Calvin, Jean - Der Prophet Jesaja - Kapitel 24.

Calvin, Jean - Der Prophet Jesaja - Kapitel 24.

V. 1. Siehe, der Herr macht das Land leer und wüste. Diese Weissagung bildet, soweit ich zu urteilen vermag, den Schluss aller vorhergehenden vom 19. Kapitel an, durch welche Jesaja nicht nur dem Reiche Juda und Israel, sondern auch den Moabitern, Assyrern, Ägyptern und andern den Untergang angekündigt hat. Nachdem er nun die den Juden bekannten und benachbarten Länder gleichsam durchzogen hat, fasst er alles noch einmal kurz zusammen. Andere Ausleger beziehen diese Weissagung auf das Reich Israel, wieder andere auf das Reich Juda und meinen, diesen werde hier den Untergang verkündigt. Da der Prophet jedoch den ganzen Erdkreis erwähnt, so kann ich diesen Abschnitt nur so auffassen, dass er alles, was er gesondert und zu verschiedenen Zeiten über die einzelnen Völker gesagt hat, jetzt in Eins zusammenfasst. Dem widerspricht nicht, dass er gleich im 2. Verse einen Priester erwähnt, wonach es scheinen könnte, das beziehe sich allein auf das Volk Gottes. Denn obschon er von allen Völkern spricht, musste Jesaja doch hauptsächlich die Juden , weil sie doch immerhin den ersten Platz einnahmen, ins Auge fassen; für diese war er ja bestimmt. Die andern Völker erwähnt er gleichsam erst in zweiter Linie. Darum darf es nicht verwunderlich erscheinen, dass er, nachdem er die andern Völker genannt hat, noch speziell von seinem Volke redet. – Andere Ausleger beziehen diese Weissagung auf den jüngsten Tag, was mir zu gezwungen vorkommt. Denn nachdem der Prophet den Juden und andern Völkern seine Drohungen vorgehalten hat, fügt er als Trost hinzu, dass der Herr einst seine Kirche wieder aufrichten und zu noch größerer Blüte bringen wird. Das passt aber sicherlich nicht zum jüngsten Gericht. Unter dem „Land“ versteht der Prophet, wie ich glaube, nicht den ganzen Erdkreis, sondern nur die den Juden gemeiniglich bekannten Länder. So gehen wir auch wir, wenn wir von dem, was in der Welt geschieht, reden, vielfach kaum über Europa hinaus und denken dabei nicht an das, was etwa im fernen Indien passiert. Europa ist gleichsam unsere Welt, unser Erdkreis. Jesaja redet also von der ihm und seinen Zuhörern bekannten Erde und von den Völkern benachbarter Länder. So können wir den Ausdruck „Land“ oder „Erdkreis“ begrenzen auf Ägypten, Assyrien, Moab, Tyrus u. a. Der Prophet will demnach sagen: Bis hierher habe ich von den verschiedenen Heimsuchungen geredet, welche den meisten Völkern drohten und einigen noch zum Teil nahe bevorstehen. Die Summ aber folgt jetzt: Der Herr wird das Aussehen der Erde gründlich verändern und sie ihres ganzen Schmuckes berauben.

Anstatt: Der Herr macht das Land leer und wüste – übersetzen einige Ausleger: Der Herr öffnet das Land, und zwar dazu, dass die Feinde einen freien Zugang zu ihm haben. Doch ziehe ich die erstere Übersetzung vor. Leer und wüste ist aber ein Land, das seiner Bewohner beraubt und dem sein Schutz genommen ist, wie wenn einem ein prächtiges Kleid ausgezogen wurde. Das sollte aber nicht nur die Juden treffen, sondern auch die Assyrer, die Ägypter und die andern genannten Völker. Allen zugleich kündet er ihren Untergang an.

V. 2. Und geht dem Priester wie dem Volk. Mit diesen Worten schildert der Prophet die traurigste Verwüstung, bei der alle Ordnung aufgelöst ist und in einem Staat ein wirres Durcheinander herrscht. So lange der Zustand eines Staates noch einigermaßen erträglich ist, bleibt doch ein gewisser Unterschied zwischen Priester und Volk bestehen. Der Prophet deutet also eine schreckliche Verwirrung der Verhältnisse an. Solche Verhältnisse sieht er als eine Schmähung Gottes an und weist darauf hin, dass man Gottes Rache fürchten muss, wenn die einzelnen Stände eines Volkes so durcheinander geworfen werden. Anderseits dürfen wir daraus folgern, wie sehr eine Staatsverwaltung mit allseitig wohlgeordneten Verhältnissen das Wohlgefallen Gottes findet, und was für eine große Gnadenerweisung seinerseits es ist, wenn solche Verhältnisse unter uns erhalten bleiben. Schwinden solche geordneten staatlichen Verhältnisse, dann unterscheidet sich das Leben der Menschen zuletzt in nichts von dem Leben der Tiere. Darum müssen wir es als eine furchtbare Strafe Gottes ansehen und müssen uns dabei unserer Sünde anklagen, so oft Gott in einem Staate die geordneten Verhältnisse in Verwirrung bringt und den Menschen Verstand und Urteilskraft raubt. Sinkt das hin, dann auch zugleich alle Menschlichkeit. – Zu beachten ist auch, dass der Herr bei Ausführung seiner Gerichte keinen Stand schont, auch nicht den heiligsten. Was für ein herrlicher Stand war doch derjenige der Priester, den der Herr so reich gesegnet hatte, den er als ihm geheiligt angesehen wissen wollte, dessen sich auch das Volk rühmte, als wäre er unverletzlich und ewig! Aber in Gottes Gericht wird auch die priesterliche Würde eingeschlossen; es gibt hier kein Ansehen der Person. Ja, je größere Gnade er Menschen hat zuteil werden lassen und je größer die Würde ist, zu der er sie erhoben, umso schärfer wird er gegen sie vorgehen, wenn sie sich undankbar zeigen und seine Gaben missbrauchen.

Dem Herrn wie dem Knecht, der Frau wie der Magd, dem Verkäufer wie dem Käufer usw. Diese Worte sollen dasselbe besagen. Es ist klar, dass diese Standesunterschiede ihr Recht haben und dass sie nur dann in Verwirrung zu geraten pflegen, wenn der Herr mit harter Strafe ein Volk züchtigen will. Wo alles wohl geordnet ist, muss zwischen Herrn und Knecht, zwischen Frau und Magd ein Unterschied sein. Ebenso kann ein Staatswesen nicht bestehen ohne Verkäufer und Käufer. Wird nun der Unterschied zwischen Arm und Reich aufgehoben, dann gerät das menschliche und staatliche Leben in Verwirrung. Und das meint der Prophet, die ganzen staatlichen Verhältnisse würden zu Grunde gerichtet werden. Denn in jenen schweren Heimsuchungen werden auch die Reichsten in äußerste Armut geraten. Dann ist die Verwirrung und Verwüstung aufs höchste gestiegen, wenn sie von solch ungewöhnlichen Umwälzungen begleitet ist.

V. 3. Der Herr hat solches geredet. Damit bestätigt der Prophet das schon Gesagte und erinnert daran, dass jene Umwälzungen nicht ein Werk des Zufalls, sondern Gottes Werk sein werden.

V. 4. Das Land steht jämmerlich usw. Jesaja fährt in seiner Erörterung fort. Diese hat den Zweck, die Verwüstung des Erdkreises, soweit die Juden denselben kannten, zu schildern. In feiner Weise sucht er das Gericht Gottes durch allerlei Bilder klarer zur Darstellung zu bringen, um träge Herzen aufzurütteln.

Die Höchsten des Volkes im Lande nehmen ab. Darunter haben wir auserlesene, vor andern bevorzugte Leute zu verstehen. Dass diese abnahmen, war auffallender, als wenn das gemeine Volk zu Grunde gegangen wäre. Will jemand übrigens die ganze Aussage speziell auf die Juden beziehen, so habe ich nichts dagegen. Denn obschon die Ägypter und Assyrer sie an Reichtum und Macht überragten, standen die Juden doch darin am höchsten, dass sie von Gott zu Kindern angenommen worden waren. Doch scheint mir die andere Auslegung richtiger, dass der Herr allgemein nicht nur an den Geringen seine Strafe vollziehen wird, sondern auch an denen, die an Ansehen und Würde die andern überragten.

V. 5. Das Land ist entheiligt von seinen Einwohnern. Man könnte auch übersetzen: Das Land ist trügerisch unter seinen Einwohnern. Beide Übersetzungen passen. Doch scheint mir der nächste Vers die letztere besonders zu empfehlen. Derselbe setzt noch ausführlicher das hier Gesagte auseinander, wenn es da heißt: Darum frisset der Fluch das Land. Ob man sagt: Das Land ist trügerisch unter seinen Einwohnern – oder wegen seiner Einwohner, mach wenig aus. Zwischen dem Land und dem Landsmann besteht gewissermaßen eine Wechselbeziehung. Was das Land vom Landmann empfangen hat, gibt es mit Zinsen wieder zurück. Andernfalls, wenn es nichts empfangen hat, täuscht es seine Bebauer. Die Schuld aber liegt auf jenen, die es durch ihre Trägheit unfruchtbar machen. Denn es ist unsere Schuld, wenn uns das Land nicht nährt und keine Frucht bringt, wie es nach der von Gott gesetzten Naturordnung sein soll. Nach seinem Willen soll die Erde für uns gleichsam eine Mutter sein, die uns den Lebensunterhalt darreicht. Wenn sie aber die Naturordnung verkehrt oder in ihrer Fruchtbarkeit nachlässt, so müssen wir das als Lohn für unsere Sünden ansehen, weil wir selbst die von Gott gesetzte Ordnung verkehrt haben. Sonst trügt uns die Erde niemals, sondern tut ihre Schuldigkeit.

Denn sie übertreten das Gesetz und ändern die Gebote. Hier wird gleich der Grund hinzugefügt, weshalb das Land untreu ist und seine Einwohner täuscht. Mit Recht werden Leute um ihren Lebensunterhalt betrogen, die Gott als Vater und Ernährer zu ehren sich weigern. Hier hat der Prophet wohl besonders den Abfall seines Volkes im Sinn. Der war schändlicher und unentschuldbarer, als alle Sünden derer, die niemals in Gottes Schule unterrichtet worden waren. Sie übertreten das Gesetz. Im Hebräischen steht die Mehrzahl: die Gesetze. Der Prophet bezeichnet damit alles, was das Gesetz enthält. Da aber das Gesetz aus Geboten und Verheißungen besteht, so hebt er um des deutlichen Verständnisses willen diese zwei Teile hervor. Er redet zuerst von den Geboten: und ändern die Gebote. Einige meinen, darunter seien die Zeremonialgebote zu verstehen, andere die Sittengebote. Ich verstehe die Worte nicht nur von den ersteren, sondern von allen, welche auf Leben und Wandel sich beziehen. Der Prophet redet sodann zweitens von den Verheißungen, wenn er vom ewigen Bund spricht.

Und lassen fahren den ewigen Bund. Das bezieht sich auf die Bundesschließungen, durch welche Gott sein Volk zu seinem Eigentum gemacht und ihm verheißen hatte, er werde sein Gott sein. Der Prophet wirft ihnen also ihre Undankbarkeit vor, dass sie, obgleich der Herr ihnen sich auf alle Weise offenbart und Beweise seiner Liebe gegeben hat, ungehorsam und rebellisch gewesen sind, seine Gebote übertreten und seinen heiligen Bund verletzt haben. Warum aber wendet er sich gegen die Juden? Weil er wusste, dass er für diese zum Propheten gesetzt war und vor allem sie lehren sollte. Daraus können wir schließen, wie wir recht leben und wandeln sollen. Das wird uns im Gesetz gesagt, dem müssen wir folgen, wenn unser Leben Gott gefallen soll. Wir sind verbrecherische, verlorene Menschenkinder, wenn wir von ihm abweichen. Auch ist zu bedenken, dass Gott in seinem Wort nicht nur sein Gesetz und seine Gebote, sondern auch seinen Bund von uns beachtet wissen will. Denn der größte Teil seines Wortes besteht aus Verheißungen, durch welche er uns zu seinen Kindern macht und als die Seinen annimmt. Ohne Zweifel will der Prophet mit dieser ganzen Auseinandersetzung sagen: Nichts ist an ihnen gesund und wohl, alles geschändet und verdorben. Den Bund nennt er einen ewigen; denn er sollte ewig und unverletzlich sein und niemals untergehen. Von den Vätern sollte er in ununterbrochener Reihenfolge auf die Kinder übertragen werden; niemals sollte er aus der Menschen Gedächtnis schwinden, er sollte heilig und unverletzt bewahrt werden. Der Prophet hebt also die Treulosigkeit und Nichtswürdigkeit seines Volkes noch stärker hervor, das den mit dem Herrn eingegangenen Bund zu verletzen und das umzustoßen gewagt hatte, was nach des Herrn Willen fest und unbeweglich bleiben sollte. Das war etwas Ungeheuerliches. Darum konnte es nicht wunderbar erscheinen, dass das Land solchen Frevel strafte und den Menschen den Lebensunterhalt versagte.

V. 6. Darum frisset der Fluch das Land. Einige Ausleger übersetzen hier statt Fluch – „Meineid“. Doch ist es mir nicht zweifelhaft, dass der Prophet hier vom Fluch redet und auf die Bannflüche anspielt, welche Mose im Gesetz den Gottlosen und Gesetzesübertretern entgegenschleudert. Was also immer an Unheil hereinbreche, das sei, bezeugt der Prophet, eine Folge des göttlichen Fluches. Wie wir wissen, ist die Erde um der Übertretung der ersten Eltern willen verflucht worden, dass sie anstatt Früchte Dornen und Disteln tragen soll. Das hat der Herr jedoch gemildert, sodass sie nun auch den Undankbaren und Unwürdigen nichtsdestoweniger Unterhalt gewährt. Wenn wir aber von der Sünde nicht lassen und Missetat auf Missetat häufen, ist es dann nicht durchaus billig, dass die Erde für uns unfruchtbar und ertraglos wird, damit jener Fluch zutage trete und unsere Herzen schärfer treffe?

Denn sie verschulden` s, die drinnen wohnen. Die Erde ist unter dem Fluche Gottes ausgedörrt, weil ihre Bewohner gottlos waren. Statt dass die Einwohner des Landes „verdorren“, lässt sich vielleicht noch passender übersetzen: „sie sind verbrannt worden.“ Der Zorn Gottes hat sie verschlungen. Dann würde ihr Untergang mit einem Brande verglichen.

Also dass wenig Leute überbleiben. Hier zeigt es sich, dass diese Weissagung nicht vom jüngsten Gericht verstanden werden kann, sondern dass vielmehr jene Verwüstungen vorausgesagt und bestätigt werden, welche den verschiedenen Völkern drohten. Das aber geschah zu dem Zweck, dass die Frommen sich fürchteten, zur Buße gebracht würden und bereit wären, alles zu erdulden.

V. 7. Der Most verschwindet usw. Der Prophet fährt in seiner Darstellung fort und kündigt hauptsächlich den Juden die Verwüstung ihres Landes an. In ausführlicher Schilderung stellt er dieselbe dar, um sie noch mehr zu erschüttern und sie etwas von dem Gerichte Gottes empfinden zu lassen. Dabei berührt er vor allem ihren Luxus, ihre Unmäßigkeit und ihre Vergnügungssucht; schwelgend in ihrem reichen Überfluss betrugen sie sich schamlos gegen Gott. Darin besteht eben die Undankbarkeit nicht nur der Juden und nicht nur jener Zeit, sondern aller Menschen und aller Zeiten, dass sie, satt vom Überfluss, frech werden gegen Gott und sich über die Maßen die Zügel schießen lassen. So will der Prophet sie treffen und ihnen sagen: Bisher seid ihr in Freuden und Genüssen aufgegangen, aber der Herr wird euch schon eine andere Lebensart beibringen. Über zukünftige Dinge redet der Prophet, als wären sie schon eingetreten, um ihnen dieselben deutlicher vor Augen zu stellen.

V. 9. Man singt nicht beim Weintrinken. Wein trinken ist an sich nichts Schlimmes, soweit Menschen dabei das von Gott gesetzte Maß innehalten. Hier aber beschreibt der Prophet zügellose, mit leichtfertigem Gesang verbundene Gelage trunkener Menschen. Weil diese ihren satten Überfluss missbraucht hatten, droht er ihnen Mangel an. Solchen Mangel zwingen fast die Menschen dadurch herbei, dass sie auf Gottes Freigebigkeit durch ihr schwelgerisches Leben Schande bringen.

Und gut Getränk ist bitter denen, so es trinken. Traurigkeit pflegt die Lust an Speise und Trank zu nehmen. Obwohl Wein hinreichend vorhanden ist, sollen sie doch seines Genusses beraubt werden. Denn von Trauer umfangen, werden sie keinen Durst empfinden. Dass gut Getränk bitter ist, das soll heißen: Ihr werdet fernerhin nicht mehr die Freuden und Ergötzungen genießen, denen ihr bisher gefrönt habt.

V. 10. Die leere Stadt ist zerbrochen. Ich habe nichts dagegen, dies insbesondere auf das leere Jerusalem zu beziehen. Doch kann man es nach dem Zusammenhang auch auf andere Städte ausdehnen. Denn kurz hinterher ruft der Prophet die Völker in der Mehrzahl zum gleichen Gericht. Da er jedoch hauptsächlich seine Volksgenossen im Auge hat, so kann man es passend von Jerusalem verstehen. Diese nennt er die leere Stadt, entweder weil nichts von Tugend und Tüchtigkeit in ihr zu finden oder weil sie von Menschen leer geworden war. Einige Ausleger übersetzen auch „wüste Stadt“. Man kann diese Bezeichnung „wüste“ entweder direkt auf den Untergang der Stadt beziehen oder auf ihre Sünden und Freveltaten, durch welche sie Gott gegen sich herausforderte. Im letzteren Falle denkt dann der Prophet an die wirren staatlichen Verhältnisse, unter denen nichts geordnet, noch recht bestellt war. Dieser Sinn gefällt mir besser. Man kann aber auch an die Strafe denken, die sie für ihre Sünden erhielten. Meines Erachtens führt der Prophet die Ursache des Untergangs an. Die Stadt wird dem Ruin preisgegeben, weil Gerechtigkeit und ordnungsmäßige Verwaltung in ihr nicht mehr zu finden sind. Dass alle Häuser zugeschlossen sind, ist ein Zeichen ihrer Leere. Es wird dies hinzugefügt, um die Verwüstung jener Stadt zu anschaulichem Ausdruck zu bringen.

V. 11. Man klagt um den Wein auf den Gassen. Es wird Mangel an Wein eintreten. Wo aber Mangel, Hunger und Durst herrschen, werden nicht nur in den Häusern, sondern auch auf den Straßen und öffentlichen Plätzen endlose Klagen laut. Solche Klagen und solches Wehegeschrei kündigt der Prophet an. Um den Wein klagt man. Das ist ein neuer Hinweis auf ihre Schwelgerei und Unmäßigkeit: statt mit dem Notwendigen zufrieden zu sein, soff man sich in Wein voll und stürzte sich in alle Lüste hinein. Man muss den Gegensatz beachten: Bisher hattet ihr an Wein und Speise reichen Überfluss; durch denselben habt ihr euch aber hinreißen lassen, gegen Gott frech zu werden. Darum werden euch Wein und Speise mit Recht genommen und an Stelle eurer leichtfertigen Gesänge werden auf den Gassen Seufzer und Klagen laut.

Dass alle Freude weg ist usw. Auch auf dies Bild ist zu achten. Alle Freude ist weg oder genauer: ist verdunkelt. Wir sagen auch wohl: die Freude leuchtet auf den Angesicht eines Menschen. Im Gegensatz dazu sagt der Prophet hier: Alle Freude ist verdunkelt, da die Traurigkeit sich wie eine Wolke vorgelagert hat. Sich freuen ist an sich ebenso wenig etwas Schlimmes, wie Wein trinken. An sich tadelt der Prophet die Freude auch nicht, sondern nur die ausgelassene, unmäßige. Die Menschen halten aus Mangel an Zucht in ihrer Freude kein Maß. Weil also die Juden so frech sich betrugen und so schwelgerisch gelebt hatten, so verkündigt ihnen der Prophet mit Recht Gottes Strafe. Denn mit vollem Recht wird uns die Freude genommen, wenn wir nicht verstehen, Gottes Gaben richtig zu gebrauchen und in ihm uns zu freuen. Sind aber Lust und Freude dahin, dann muss Seufzen und Klagen unser Los sein.

V. 12. Eitel Wüstung ist in der Stadt blieben. Trefflich schildert der Prophet die Verwüstung Jerusalems und zugleich mancher andern Stadt. Der schönste Schmuck der Städte besteht in den Menschen, die sich bewohnen. Sind aber keine Einwohner da, dann kann man die Stadt wüste nennen. Diese Wüstung, sagt der Prophet mit seiner Ironie, ist in der Stadt geblieben, während eben sonst nichts geblieben ist.

Und die Tore stehen öde. Die Tore werden erwähnt, weil in ihnen vor allem der Verkehr einer Stadt sich zeigte. Dort strömte das Volk zusammen, dort wurde Gericht gehalten. Der Prophet nennt also zuerst die Stadt im Ganzen, dann einen besonderen Teil derselben. Er tut das, um die Größe der Verwüstung noch deutlicher zu machen. Denn wenn auch Städte ihrer Einwohner beraubt sind, so zeigen sich doch wenigstens an den Toren noch einige Menschen. Sind aber auch die Tore völlig leer, dann muss die Stadt sehr öde geworden sein.

V. 13. Denn es geht im Lande und im Volk usw. Da dieser Vers zwischen Drohung und Verheißung die Mitte hält, so scheint der Prophet von dem auserwählten Volke, nicht von irgendwelchen beliebigen Völkern zu reden, wie müssten sonst etwa annehmen, es würde auf die Zerstreuung hingedeutet, durch welche die Juden unter viele Völker verteilt wurden. Diese Auffassung wäre aber gezwungen. Ich lege es daher einfach so aus, dass den zu Grunde gerichteten Völkern eine gewisse Hoffnung übrig bleiben wird, eine Weissagung, die gewiss auf das Reich Christi trefflich passt. Es ist also nicht verwunderlich, dass auch den Heiden ein gewisses Maß des Heils verheißen wird. Das Bild vom Ölbaum und der Weinernte hat der Prophet schon früher (17, 5 f.) gebraucht, aber damals war nur von der Gemeinde Gottes die Rede. Es hieß an jener Stelle, ein gewisser göttlicher Same werde übrig bleiben. Die Gläubigen sollten also nicht wähnen, es sei ganz und gar um die Kirche geschehen. Wenn die Ölbäume gepflückt sind, bleiben doch noch einige Früchte hängen und ebenso einige Trauben nach der Weinernte. So soll aus der gewaltigen Heimsuchung, welche die Kirche durchmachen muss, eine gewisse, wenn auch kleine Zahl von Frommen übrig bleiben. Hier aber dehnt der Prophet diese Verheißung auf andere Teile der Erde aus, die ja auch durch Christum derselben Gnade teilhaftig geworden sind. Zugleich aber verbindet er mit der Verheißung die Drohung, das Land solle seiner Bewohner beraubt werden, ebenso wie dem Ölbaum und dem Weinstock ihre Früchte genommen werden.

V. 14. Dieselben heben ihre Stimme auf und rühmen. Der Prophet verstärkt noch die trostvolle Verheißung des vorhergehenden Verses. Schon früher (10, 19. 22) hatte er davon gesprochen, es werde nur ein kleiner Rest aus der ungeheuren Völkerwelt übrig bleiben, nur wenige Tröpflein aus dem Völkermeer; und doch sollten diese den ganzen Erdkreis überfluten. So sagt er auch hier, die Menge der Frommen, die aus der üppigen Weinlese übrig bleibt, wird nur gering sein, doch nichtsdestoweniger werden sie jauchzen und gewaltig ihre Stimmen erheben, dass die fernsten Völker es hören. Diese Verheißung ist durch die Verkündigung des Evangeliums erfüllt. Was Judäa betrifft, so schien es mit demselben gänzlich aus zu sein. Seine politische Macht war gebrochen, von äußern und innern Feinden war es derart aufgerieben, dass es niemals wieder hätte emporkommen können. Der übrige Erdkreis war stumm im Rühmen und Preisen Gottes und zugleich taub, sein Wort zu hören. Da aber immerhin die Juden die Erstlinge waren, so stelle ich sie auch hier gerne an die erste Stelle. Darin liegt ein reicher Trost, dass der Herr in einem Augenblick seine Kirche wieder aufrichten und zu ihrer vollen Blüte bringen, ja sie gleichsam aus dem Nichts wieder erschaffen kann. Er führte ja selbst aus dem Tode das Leben hervor. Wie oft trat das zu Tage! Dass aber so wenige, wenn sie ihre Stimme erheben, an den fernsten Orten gehört werden, das ist doch wider alle Natur und Erfahrung. Denn wo wenige sind, da pflegt es stille herzugehen; wo aber viele sind, da pflegt großer Lärm zu entstehen. Es ist hier also ein Werk Gottes, übernatürlich und über alles menschliche Vermögen hinausgehend. Denn sonst würde der Prophet sich selbst widersprechen, wenn er sagt, ganz Judäa sei verwüstet, ja der Erdkreis sei leer geworden und fast niemand mehr übrig – und dennoch werde die Stimme dieser Wenigen überall vernommen. An sich wäre das unglaublich, ja geradezu lächerlich. Aber es handelt sich eben, wie wir schon sagten, um Gottes wunderbares Werk.

Und jauchzen vom Meer her über der Herrlichkeit des Herrn. Unter denen, die ihre Stimme erheben und rühmen und jauchzen, versteht der Prophet nicht nur solche, die dem Fleische nach aus den Juden hervorgegangen waren, sondern auch solche, die dem Glauben nach von ihnen abstammten. Mit dem Rühmen und jauchzen bezeichnet er nicht allein die Art des Lobes und Preises, die das Gepräge der Heiterkeit und Freude an sich trägt, sondern er will damit auch das Vertrauen und die Treue hervorheben, mit der sie frei und unerschrocken das Lob Gottes ausposaunen. Zugleich erinnert uns der Prophet daran, dass die Frommen, wie es billig ist, im Lobpreis Gottes, nicht im Rühmen ihrer eignen Tugenden sich ergehen sollen.

V. 15. So preist nun den Herrn. Gottes Wohltaten sollen uns zur Dankbarkeit stimmen. Diese Dankbarkeit sollen wir bezeugen in dem Lobpreis Gottes, wie David sagt: (Ps. 116, 12 f.): „Wie soll ich dem Herrn vergelten alle seine Wohltaten, die er an mir tut? Ich will den Kelch des Heils nehmen und des Herrn Namen preisen“. So ermahnt uns der Prophet, nachdem er von der Wiederherstellung der Kirche geredet hat, das Opfer des Dankes und Lobes darzubringen.

In den Gründen. Damit sind versteckte, weit entlegene Gegenden gemeint, die rings von Bergen umgeben und von der übrigen Welt getrennt und abgeschnitten sind. Daher kommt es, dass die Bewohner von Tälern und Gründen weniger zivilisiert sind, weil sie seltener mit andern Menschen zusammenkommen. Der Ausdruck will also besagen, kein Winkel der Erde werde so versteckt und entlegen sein, dass man in ihm nicht das Lob Gottes vernehme.

In den Inseln des Meeres den Namen des Herrn. Der Gott Israels, der wahre Gott, soll von allen Völkern angerufen werden. Wie allen Völkern das Wissen von Gott angeboren und der Same der Religion in sie hineingepflanzt ist, so neigen sie auch alle leicht zum Aberglauben und zu falscher Gottesverehrung. Hier aber redet der Prophet davon, wie die wahre Gottesverehrung über den ganzen Erdkreis verbreitet werden soll. Daraus geht wiederum klar hervor, dass er von dem Reiche Christi weissagt, unter dem zuletzt die wahre Religion zu fremden Heidenvölkern gedrungen ist.

V. 16. Wir hören Lobgesänge vom Ende der Erde. Die Ausführungen dieses Verses scheinen einander zu widersprechen. Der Anfang desselben hat einen fröhlichen Anstrich und redet von Lobgesängen Gottes. Dann aber geht er in Klagen und Jammern über; er jammert über die Treulosigkeit der Räuber, von denen Frömmigkeit und Religion zu Grunde gerichtet werden. Was nun das Loben Gottes angeht, so haben wir schon gesagt, dass der Herr erst angerufen und gelobt werden kann, wenn er sich uns offenbart und seine Güte uns schmecken lässt, sodass wir lebendige Hoffnung und Vertrauen gewinnen. Hierher gehört das Wort Davids (Ps. 6, 6): „Im Tode gedenkt man dein nicht; wer will dir in der Hölle danken?“ Wenn wir nichts als Gottes Zorn empfinden, sind wir für sein Lob stumm. Wenn nun der Prophet sagt: Wir hören Lobgesänge vom Ende der Erde, - so weist er damit darauf hin, dass das Evangelium über den ganzen Erdkreis verbreitet werden soll, damit alle Menschen Gott als Vater erkennen und ihn preisen. Damals wurde Gott nur in Judäa gepriesen, weiterhin hörte man nichts von Lobgesängen; später aber fingen sie an, überall laut zu werden.

Zu Ehren dem Gerechten. Unter „dem Gerechten“ verstehen manche Ausleger die Gesamtheit der Gläubigen. Dann würde Gott an ihnen wegen seiner Gerechtigkeit gepriesen. Das gibt an sich einen guten Sinn, aber man würde einen anderen Ausdruck erwarten, - etwa: „zur Freude für die Gerechten“. Der ehrende Lobpreis wird sich also auf Gott beziehen. Dass aber der Prophet sagt: Wir hören Lobgesänge – und nicht: wir werden sie hören, geschieht ohne Zweifel, um die Herzen der Frommen tröstend aufzurichten. „Wir“ hören Lobgesänge, das bedeutet mehr, als wenn er gesagt hätte: „Man“ hört Lobgesänge. Er gebraucht die erste Person, um die gesamte Gemeinde darin einzuschließen und um so die Aufmerksamkeit der Frommen anzuregen. Dass Gott ein Gerechter genannt wird, kommt in der Schrift oft vor. Diese Bezeichnung hat aber, wenn sie sich auf Menschen bezieht, eine andere Bedeutung, als wenn sie sich auf Gott bezieht. Menschen sind gerecht, weil ihnen Gerechtigkeit mitgeteilt wurde. Gott aber, die Quelle aller Gerechtigkeit, wird an sich und in Anbetracht seines Wirkens gerecht genannt. Diese Gerechtigkeit Gottes ist also der Gegenstand jener Lobgesänge, von denen hier die Rede ist. Die Mitteilung derselben ist unser Heil und Leben. Wo demnach Gottes Gerechtigkeit ist, da müssen Lob- und Dankgesänge laut werden. Als der Prophet dies weissagte, - wie unglaublich musste es erscheinen: der Herr war doch nur unter den Juden bekannt und gefeiert. Ihnen wird der Untergang angekündigt und doch unmittelbar darauf die Ausbreitung des Wortes über den ganzen Erdkreis und Lob- und Preisgesänge zu Ehren Gottes. Wie war das aber möglich, wenn das Volk Gottes nicht mehr da war? Man darf deshalb wohl annehmen, dass nur wenige diesen Weissagungen Glauben schenkten. Heute aber, da sie erfüllt sind, ist es an uns, Gottes wunderbares Tun anzustaunen. Die Juden waren nicht nur arg mitgenommen, sie waren fast ausgerottet, und doch blieb ein Fünklein übrig, von dem der ganze Erdkreis erleuchtet wurde, von dem alle entzündet und zum Bekenntnis der Wahrheit gebracht worden sind.

Und ich muss sagen: Wie bin ich aber so elend! Weh mir! So spricht der Prophet im Namen des ganzen Stammes Abrahams: wenn der Herr denselben verschneidet, muss man wohl mit Recht über seine elende Dürre klagen. Wie ein unversehrter und blühender Zustand des Volks als Wohlgenährtheit dargestellt werden kann, so sein Jammern und Elend als Magerkeit. So bejammert der Prophet die Verminderung des Volks, die er vor Augen sah. Wissen wir doch, dass in demselben Augenblick, als Gottes Gnade sich über die weitesten Räume reichlich ergoss, das Volk des alten Bundes stark vermindert wurde; ja, Abrahams Nachkommen wurden fast zugleich zunichte gemacht. Doch wäre zu erwägen, ob der Prophet nicht noch an etwas anderes denkt, als nur an die äußere Abnahme seines Volkes, ob er nicht auch die inneren Übelstände beklagt, um derentwillen, wie er voraussieht, die Kirche heimgesucht werden soll. Denn das hebräische Wort, welches wir übersetzen: „ich bin elend“ oder „mager“, könnte auch das verborgene Innere bezeichnen: „Wehe, mein Inwendiges!“ Wie schmerzen mich die innern Zustände meines Volkes! Wenn der Herr seine Kirche ausgebreitet hat, erscheint sie in ihrer Blüte und ist von jeder Gefahr frei; wenn sie aber durch innere Verhältnisse, d. h. von den eigenen Hausgenossen in Verwirrung gebracht wird, dann wird sie auf´ s höchste erschüttert. Dann entstehen jene traurigen inneren Zustände, von denen sie mehr Gefahr zu befürchten hat, als von äußeren Feinden. Darauf bezieht sich dann der Seufzer des Propheten. Ohne Zweifel redet er so, damit die Frommen nicht meinen, sie würden in der Welt glücklich sein; vielmehr sollen sie wissen, dass sie dauernd Krieg zu führen haben, auch dann, wenn ihnen nach ihrer Meinung nichts Hemmendes entgegensteht und sie in Ruhe und stillem Frieden leben können. Er will das Gefühl des bittersten Schmerzes, von dem die Kirche und ihre Glieder erfüllt sind, zum Ausdruck bringen. Solch eine üble Lage ist umso mehr zu beklagen, als sie gar nicht vermieden werden kann. Denn den innern, häuslichen Feinden kann die Kirche nicht entfliehen, noch kann sie dieselben vertreiben. Darum kann Jesaja sich kaum genug tun, das Elend zu beklagen.

V. 17. Darum kommt über euch usw. Hier predigt der Prophet gegen die Sünden des Volkes. Vorher hat er bezeugt, es werde reicher Anlass zum Lobpreis gegeben und zwar nicht nur einem einzigen Volk, sondern sehr vielen und selbst den fernsten. Nun geht er zu einer anderen Erörterung über. Denn nach meiner Ansicht sind diese Sätze von dem Vorhergehenden zu trennen: Jesaja droht hier wieder den Gottlosen. Sie sollen erkennen, dass sie, wenn die Gemeinde Gottes des höchsten Glückes sich freut, im Elend stecken werden. Die Gottlosen pflegen wohl, um sich in Sicherheit zu wiegen, unbesehen Gottes Verheißungen sich anzueignen, obwohl dieselben sie gar nichts angehen. Darum verbinden auch die Propheten gewöhnlich mit denselben ihre Drohungen. Es kann auch sein, dass Jesaja bei einer andern Gelegenheit und in einem andern Zusammenhang diese Worte gesprochen hat. Denn weder die Propheten noch andere gelehrte Leute ihrer Zeit haben die Kapitel- und Verseinteilung gemacht. So sind irrtümlich oft ganz verschiedenartige Ausführungen miteinander verbunden, und andere, die zusammengehören müssten, sind auseinander gerissen. Wie es sich aber auch verhalten mag, jedenfalls wendet sich der Prophet hier wieder gegen die Gottlosen und droht ihnen ein furchtbares schreckliches Gericht an.

Schrecken, Grube und Strick. Diese Zusammenstellung dient dazu, die Herzen zu erschüttern. Denn wenn er nur mit einem einzigen Wort gesagt hätte, den Gottlosen drohe der Untergang, so würde das dieselben kaum berührt haben. Übrigens kann es zweifelhaft sein, ob nur die Juden angeredet werden. Obgleich ich nun darüber nicht viel streiten will, dünkt es mich doch das Wahrscheinlichste, dass diese Drohungen sich auch auf die anderen Völker, über welche der Prophet vorher geweissagt hatte, ja auf den ganzen Erdkreis beziehen.

V. 18. Und ob einer entflöhe usw. Die Meinung der Worte ist etwa die: So viele Übel werden dich treffen, dass nirgends ein Ausweg sich öffnet. Ähnlich schreibt der Prophet Amos (5, 19): „Gleich als wenn jemand vor dem Löwen flöhe, und ein Bär begegnete ihm; und er käme in ein Haus und lehnte sich mit der Hand an die Wand, und eine Schlange stäche ihn.“ So hatte Jesaja im 15. Kapitel gesagt: „Über die, so erhalten sind in Moab, will ich einen Löwen kommen lassen.“ Gott hat zahllose Weisen, verbrecherische Menschen zu strafen. Der Prophet will also sagen: Wisset, dass ihr der Hand Gottes nicht entfliehen könnt; er hat mancherlei Mittel, eure Freveltaten zu bestrafen und auch die zu fangen, die verschiedentlich ihm entgangen sind. Wer dem Kriege entrinnt, wird vom Hunger geplagt; wer vom Hunger frei bleibt, wird ein anderes Ungemach erfahren; auf allen Seiten lauert allerlei Unheil, euch zu umstricken.

Denn die Fenster in der Höhe sind aufgetan. Diese Worte bekräftigen, dass es ein Ding der Unmöglichkeit sei, der Strafe des Gottes zu entrinnen, dem alles im Himmel und auf Erden, von des Himmels höchsten Spitzen bis zu der Erde tiefsten Gründen, offenbar ist. Man meint, der Prophet spiele hier auf die Sintflut an; aber meines Erachtens ist der Sinn einfach der, dass der Zorn Gottes sich allenthalben, oben und unten, offenbaren wird. Der Herr wird Himmel und Erde ausrüsten, um seine Strafe an den Menschen zu vollziehen; wohin diese dann auch schauen mögen, sie erblicken überall nur ihren Untergang.

V. 19. Es wird die Erde mit Krachen zerbrechen. Der Prophet schildert weiter die verschiedenen Arten göttlicher Strafen. Er weist dann, am Schluss des 20. Verses, auf die Ursache jenes Zusammenbruches hin. Mit ihren Sünden haben die Menschen sich den Untergang zugezogen. Wir haben oben gesagt, dass der Prophet ein und dieselbe Sache in verschiedener Weise schildert und zwar zu dem Zweck, um die von Natur sehr trägen Herzen aufzurütteln und zu erschüttern. Jenes Gefühl der Sicherheit, aus welchem die Verachtung Gottes hervorgeht, ist dem Fleische angeboren. Das erfahren wir nicht nur an andern, sondern auch an uns selbst. Um also die sichern, in ihren Sünden schlafenden Seelen aufzuwecken, schmücken die Propheten ihre Reden aus. Sie haben dabei keineswegs die Absicht, beredt zu erscheinen, sondern wollen nur ihre Hörer aufmerksam machen und sie recht ins Herz hinein treffen. Daher die Anspielungen, von denen diese Verse voll sind; darum die glänzende, bilderreiche Sprache; daher die Drohungen und die mancherlei Schreckensverkündigungen. Die sich so sicher fühlenden Menschenkinder sollen aus ihrem Schlaf aufgerüttelt werden. Was diese Ausführungen lehren, muss übrigens auf die Gottlosen beschränkt werden, - nicht als ob die Frommen, die ja gleicher weise heimgesucht werden, von solchen Leiden frei blieben: aber so lange sie ihre Zuflucht zu Gott nehmen und in ihm ruhen, werden sie nicht so erschüttert und verharren fest und standhaft wider alle Angriffe. Die Gottlosen aber, welche Gottes Gericht verlachen und einem zügellosen Sündengenuss sich hingegeben haben, kommen, wenn sie erschreckt und erschüttert werden, niemals zur Ruhe.

V. 20. Die Erde wird taumeln usw. Das ist nicht so zu verstehen, als ob die Erde irgendwie aus ihrer Stellung gerückt würde; es ist vielmehr auf die Menschenwelt zu beziehen. Es wird kein Reich, keine feste Staatsordnung mehr geben. Der Prophet will damit jene Veränderungen zum Ausdruck bringen, von denen er im 10. Kapitel gehandelt hat.

Denn ihre Missetat drückt sie. Diese Ursache jener Erschütterungen fügt der Prophet mit vollem Recht hinzu. Man soll erkennen, dass Gott niemals ohne Grund den Menschen zürnt. Wir selbst sind die Urheber all des Unheils, welches wir erdulden. Gott ist von Natur zur Güte geneigt und umschließt uns mit väterlicher Liebe. Unsere Sünde ist die Ursache, dass wir hart und scharf behandelt werden; den Herrn anzuklagen haben wir keinen Grund.

Dass sie fallen muss und kann nicht stehen bleiben. Wieder betont der Prophet, dass es für jenes Unheil kein Heilmittel gibt. Diese ganze Erörterung bezieht man auf die Juden, deren staatliches Leben der Herr so gänzlich zerrüttete, dass sie, auseinander gerissen und zerstreut unter allen Völkern, kaum noch zu den Menschen gerechnet wurden. Ich möchte diesen Worten aber eine noch weitergehende Bedeutung geben. So schwer soll die Heimsuchung der Welt werden, dass eine Wiederherstellung in ihren früheren Zustand nicht möglich ist. Die Menschen stemmen sich gegen das Unglück und sind in ihrem Herzen immer voll guter Zuversicht. Sind die Heimsuchungen vorüber, dann meinen sie wohl, aufatmen zu können und erheben sich von neuem in eitlem Vertrauen. Dies Vertrauen nun nimmt der Prophet fort, damit sie sich in Zukunft nicht durch eitle Hoffnung betören. Wobei aber zu beachten ist, dass durch solche allgemeine Regel die früher aufgestellte Ausnahme nicht aufgehoben wird.

V. 21. Zu der Zeit wird der Herr heimsuchen das hohe Heer usw. Mit dieser Stelle quälen sich viele ab, und die mannigfachsten Auslegungen sind von den verschiedensten Leuten gegeben worden. Die einen meinen, hier werde von der Sonne und den Gestirnen geredet, andere vom Teufel, der zugleich mit den Gottlosen bestraft werden solle; wieder andere denken an die Juden, die Gott mit besonderen Rechten und Ehren ausgestattet hatte. Der wahre, schlichte Sinn dieser Worte scheint mir aber dieser zu sein: Keine Macht wird so hoch erhoben sein, dass sie von jenen Heimsuchungen Gottes nicht getroffen würde; und wenn sie sich über die Wolken erhebt, so wird Gottes Hand doch dorthin reichen. Wie es im Psalm (139, 7 ff.) heißt: „Wo soll ich hingehen vor deinem Geist und wo soll ich hin fliehen vor deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist du da; bettete ich mich in die Hölle, siehe, so bist du auch da. Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde mich doch deine Hand daselbst führen und deine Rechte mich halten.“ Als „das hohe Heer, so in der Höhe ist“, werden also bildlich die Könige und Fürsten bezeichnet, welche in der Welt hoch dastehen und wie die Sterne glänzen.

Und die Könige der Erde, so auf Erden sind. Mit diesen Worten legt der Prophet selbst jenes eben gebrauchte Bild aus. Man darf nämlich diese Worte, wie ich glaube, nicht von dem Vorhergehenden trennen, als redete der Prophet über verschiedene Dinge. Es handelt sich vielmehr um eine Wiederholung derselben Sache, in der Art, dass das zweite Glied zu dem ersten die Auslegung gibt. Das Wort „heimsuchen“ bedeutet, wie aus dem Zusammenhang genügend hervorgeht, soviel als „strafen“.

V. 22. Dass sie versammelt werden als Gefangene usw. Der Prophet redet wieder im Bilde. Nicht alle sind Gefangene gewesen, aber alle hat der Herr derart niedergeworfen, dass er sie wie unterjochte Feinde in seiner Hand und Gewalt hat. Der Prophet schildert den Herrn also als Sieger, der seine Feinde wie Gefangene im Kerker einschließt.

Und nach langer Zeit wieder heimgesucht werden. In diesen Worten liegt eine gewisse Verheißung, dass Gott nämlich nach langer Zeit zu einer gnadenvollen Heimsuchung wiederkommen würde. Freilich liegt in ihnen auch eine Drohung. Weil sie früher in ihrer Herzenshärtigkeit den Herrn zum Spott hatten und nur allzu lange in der Sünde zubrachten, so wird er eine lang andauernde Strafe über sie verhängen, bis sie endlich, wenn auch spät, die Ursache derselben erkennen. Da übrigens Gott auf zweifache Art die Welt heimsucht, entweder um die Gottlosen zu strafen oder um den Auserwählten Beweise seines väterlichen Wohlwollens zu geben, so wird hier das Wort „heimsuchen“ gefasst in der Bedeutung: sich nach jemandem umsehen, für ihn sorgen. Damit mildert der Prophet den Ernst seiner Drohung. Denn in solchem Jammer und Elend mussten die Herzen der Frommen aufgerichtet werden, wenn sie nicht den Mut verlieren sollten. So pflegen die Propheten auf mancherlei schreckliche Drohungen Trostworte folgen zu lassen, den Frommen zum Besten. Da nun jene Worte den Zweck hatten, die Gläubigen aufzurichten, so sind dieselben ohne Zweifel an die Juden gerichtet, bei denen doch hauptsächlich der Glaube zu finden war, - oder vielmehr er trat anderswo gar nicht zu Tage. Durch die Bemerkung „nach langer Zeit“ soll der Glaube der Frommen auf die Probe gestellt werden. Wir sind nämlich in unsern Wünschen sehr eilig und möchten wohl, dass Gott gleich seine Verheißungen einlöste. Wir beschweren uns über sein Zögern und werden ungeduldig über jeden Verzug. Wir sollen aber in Geduld seiner Barmherzigkeit harren und uns nicht durch die lange Zeit ermüden lassen. Übrigens ist zu beachten, dass das nicht von allen galt. Denn Gott hat ja, wie wir kurz zuvor sehen, beschlossen, nur einen geringen Rest zu erhalten. Umso mehr müssen wir darauf aus sein, dass wir durch lange sich hinziehende Strafen uns demütigen lassen, und wenn Gott uns heimsucht, ihm entgegen gehen.

V. 23. Und der Mond wird sich schämen usw. Viele Ausleger nehmen an, der Prophet entbrenne hier noch heftiger im Zorn gegen die Juden; er behaupte, über ihren Unglauben müssten sich Sonne, Mond und Sterne schämen; nicht nur den Menschen, selbst der stummen Kreatur seien sie verabscheuenswert. Doch das scheint mir dem Sinn und der Absicht des Propheten gänzlich fern zu liegen. Ohne Zweifel fährt er, wie er im vorigen Verse begonnen, mit Trösten fort. Sein Sinn ist dieser: Wenn der Herr sein Volk heimsucht und die Kirche von ihrem Schmutze reinigt, dann richtet er ein Reich auf, so herrlich, dass es mit seinem Glanze Sonne, Mond und Sterne verdunkelt. In dieser Weise reden, wie wir früher sahen, die Propheten öfters. Hier redet Jesaja nun von der gesamten Kirche, nicht nur von ihrem Haupte. Wenn also der Herr sein Reich auf dem Berge Zion aufrichtet, dann wird seine Herrlichkeit unter seinem Volke derart sein, dass sie alles, was sonst vor den Menschen glänzt, verdunkelt. Um das zum Ausdruck zu bringen, nennt der Prophet das Glänzendste, was es sonst gibt, Sonne und Mond.

Wenn der Herr Zebaoth König sein wird usw. Das verstehen manche fälschlich von Gott als dem strafenden Gott. Wenn auch der Herr, insofern er seines Richteramtes waltet, ein König genannt wird, so hebt doch das Wort, besonders im Zusammenhang mit dem Reiche Gottes auf dem Berge Zion, immer seine Barmherzigkeit und sein Heil hervor. Der Prophet redet ja von der Wiederaufrichtung der Kirche. Das alles ist nun in Christo erfüllt worden.

Vor seinen Ältesten. Wenn der Prophet nur die Ältesten erwähnt, so setzt er damit, wie es oft in der Schrift geschieht, einen Teil für das Ganze. Er meint die gesamte Kirche, spricht aber nur von einem besonders hervorragenden Teil derselben, den Ältesten. Er tut das jedoch nicht ohne bestimmte Absicht. „Älteste“ nennt er sowohl die Priester, wie auch andere, in einer leidenden Stellung befindliche Personen, die über Zucht und Sitte wachen, durch deren kluge Leitung die Übrigen regiert werden müssen. Unter den Ältesten begreift er das ganze Volk, nicht nur deshalb, weil sie das ganze Volk repräsentieren und die große Menge gleichsam in ihrem Schatten sich birgt, sondern auch dazu, damit die Gläubigen für die Zukunft auf eine wohl geordneten Kirche hoffen können. Denn es würde wenig oder gar nichts nützen, wenn nur eine durcheinander gewürfelte Menge übrig bliebe, gleichsam ein verstümmelter Körper und eine regellose Masse. Und nicht ohne Grund heißt es: „vor“ seinen Ältesten. Die Juden sollen wissen, dass Gottes Macht sich herrlich offenbaren wird, dass dieselbe aber nicht mit den äußeren Sinnen, sondern mit dem Glauben erfasst werden kann. Gott waltet so über uns, dass wir seine Nähe fühlen. Denn wenn diese unserm Empfinden fern bliebe, würden wir daraus keinen Trost schöpfen können.

In der Herrlichkeit. Der Prophet zeigt, wie groß Gottes Glanz und Herrlichkeit sein wird, wenn Christi Reich aufgerichtet ist. Jeder andere Glanz muss dann dunkel werden und Christi Herrlichkeit allein hervorleuchten. Dann also hat Gott erst bei uns sein volles Recht und die ihm gebührende Ehre, wenn alle Kreatur in ihre Schranke zurückgewiesen ist und er allein in unsern Augen wiederstrahlt.

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