, der sich aus unansehnlichem und schmutzigem Ton Kinder erschaffen wollte. Dasselbe besagt der zweite Vergleich, in dem Gott der Töpfer oder Bildner genannt wird, das Volk aber das Werk seiner Hände; alles, was sie sind und haben, schreiben sie dem Herrn allein zu. Dies aber ist wirkliche Dankbarkeit. Denn Gott empfängt nicht sein Recht, solange die Menschen sich noch irgendetwas anmaßen. Jesaja denkt nun hier nicht an die menschliche Natur im Allgemeinen, sondern an die Wiedergeburt, derentwegen die Gläubigen recht eigentlich das Werk Gottes genannt werden. Sie erkennen hier die einzigartige Wohltat Gottes an, dass sie zu seinem Volk erwählt und mit so vielen und großen Wohltaten beschenkt sind.

V. 8. Herr, zürne nicht zu sehr. Das Volk bittet um Abwendung der harten Strafen und des schweren Zornes Gottes, nicht weil Gott über das Maß hinausginge, sondern weil sie völlig zu Grunde gehen würden, wenn er nach höchstem Recht mit ihnen handeln wollte. Sie bitten also um Linderung der Strafen, wie auch Jeremia bat (10, 24): „Züchtige mich, Herr, aber in Gerechtigkeit“, d. h. mit Maßen. Denn die Gerechtigkeit stellt er dem Zorn entgegen, wie es auch anderswo heißt, dass er uns züchtige mit menschlicher Hand, weil er die Macht seiner Hand nicht gebrauchen will, um uns bis zur Vernichtung zu strafen. Es ist zu beachten, dass die Juden nicht einfach um Abwendung des Gerichtes Gottes bitten oder demselben ganz entfliehen möchten, sondern dass sie sich willig der Züchtigung insoweit unterstellen, dass sie nur von den Schlägen nicht ertötet sein wollen. Dies ist der Grund, weshalb sie das Gedächtnis an ihre Missetaten ausgetilgt sehen möchten: denn wenn nicht Gott in seiner Gnade Verzeihung gewährt, wäre kein Ende abzusehen. Dabei erinnert der Prophet noch einmal an die göttliche Erwählung Abrahams und seines Geschlechts. Denn das Vertrauen auf Vergebung konnte sich am besten darauf gründen, dass der Gott, der in seinen Verheißungen wahrhaftig ist, nicht verwerfen kann, die er einmal erwählt hat. Dass der Prophet aber in diesem Sinne betont: wir sind „alle“ deiner Hände Werk, geht doch, wie schon gesagt, nicht unterschiedslos auf jeden Einzelnen, sondern auf den Gesamtkörper des Gottesvolkes. Wenn auch der größere Teil durch eigene Gottlosigkeit abgefallen und ausgeschieden war, so blieb doch dies bestehen, dass die Juden in besonderer Weise Gottes Volk waren. Nicht unterschiedslos für alle ist dies Gebet bestimmt, sondern nur für die übriggebliebenen Kinder Gottes. Das Volk hält Gott nicht seine Verdienste vor, sondern nimmt seine Zuflucht zu dem Gnadenbund, durch den sie zu Kindern angenommen waren. Dieser ist das einzige und sichere Asyl der Frommen, dieser das Heilmittel gegen alle Übel. Darum schärfen Mose und die anderen Propheten ihn auch so häufig ein.

V. 9. Die Städte usw. Wiederum zählt die Gemeinde ihre Nöte auf, um Gott zur Barmherzigkeit zu stimmen und seine Vergebung zu erlangen. Die Städte, sagt Jesaja, sind zur Einöde geworden; Zion ist eine Wüste, setzt er mit Nachdruck hinzu, weil es der königliche Sitz Gottes war, wo man ihn anzurufen pflegte. Auch Jerusalem erwähnt er noch, in welchem Zion lag. Es erschien unwürdig, dass die Stadt, die Gott sich geheiligt hatte, von Feinden geplündert und verwüstet wurde. Von heiligen Städten ist die Rede, weil der Herr ebenso, wie er das Volk geheiligt hatte, auch die Städte, ja sogar die ganze Gegend sich geheiligt wissen wollte. So werden also die Gott geweihten Städte mit Recht Städte seiner Heiligkeit genannt, weil Gott in ihnen herrschte und angebetet wurde. Ebenso können wir noch heute als Gottes heilige Städte solche bezeichnen, die den Aberglauben verwerfen und ihn selbst lauter und aufrichtig anbeten.

V. 10. Das Haus unsrer Heiligkeit usw. Unter anderem Gesichtspunkt pflegt der Tempel nicht des Volkes, sondern Gottes Heiligtum genannt zu werden. Hier aber bezeichnen ihn die Gläubigen als ihr Heiligtum oder ihre Heiligkeit, weil sie von ihm ihre Heiligkeit empfangen mussten. Darauf deutet noch klarer die andere Bezeichnung: Haus unserer Herrlichkeit. Die Gläubigen bekennen damit, dass sie nichts besitzen, dessen sie sich rühmen können, als den Tempel, in dem Gott verherrlicht und angebetet sein wollte. Und doch sehen wir, dass dieses Rühmen manchmal ein eitles wurde und darum vom Propheten Jeremia (7, 4) getadelt wird: „Verlasset euch nicht auf Lügen, wenn sie sagen: Hier ist des Herrn Tempel.“ Aber wie es ein verkehrtes Rühmen solcher gab, die in frecher Weise in nichtigen Prahlereien sich ergingen, so doch auch ein wahres und begründetes bei anderen, welche die Anordnungen des Herrn mit dem Herzen erfassten und dann im Vertrauen auf das Zeugnis seines Wortes wussten, dass sie unter dem Schatten dessen wohnten, der sich einen Wohnsitz unter ihnen errichtet hatte. Denn der Tempel war auf den Befehl des Herrn erbaut, damit die Juden in ihm sich mit Recht Gottes als des Beschützers ihres Heils rühmen könnten. Weil aber damals der Gottesdienst verderbt und geschändet war und fast alle zum Aberglauben und zur Gottlosigkeit abgefallen waren, so gedenkt der Prophet nicht der gegenwärtigen, sondern der früheren Zeit und will etwa sagen: Obwohl wir dir nicht den gebührenden Dienst erwiesen, so ist es doch der Tempel, in dem die Väter dich aufrichtig verehrt haben; kannst du ihn dann entheiligen und zerstören lassen? Fällt nicht, da er zur Verherrlichung deines Namens dient, diese Schmach auf dich zurück? Die Juden schweigen hier von ihrem eigenen Leben, bringen auch keine Entschuldigungen vor, bekennen vielmehr ihre Schuld; aber sie halten dem Herrn den von ihm verordneten Gottesdienst vor, damit er seines Bundes gedenke und seine Verheißungen nicht vergeblich sein lasse. Dieses Beispiel soll allen Gläubigen zur Nachahmung dienen. Dass die Väter im Tempel den Herrn gelobt haben, will besagen, dass sie ihm ihre Danksagungen brachten: in dem Tempel, dessen klägliche Trümmer allen Frommen Schmerz und Tränen auspressen, ist einst, als er sein Volk gütig und freundlich leitete, das Lob Gottes erklungen.

V. 11. Herr, willst du so hart sein? Das Volk stärkt sich mit dem festen Vertrauen, dass Gott seine Herrlichkeit nicht mit Füßen treten lassen werde, auch wenn unzählige Sünden der Menschen ihn dazu herausfordern. Die Heuchler dürfen daraus durchaus keinen Trost für sich entnehmen; dieser gilt nur solchen, die eine wahre Empfindung für die göttliche Barmherzigkeit besitzen. Diese sind trotz des drohenden Untergangs völlig davon überzeugt, dass Gott aus Rücksicht auf seine Herrlichkeit wenigstens dem Überrest seine Gnade beweisen werde, um seinen Samen nicht völlig untergehen zu lassen.

Und uns so sehr niedergeschlagen? Gott kann unmöglich seine Barmherzigkeit vergessen, denn er kann sich selbst nicht verleugnen. Mit seiner Herrlichkeit aber ist unser Heil verknüpft. Denn Jesaja sagt, nachdem er die Herrlichkeit Gottes besprochen hat, noch weiter: Du wirst uns nicht übermäßig schlagen. Gott wird also Maß halten in seinen Züchtigungen; weil unsere Errettung vom Tode Sache seiner Herrlichkeit ist, die er nicht vernachlässigen darf. Zu diesem Gebet wollen wir darum unsere Zuflucht nehmen, so oft wir von unseren Feinden bedrängt werden, nicht nach Art der Heuchler, die prahlerisch mit vollen Backen von der Herrlichkeit Gottes reden, von der sie keine Erfahrung haben, sondern in Buße und Glauben, damit wir bleibende Frucht davon erlangen.

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