Calvin, Jean - Hebräerbrief - Kapitel 10.

Calvin, Jean - Hebräerbrief - Kapitel 10.

V. 1. Denn das Gesetz hat den Schatten usw. Dieser Vergleich ist der Malerei entnommen. Schatten hat hier also einen etwas anderen Sinn als in der Stelle Kol. 2, 17. Dort werden die Zeremonien das alten Testaments so bezeichnet, weil ihnen das eigentliche Wesen der Dinge, die sie darstellten, abging. Hier aber soll ihre Übereinstimmung mit den wahren Dingen in den großen Grundzügen betont werden. Sie sind gleichsam der Entwurf zum Gemälde. Die Maler pflegen nämlich ihr Bild zuerst mit Kohle zu entwerfen, bevor sie mit dem Pinsel die Farben auftragen. Ein solcher Unterschied, sagt der Apostel, besteht zwischen dem Gesetz und dem Evangelium. Was heute als deutliches und schönes Farbenbild vor uns liegt, war unter dem Gesetz bloß mit vorläufigen Strichen dunkel vorgebildet. Das ist eine Bestätigung des früher Gesagten, dass dem Gesetz mit seinem Zeremoniewesen trotz seiner vergänglichen Bedeutung eine höhere Bestimmung zukam. War es auch nicht die vollkommene Darstellung der himmlischen Dinge, gleichsam das Bild, das von des Künstlers Hand die letzte Überarbeitung erfahren hat, so hatten doch die alttestamentlichen Frommen von jener unvollkommenen Darstellung großen Nutzen. Wir sind freilich in einer ungleich besseren Lage. Aber beachtenswert ist: das gleiche, das uns jetzt klar vor Augen liegt, wurde schon ihnen aus der Ferne gezeigt. Ihnen wie uns gilt also der gleiche Christus, die gleiche Gerechtigkeit und Heiligkeit, das gleiche Heil; bloß in der Art, wie es dargestellt wird, ist zwischen ihnen und uns ein Unterschied.

Unter den zukünftigen Gütern sind, wie ich glaube, die ewigen zu verstehen. Ich gebe zwar zu, dass das für uns jetzt gegenwärtige Reich Christi vormals als zukünftiges verheißen war. Aber der Apostel sagt ausdrücklich, dass auch wir nur das Abbild oder Ebenbild der zukünftigen Güter haben. Es kann also mit jenen Gütern nur das christliche Urbild gemeint sein, in dessen ungehinderten Genuss wir erst bei der Auferstehung in jener Welt treten werden. Freilich hat seit der Gründung von Christi Reich die Offenbarung dieser Güter begonnen. Aber hier werden sie nicht nur vom Standpunkt des alten Testaments aus als zukünftig bezeichnet, sondern eben so sehr mit Rücksicht auf uns, weil wir noch aufs Hoffen angewiesen sind.

Alle Jahre muss man opfern immer einerlei Opfer. Es ist hauptsächlich vom jährlichen Opfer des Hohenpriesters die Rede (3. Mose 16), doch bezieht sich das, was von dem einen gesagt wird, auf alle Opfer. Wo kein Sündenbewusstsein ist, bedarf es des Opfers nicht mehr. Unter dem Gesetz aber wird das gleiche Opfer oftmals wiederholt; mithin war weder Gott Genüge geleistet, noch die Schuld vergeben, noch waren die Gewissen versöhnt, sonst hätten ja die Opfer aufgehört.

V. 3. Es geschieht ein Gedächtnis der Sünden alle Jahre. Da das Evangelium die Botschaft von unsrer Versöhnung mit Gott ist, können wir nicht anders, als auch jetzt noch täglich unsrer Sünde gedenken. Aber der Apostel spricht hier von einem solchen Gedächtnis der Sünden, wobei der, der sich vor Gott schuldig bekennt, keine andere Möglichkeit der Versöhnung weiß als die Darbringung von neuen Opfern.

V. 4. Denn es ist unmöglich usw. Zur Begründung des vorhergehenden Satzes wird, wie schon früher, geltend gemacht, dass das Blut von Tieren die Gewissen nicht reinigen konnte. Seine Bedeutung lag einzig in dem sinnbildlichen Hinweis auf die wahre Reinigung durch Christi Blut. Kommt ohne Rücksicht hierauf das Tieropfer nach seinem eigenen Wert in Betracht, so muss ihm die reinigende Kraft abgesprochen werden. Kein Wunder also, dass die alttestamentlichen Opfer wirkungslos waren, so dass sie beständig wiederholt werden mussten. Es war ja nur Tierblut, dessen Wirkung nicht bis ins Herz dringt. Christi Blut aber, das bildet hier stillschweigend den Gegensatz, ist von ganz anderer Kraft. Jene früheren Opfer dürfen dem, das er dargebracht hat, gar nicht an die Seite gestellt werden.

V. 5. Darum, da er in die Welt kommt. Mit diesem Kommen ist die Menschwerdung Christi gemeint. Als er zu unsrer Erlösung im Fleisch geoffenbart wurde und den Menschen erschien, ist er in die Welt gekommen oder, wie es Joh. 6, 41 heißt: vom Himmel gekommen. Es scheint zwar, der angeführte 40. Psalm lasse sich nur willkürlich auf Christus beziehen, besonders wenn es dort heißt: es haben mich meine Sünden ergriffen, wobei indessen an die Sünden der Glieder gedacht werden kann, die er, das Haupt, freiwillig als die seinen anerkennt. Jedenfalls geht der Psalm seinem ganzen Inhalt nach zunächst auf David. Weil aber David als Vorbild auf Christus zu betrachten ist, so lässt sich nichts dagegen einwenden, wenn man die davidischen Aussagen auf Christus bezieht, und zwar umso weniger, als es sich hier um die Worte des Psalms handelt, die von der Aufhebung der gesetzlichen Opfervorschriften reden. Einige Erklärer verstehen zwar diese Stelle nicht so, als ob die Opfer schlechtweg verworfen würden. Die Worte seien vielmehr nur gegen die überhand nehmende, abergläubische Wertschätzung dieser Opfer gerichtet, als gäbe es außer ihnen keinen Gottesdienst. In diesem Falle hätte die Anführung der Psalmworte keine Beweiskraft. Es lohnt sich daher der Mühe, diese Stelle genauer zu untersuchen. Daraus wird sich ergeben, ob sie vom Apostel hier zutreffend angezogen wird.

Bei den Propheten begegnen wir häufig Aussprüchen wie diesen: Gott habe nicht Wohlgefallen an Opfern; er verlange sie auch nicht; sie seien wertlos, ja geradezu verwerflich. Damit wurde die Heuchelei gebrandmarkt, die darin zu Tage trat, dass man mit den Opfern sich Gott wohlgefällig erweise, aber dabei doch von seinem bösen Wesen nicht lassen wollte. Wenn also die Propheten die Opfer bekämpfen, so richten sie sich nicht gegen deren göttliche Einsetzung, sondern gegen den Missbrauch und die Entweihung durch die Arglist schlechter Menschen. Anders aber liegt die Sache in der Psalmstelle. Hier handelt es sich nicht um heuchlerische Opfer oder um solche, die sonst infolge menschlicher Verkehrtheit und Bosheit zu verwerfen sind. Vielmehr heißt es bezüglich der Opfer überhaupt, fromme und aufrichtige Gottesverehrung bedürfe ihrer nicht. Der Psalmdichter spricht ja von sich selber und von den Opfern, die er mit reinem Herzen und mit unbefleckten Händen darbrachte. Und gerade von diesen sagt er, sie gefallen Gott nicht. Nun war aber doch David zu seiner Zeit durchs Gesetz zum Opfern verpflichtet und durfte, mochte er noch so weit über seine Zeit hinausblicken, nicht von sich aus eine andere Form des Gottesdienstes wählen. Infolgedessen können sich jene Worte nur auf Christi Reich beziehen. Da erst ist es völlig wahr geworden: Gott will keine Opfer.

Von großer Bedeutung ist es, dass zugleich mit der Zurückweisung der Opfer der Entschluss ausgesprochen wird, Gottes Willen zu tun. Daraus geht klar hervor, dass es auch ohne Opfer einen vollkommenen Gehorsam gibt. Dies war freilich unverständlich, solange das Gesetz nicht aufgehoben war.

Den Leib aber hast du mir bereitet. Die Worte lauten im Psalm anders, nämlich: die Ohren hast du mir aufgetan, was so viel sagen will wie: Du hast mich gelehrig und gehorsam gemacht. Bevor uns Gott das Ohr auftut und die Verstocktheit unseres Herzens überwindet, sind wir taub und unempfänglich. Der Apostel aber folgt der griechischen Übersetzung des Psalms und sagt: den Leib hast du mir bereitet. Die Apostel waren bei Anführung der heiligen Schrift nicht so ängstlich an den Wortlaut gebunden, sofern sie nur der Schrift nicht nach eigenem Gutdünken einen anderen Sinn gaben. Man hat immer darauf zu achten, was sie mit den Schriftzitaten beweisen wollen. Denn in der Hauptsache halten sie sich genau an die Schrift, wenn sie sich auch bezüglich des Wortlautes und alles dessen, was den Gegenstand nicht unmittelbar berührt, ziemlich frei bewegen.

V. 7. Im Buch steht von mir geschrieben. Im Hebräischen heißt es eigentlich: Buchrolle. Bekanntlich waren die Bücher im Altertum in Form von Rollen geschrieben. Es ist nicht undenkbar, dass das Gesetzbuch gemeint ist, das ja allen Kindern Gottes Anweisung für ein heiliges Leben gibt. Immerhin verdient vielleicht die Erklärung den Vorzug, dass der Psalmdichter sagen will, sein Name sei im Verzeichnis derer aufgeschrieben, die sich Gott zu völligem Gehorsam ergeben. Das nämlich darf er von sich bezeugen. Wiederum liegt hierin ein deutlicher Hinweis auf Christus. Nach Gottes Gerechtigkeit haben alle Frommen getrachtet, aber nur Christus war ganz und gar auf nichts anderes als auf die Erfüllung des göttlichen Willens gerichtet. Wir alle sollen uns aber durch dieses Wort zum Gehorsam angetrieben fühlen. Denn dazu ist Christus das Vorbild eines vollkommenen Gehorsams, damit alle, die ihm angehören, wetteifern im Bestreben, ihm nachzufolgen, so dass es auch von ihnen sogleich bei der göttlichen Berufung und hernach in ihrem ganzen Leben gilt: Siehe, ich komme, zu tun deinen Willen. Nach einem anderen Wort der Schrift ist ja das Ziel unsrer Erwählung, dass wir seien heilig und unsträflich vor ihm (Eph. 1, 4).

V. 9. Da hebt er das Erste auf. Hier tritt Grund und Zweck der Anführung der Psalmstelle deutlich hervor. Christus hat uns eine so vollkommene Gerechtigkeit erworben, dass die gesetzlichen Opfer nicht mehr nötig sind. Sie werden aufgehoben, und an ihre Stelle tritt der Wille Gottes als Regel und Richtschnur unseres Strebens nach Vollkommenheit. Somit sind vom Priestertum Christi die Tieropfer als etwas durchaus Fremdartiges ausgeschlossen. Denn, wie wir sagen, verwirft der Psalm die Opfer nicht deswegen, weil Heuchelei und Aberglauben sie entstellen, sondern er erklärt, dass der Fromme sie nicht mehr brauche und ohne sie Gott vollkommenen Gehorsam beweisen könne.

V. 10. In diesem Willen sind wir geheiligt. Einzelne Worte der Psalmstelle geben dem Apostel Anlass, das Gesagte noch weiter auszumalen. David beteuert, allerdings mehr als Repräsentant Christi denn in seinem eigenen Namen, er sei zur Erfüllung von Gottes Willen bereit. Das soll freilich von allen Christen gelten; denn die Mahnung des Paulus lautet ganz allgemein: Das ist der Wille Gottes, eure Heiligung, dass ihr meidet die Unreinigkeit (1. Thess. 4, 3). Aber in Christus ist uns das herrlichste Vorbild des Gehorsams gegeben, so dass der Apostel im Hinblick auf seinen Opfertod am Kreuz sagen kann, er habe Gottes Auftrag erfüllt, und wir seien nun durch ihn geheiligt.

Der Zusatz durch das Opfer des Leibes entspricht den Worten des Psalms, wenigstens nach der griechischen Übersetzung: den Leib hast du mir bereitet. Christus war nicht auf fremde Hilfsmittel angewiesen, sondern er hat die Versöhnung mit Gott durch sich selber zustande gebracht. Anders der levitische Priester, der Tieropfer darbrachte, weil sein eigener Leib nicht zum heiligen Opfer bereitet war. Christus aber bedarf keiner Zutaten, sondern trägt in sich selbst das Vermögen zu allem, was Gott verlangt.

V. 11. Und ein jeglicher Priester ist eingesetzt usw. Hier stehen wir am Schluss der ganzen Ausführung: das tägliche Darbringen von Opfern ist mit dem Priestertum Christi völlig unvereinbar, und daher ist das alttestamentliche Priestertum mit den ihm verordneten, täglichen Opfern seit dem Kommen Jesu hinfällig geworden. Beide Arten von Priestertum sind Gegensätze, die einander ausschließen. Der Apostel hat zur Genüge dargetan, dass Christi Priestertum gültig sei; es bleibt also nichts anderes übrig, als das alte für aufgehoben zu erklären, da es sich mit dem seinigen nicht vereinigen lässt.

V. 14. Mit einem Opfer hat er vollendet oder, da von der Wirkung einer Handlung gottesdienstlicher Art die Rede ist, besser: geweiht. Von dem einen Opfer Christi geht eine Weihe aus, an der alle Frommen vollen Anteil haben. Der Ausdruck „die geheiligt werden“ umfasst alle Kinder Gottes. Sie würden die Gnade der Heiligung anderswo vergeblich suchen. Man darf sich aber Christus jetzt, wo er im Himmel ist, nicht untätig denken. Auch hier wieder heißt es von ihm (V. 12): Er sitzt zur Rechten Gottes. Damit wird, wie Kap. 1, 3, die Herrschaft und Macht Christi bezeichnet. Man hat nicht zu befürchten, er lasse die Kraft seines Todes erlöschen oder im Grabe ruhen. Er lebt vielmehr, um Himmel und Erde mit seinen Gnadenwirkungen zu erfüllen. Die Psalmstelle (110, 1) zeigt uns überdies, wie lange sein Herrschen währt: bis er alle Feinde sich unterworfen hat. Wenn nun unser Glaube ihn zur Rechten Gottes sucht und daraus seine sichere Ruhe schöpft, so werden wir endlich die Frucht dieses Sieges genießen: gemeinsam mit ihm, unserem Haupte, werden wir, frei von des Fleisches Verderben, triumphieren, da wir unsere Feinde überwunden sehen, den Satan, die Sünde, den Tod und die ganze Welt.

V. 15. Es bezeugt uns aber das auch der heilige Geist. Zum zweiten Mal wird die Jeremiastelle (31, 33 f.) angeführt, diesmal aber aus einem anderen Grund als im 8. Kapitel. Dort sollte gezeigt werden, dass das alte Testament aufgehoben werden musste, weil ein anderes, besseres verheißen war. Jetzt liegt der Nachdruck auf den Worten: ihrer Sünden und Ungerechtigkeit will ich nicht mehr gedenken. Sind aber die Sünden vergeben, so sind auch keine Opfer mehr nötig. Man könnte dagegen einwenden, dass, trotzdem im Gesetz und in den Propheten unzählige Mal die Vergebung der Sünden verheißen ist, die Opfer dennoch fortbestanden haben; die Vergebung der Sünden schließe daher die Opfer nicht aus. Richtig ist allerdings, dass den alttestamentlichen Frommen gleichwie uns Sündenvergebung verheißen war: im Vertrauen darauf riefen sie Gott an und rühmten die Gnade, die ihnen gewährt war. Wenn aber der Prophet als etwas Neues und bisher Unerhörtes in Aussicht stellt, dass Gott im neuen Bund der Sünden nicht mehr gedenken werde, so muss es jetzt mit der Sündenvergebung doch eine andere Bewandtnis haben als früher. Nicht die Verheißung ist eine andere geworden, auch der Glaube bleibt derselbe; aber die Sündenvergebung ist jetzt ganz anders verbürgt, nämlich durch das Opfer Christi, das ein für alle Mal eine Versöhnung für alle Sünden geschaffen hat. Nur aus diesem Grund kann es der Prophet als das Vorrecht des neuen Testaments bezeichnen, dass Gott der Sünden nicht mehr gedenken werde.

Hier am Schluss der ganzen Ausführung über das Priestertum Christi darf in Kürze darauf hingewiesen werden, dass sie sich nicht nur gegen die gesetzlichen Opfer richtet, sondern ebenso sehr die papistische Erdichtung des Messopfers trifft. Die römische Kirche erblickt in der Messe ein Opfer mit der Kraft, die Sünden Lebender und Verstorbener zu sühnen. Der Apostel dagegen sagt, es gebe kein Opfer mehr für die Sünde, seitdem die Weissagung des Jeremia erfüllt ist (10, 18). Nichts anders als eine Ausrede ist es, wenn man vorgibt, es sei nicht ein neues Opfer, sondern nur die Wiederholung des einmaligen Opfers Christi. Der Apostel erklärt im Gegensatz hierzu, Christi Opfer brauche nicht wiederholt zu werden, sondern sei ein für alle Mal geschehen (9, 26; 10, 14). Auch kann die Bezeichnung Christi als des einen, wahren Priesters nur den Sinn haben, dass sonst keiner imstande ist, das Opfer Christi darzubringen; in der Messe aber wird er durch andere geopfert. Eine weitere Ausflucht der Römlinge ist es, wenn sie das Messopfer ein unblutiges nennen. Der Apostel dagegen kennt kein Opfer ohne Tod und Blutvergießen (9, 22). Ebenso verkehrt ist es zu behaupten, die Messe sei nichts anderes als die Zueignung des einen Opfers, das Christus dargebracht hat. Demgegenüber lehrt der Brief, Christi Tod habe den gesetzlichen Opfern ein Ende gemacht, weil sie sich durch ihre beständige Wiederholung als unwirksam erwiesen und keine Gewissheit der Sündenvergebung brachten (10, 3). Daraus geht hervor, dass auch die Art, wie sich die Römischen das Opfer Christi zu eigen machen wollen, keine Berechtigung mehr hat. Sie mögen sich drehen und wenden, wie sie wollen, daran kommen sie nicht vorbei, dass die vorliegenden Ausführungen des Apostels eine Menge von gottwidrigen Gedanken, die der Messe zu Grunde liegen, in ein helles Licht setzen. Wenn der Apostel von der Sündenvergebung spricht, so heißt er uns unsere Zuflucht nehmen zu jenem einen Opfer Christi am Kreuz und erblickt darin den Unterschied zwischen Christen und alttestamentlichen Frommen, dass seit Christi Erscheinen der fortwährende Opferdienst aufgehört hat. Wenn das tägliche Messopfer nötig wäre, um Christi Tod für uns wirksam zu machen, so würden sich die Christen durch nichts anderes von den Juden unterscheiden als durch das äußere Zeichen der sinnbildlichen Handlung.

V. 19. So wir denn nun haben usw. Der Apostel fasst den vorhergehenden, lehrhaften Abschnitt kurz zusammen und knüpft daran eine eindringliche Ermahnung und sodann eine besonders ernste Drohung gegen die, die Christi Gnade verwerfen würden. Der lehrhafte Abschnitt hat dargetan, dass alle Zeremonien, ohne die es unter dem Gesetz keinen Zugang zum Heiligtum gab, nur Sinnbilder der ewigen, in Christus erschienenen Wahrheit gewesen sind. Wer Christus hat, bedarf also ihrer nicht mehr. Bei der Beschreibung des Zugangs, den Christus uns eröffnet hat, bedient sich der Apostel zum besseren Verständnis der Ausdrücke, die dem alttestamentlichen Gottesdienst entlehnt sind. Den Himmel nennt er das Heilige, und die geistlichen Güter, die Christus uns erworben hat, stellt er unter ähnlichen Bildern dar. Bisweilen wird durch solche bildliche Redeweise der Sinn eher verhüllt als verdeutlicht. Hier aber ist die Einkleidung des Werkes Christi in die Sinnbilder des Gesetzes ebenso sinnig wie einleuchtend, weil dadurch hervorgehoben ist, dass jetzt wahrhaft erfüllt sei, was im Gesetz nur angedeutet war. Jedes Wort ist hier von Bedeutung und soll uns zum Bewusstsein bringen, dass die alten Sinnbilder notwendig der in Christus erschienenen Wahrheit weichen müssen.

Wir haben die Freudigkeit zum Eingang in das Heilige. Die alttestamentlichen Frommen hatten dieses Vorrecht nicht. Dem Volk war der Eingang in das Heiligtum verwehrt. Nur sinnbildlich war sein Einzug dadurch angedeutet, wenn der Hohepriester auf seinen Schultern die Namen der zwölf Stämme und auf seiner Brust zu ihrem Gedächtnis die zwölf Edelsteine trug. Jetzt aber verhält es sich ganz anders. Es gibt für uns durch Christus einen wirklichen Eingang in den Himmel; er hat uns zu königlichen Priestern gemacht (1. Petr. 2, 9).

Durch das Blut Jesu. Nur durch Blut durfte der Hohepriester bei dem feierlichen Gang am Versöhnungstag ins Allerheiligste eingehen. Wie groß aber ist der Unterschied zwischen dem Blut von Tieren und diesem Blut! Jenes büßte mit seiner Frische jeweilen bald auch die wirksame Kraft ein, Christi Blut aber verdirbt nicht, sondern fließt in immerwährender Reinheit, so dass es uns durchhelfen kann bis ans Ende der Welt. Kein Wunder, wenn die Opfer geschlachteter Tiere keine lebenbringende Kraft hatten, da sie ja etwas Totes waren. Aber Christus, der vom Tode Auferstandene, kann uns zum Leben wecken, indem er sein Leben in uns überströmen lässt. So ist denn der Weg für immer bereitet und geweiht durch sein Blut, das vor des Vaters Angesicht sozusagen beständig fließt als Besprengungsmittel für Himmel und Erde.

V. 20. Durch den Vorhang. Der Vorhang verdeckte die Geheimnisse des Allerheiligsten und diente zugleich als Eingang dorthin. So verhüllte Jesu Knechtsgestalt im Fleisch Gottes Herrlichkeit und führt uns doch bis in den Himmel. Niemand kann zu Gott kommen, ohne dass ihm der Mensch Christus Jesus Weg und Tür geworden ist (1. Tim. 2, 5). Wir dürfen die Herrlichkeit Christi nicht nach seiner äußeren Erscheinung im Fleisch beurteilen und doch auch wieder diese nicht darum, weil sie Gottes Herrlichkeit verhüllt, verachten. Ist sie uns doch der Wegweiser zum Gewinn aller himmlischen Güter.

V. 21. Und haben einen Hohenpriester. Wir müssen uns hier in Erinnerung rufen, was zuvor über die vergängliche Bedeutung des alttestamentlichen Priestertums ausgeführt war. Mit Christi Eintritt in das Priestertum müssen notwendig jene früheren Priester, die einer anderen Ordnung angehören, zurücktreten. Was durch Christi Kommen aufgehoben ist, darf nicht mehr festgehalten werden. Ist er jetzt über das ganze Haus Gottes gesetzt, so muss jeder, der seiner Gemeinde angehören will, sich ihm unterwerfen und ihn zum Führer und Herrn erwählen und keinen anderen sonst.

V. 22. So lasset uns hinzugehen mit wahrhaftigem Herzen. Dem geistlichen und himmlischen Wesen von Christi Hohenpriestertum muss auch unsere Stellung zu ihm entsprechen. Bei den Israeliten gab es einst verschiedene Arten der Besprengung, um sich zum Gottesdienst zu reinigen. Weil der Gottesdienst selbst nur in äußerlichen Sinnbildern bestand, so ist es nicht zu verwundern, dass auch die Reinigungen rein äußerlich waren. Der Priester, der für eine gewisse Zeit den Dienst im Heiligtum zu verrichten hatte, war ein sterblicher, sündiger Mensch; sein Kleid, wiewohl kostbar, ein vergänglicher, irdischer Schmuck. Um vor Gott zu erscheinen, dazu trat er bloß bis vor die Bundeslade hin; um sich für diesen Gang zu heiligen, nahm er sich jeweilen aus der Herde ein Opfertier. Wie ganz anders Christus! Er ist nicht nur selbst heilig und unschuldig, sondern der Quell aller Heiligkeit und Gerechtigkeit, durch göttlichen Spruch und Eid zum Priester eingesetzt, nicht nur für die kurze Zeit eines Menschenlebens, sondern ewiglich. Er tritt sein Priesteramt an, ausgerüstet mit den allervollkommensten Gaben des heiligen Geistes; er bewirkt die Versöhnung zwischen Gott und Menschen durch sein eigenes Blut und steigt empor über alle Himmel, um als unser Mittler vor Gott zu erscheinen. Danach soll sich unser Verhalten richten, da ja zwischen Priester und Volk Übereinstimmung herrschen muss. So sollen denn jene äußerlichen Waschungen des Leibes verschwinden, und der ganze Aufwand von Zeremonien soll ein Ende haben. Jenen äußeren Sinnbildern wird das wahrhaftige Herz gegenübergestellt, die Gewissheit des Glaubens und die Reinigung von allen Sünden. Hier lernen wir auch, auf welchem Wege wir des Segens Christi teilhaftig werden. Man kann zu ihm nur kommen mit wahrhaftigem, aufrichtigem Herzen, mit völligem Glauben und reinem Gewissen. Wahrhaftig und rein ist das Herz, das frei ist von Verstellung und Zwiespältigkeit. Der Ausdruck: in völligem Glauben, wörtlich: in der Fülle des Glaubens, zeigt, welches die rechte Art des Glaubens ist, nämlich eine feste und gewisse Überzeugung, ohne die man der Gnade Christi nicht teilhaftig werden kann. Die Reinigung des Herzens vom bösen Gewissen kann man auf den Trost der Sündenvergebung oder auf die Überwindung der bösen Lüste des Fleisches beziehen. Am besten denkt man an beides.

Das folgende: gewaschen am Leibe mit reinem Wasser, verstehen die meisten Erklärer von der Taufe. Es ist aber wahrscheinlicher, dass der Ausdruck bloß mit Rücksicht auf die gesetzlichen Waschungen gewählt ist. Unter dem Wasser ist der heilige Geist zu verstehen, wie in der Weissagung des Hesekiel (36, 25): Ich will rein Wasser über euch sprengen, dass ihr rein werdet. Kurz zusammengefasst: wir werden Christi teilhaftig, wenn wir, nach Leibn und Seele geheiligt, zu ihm hingehen. Diese Heiligung besteht aber nicht in der Vornahme äußerer Zeremonien, sondern im festen Glauben, im reinen Gewissen und in der Unbeflecktheit von Leib und Seele, die durch den Geist Gottes in uns zustande kommt. So ermahnt auch Paulus die Gläubigen (2. Kor. 7, 1), sie sollten sich reinigen von aller Befleckung des Fleisches und des Geistes, da Gott sie zu Kindern angenommen hat.

V. 23. Lasset uns halten an dem Bekenntnis der Hoffnung. Weil die Leser zur Standhaftigkeit ermahnt werden sollen, tritt hier an Stelle des Glaubens die Hoffnung. Hoffnung ist des Glaubens Frucht, aber auch seine Kraft und Stütze bis ans Ende. Vom Bekenntnis ist die Rede, weil der Glaube, wenn er rechter Art ist, sich den Menschen gegenüber Ausdruck verschaffen muss. Es liegt in dieser Ermahnung zum Bekennen ein leiser Tadel ausgesprochen gegen die, welche, mehr nur ihren Volksgenossen zuliebe als aus eigenster Überzeugung, allzu ängstlich an den gesetzlichen Zeremonien festhielten. Sie sollen bedenken, dass es mit dem Herzensglauben noch nicht getan ist, sondern dass man mit der Tat zeigen und bekennen muss, wie hoch man Christus schätze.

Beachtenswert ist die Begründung der Ermahnung durch den Zusatz: Gott ist treu, der verheißen hat. Unser Glaube beruht darauf, dass Gott wahrhaftig ist und als der Wahrhaftige uns die Verheißung gegeben hat. Wir können ja überhaupt nicht glauben, ohne dass Gott sein Wort an uns richtet. Doch ist nicht jedes Wort geeignet, Glauben in uns zu wecken, sondern durch die Verheißung erst erhält der Glaube sein wahres Fundament. So geht aus dieser Stelle hervor, dass zwischen dem Glauben der Menschen und Gottes Verheißung ein inniger Zusammenhang besteht; ohne Gottes Verheißung kein Glaube.

V. 24. Lasset uns untereinander unser selbst wahrnehmen. Diese Ermahnung ist wohl hauptsächlich im Blick auf die jüdische Herkunft der Leser gesprochen. Das stolze Volksbewusstsein der Juden ist ja bekannt. Sie rühmten sich, als Nachkommen Abrahams die einzigen Menschen zu sein, die Gott in den Bund des ewigen Lebens aufgenommen habe. Mit anmaßender Verachtung aller übrigen Völker nahmen sie allen Ernstes für sich allein das Vorrecht in Anspruch, die Gemeinde Gottes darzustellen. Zur Bekämpfung dieses Hochmutes mussten die Apostel viel Mühe aufwenden. So soll wohl auch hier der jüdische Unwille über den gleichberechtigten Anteil der Heiden am Leben der Gemeinde zurechtgewiesen werden. Mit Reizen zur Liebe. Gott sammelte sich damals eine Gemeinde aus Juden und Heiden, zwischen denen immer eine erbitterte Feindschaft geherrscht hatte, so dass ihre Vereinigung so unmöglich schien wie die Verbindung von Feuer und Wasser. Wenn nun die jüdischen Christen die Gleichstellung mit den heidnischen unter ihrer Würde hielten, so stellt der Apostel solcher eifersüchtigen Gereiztheit die wetteifernde Anreizung zur Liebe gegenüber. Statt durch die Gefühle des Neides sich zum Streit hinreißen zu lassen, sollen sie sich vielmehr in frommem Eifer gegenseitig zur Liebe anspornen.

V. 25. Und nicht verlassen unsere Versammlungen. Im griechischen Urtext deutet das Wort Versammlung nach seiner Zusammensetzung hin auf die Vermehrung, die eine Gemeinschaft durch den Hinzutritt neuer Glieder erfährt. Nach der Entfernung der Scheidewand zwischen Juden und Heiden (Eph. 2, 14) hat Gott die, die fern waren, in die Gemeinschaft seiner Kinder aufgenommen. Die durch diesen Zuwachs eingetretene Vermischung betrachteten viele Juden für sich als entehrend und glaubten daher hinreichenden Grund zu haben, sich von der Christengemeinde zu trennen. Es war wirklich nicht leicht, sie zum Aufgeben ihres ausschließlichen Standpunktes zu bringen. Daher die Ermahnung des Apostels, sich durch jene Gleichstellung nicht zum Verlassen der christlichen Gemeinde bestimmen zu lassen. Aber abgesehen von dieser dem Apostel vorschwebenden Gefahr, hat die Ermahnung für uns eine allgemeine Bedeutung. Weit verbreitet ist unter den Menschen die krankhafte Sucht, sich über andere zu erheben, und zumal solche, die in irgendeiner Beziehung vor andern einen Vorzug zu haben scheinen, lassen sich nur widerwillig mit den niedriger Stehenden in ein Band fassen. Ja, sie möchten sich wohl lieber ein jeder seine eigene Gemeinde gründen, wenn es anginge; so groß ist fast bei allen der Eigensinn, der die Anpassung an fremde Anschauungen erschwert. Die Reichen sind unter sich schon eifersüchtig, und unter hundert fände man kaum einen, der einen Armen als seinen Bruder anerkännte. Wenn uns nicht Übereinstimmung der Sitten und höfliche Rücksichten gegenseitig nahe brächten, so wäre nichts schwieriger, als untereinander auf die Dauer ein freundliches Verhältnis aufrecht zu erhalten. Daher tut uns allen jene Ermahnung überaus not, uns mehr durch Liebe als durch Eifersucht reizen zu lassen und uns nicht loszutrennen von denen, die Gott uns zur Seite gestellt hat, sondern mit brüderlichem Sinn und Wohlwollen alle zu umfassen, die durch gemeinsamen Glauben mit uns verbunden sind. Weil der Satan darauf ausgeht, uns auf jede Weise, sei es durch offenen Bruch oder durch innere Entfremdung, auseinander zu bringen, so müssen wir umso mehr mit allem Eifer auf die Einigkeit der Kirche bedacht sein. Zu dem Ende darf keiner von sich selber allzu sehr eingenommen sein, vielmehr müssen wir alle nur von dem Bestreben beseelt sein, uns gegenseitig zur Liebe anzuspornen und unter uns keinen anderen Eifer aufkommen zu lassen als den, Gutes zu tun. Wenn wir aber die Brüder verachten, eigensinnig und eifersüchtig sind, zu viel von uns selber halten oder sonst einander kränken, so ist das ein sicheres Zeichen von Erkaltung oder gar Abwesenheit der Liebe.

Sondern untereinander ermahnen. Es ist Pflicht aller Frommen, auf jede mögliche Weise das Ihrige beizutragen, dass die Gemeinde Christi sich von überall her sammle. Der Ruf, der vom Herrn an uns ergeht, schließt ohne weiteres die Pflicht ein, dass jeder hinfort trachte, andere herbeizuführen, Irrende zurecht zu bringen, Strauchelnden die Hand zu reichen, Ungläubige zu gewinnen. Solche Mühe sollen wir uns geben um die, die der Herde Christi noch nicht angehören; wie groß muss dann erst der Eifer sein, die Brüder zu ermahnen, mit denen Gott uns schon verbunden hat.

Wie etliche pflegen. Nicht ohne Grund ermahnt der Apostel die Leser. Die Krankheit ist schon ziemlich fortgeschritten, für die er das nötige Heilmittel vorschreibt. Wir vernehmen, dass es schon zur Zeit der Apostel unter den Christen solche gab, die dem Evangelium untreu wurden und sich von der Gemeinde absonderten. Umso weniger darf es uns beunruhigen und verwirren, wenn wir heutzutage ähnlichen Abfall erleben; dies ist keine neue Erscheinung. Ein ernstes Ärgernis ist es immerhin, wenn Menschen, die eine gewisse Frömmigkeit gezeigt und mit uns den gleichen Glauben bekannt haben, vom lebendigen Gott abfallen. Alle Spaltungen in der Kirche sind immer aus der stolzen Selbstüberhebung der Menschen entstanden.

Und das so viel mehr usw. Es ist hier die Rede von der Wiederkunft Christi, deren Erwartung uns mächtig antreiben soll, sowohl auf unsere persönliche Heiligung bedacht zu sein (Röm. 13, 11 f.; 2. Petr. 3, 11 f.), als die Sammlung und Einigung der Kirche mit Sorgfalt und brennendem Eifer zu betreiben. Wenn Christus kommen wird, will er uns aus der gegenwärtigen Zerrissenheit zur Einigkeit zusammenbringen. Je näher daher der Tag seines Kommens ist, desto mehr muss uns die Einigung der zerstreuten Glieder am Herzen liegen, damit eine Herde und ein Hirt werde (Joh. 10, 16). Man könnte sich darüber verwundern, dass der Apostel zu solchen, für die die Erscheinung Christi noch in weiter Ferne lag, sagt, sie sehen den Tag nahen, ja er stehe unmittelbar bevor. Aber von Anfang an handelte es sich für die Glieder der Christengemeinde darum, das baldige Kommen des Richters zu erwarten. Sie waren nicht in einem falschen Wahn befangen, wenn sie jeden Augenblick auf Christi Ankunft gerüstet waren. Denn seit das Evangelium in die Welt gekommen ist, wird mit Recht und im eigentlichen Sinn die ganze christliche Epoche als die letzte Zeit bezeichnet. So haben auch die vor Jahrhunderten Verstorbenen so gut wie wir in den letzten Tagen gelebt. Die naseweisen Spötter freilich lachen über unsere Einfalt und begreifen es nicht, wie man an eine Auferstehung des Fleisches und an ein letztes Gericht glauben kann. Aber unser Glaube wird durch solchen Spott nicht erschüttert: lehrt uns doch die Schrift, dass tausend Jahre vor Gott sind wie ein Tag (2. Petr. 3, 8). Im Hinblick auf die Ewigkeit des himmlischen Reiches kann für uns die Dauer einer, wenn auch langen Zeit nichts ins Gewicht fallen. Zudem ist uns seit jenem Tag, da Christus nach vollbrachtem Erlösungswerk gen Himmel gefahren ist, die Zeit seiner Wiederkunft verborgen, so dass wir recht tun, sie jederzeit zu erwarten und jeden Tag anzusehen, wie wenn er der letzte wäre.

V. 26. Denn so wir mutwillig sündigen usw. Dieses Wort gibt uns zu bedenken, was für ein Strafgericht denen bevorsteht, die von Christi Gnade abfallen. Des alleinigen Heils verlustig, sind sie dem gewissen Verderben anheimgegeben. Indessen schützt die richtige Erklärung des Wortsinnes für sich allein schon vor dem Missverständnis, das sich in der alten Kirche an den Namen der Novatianer1) knüpft. Der Apostel spricht hier nicht von einzelnen Fehltritten, sondern von dem völligen Bruch mit der Kirche und von der bewussten Abwendung von Christus und seiner Gnade. Eine solche allgemein widerstrebende Haltung setzen auch die Worte voraus: nachdem wir die Erkenntnis der Wahrheit empfangen haben. Dass nur von Abtrünnigen die Rede ist, geht übrigens aus dem Zusammenhang hervor. Der Apostel warnt ja die einmal in die Gemeinde Aufgenommenen davor, sie wieder zu verlassen, wie etliche taten. Für solche, sagt er, gibt es fürder kein anderes Opfer, da sie mit freiem Willen sündigen und wider besseres Wissen und Gewissen die Gnade von sich weisen, nachdem sie die Erkenntnis der Wahrheit empfangen hatten. Diese göttliche Strenge, so fruchtbar ernst und erschreckend sie auch ist, darf nicht als Grausamkeit ausgelegt werden. Christi Tod ist das alleinige Heilmittel, um uns vom ewigen Tode zu erlösen. Wer dessen Segenskraft nicht annehmen will, dem bleibt nichts anderes übrig als Verzweiflung; er beraubt sich selbst aller Hoffnung auf Vergebung. Anders ist es, wenn einer, von einem Fehltritt übereilt, in Sünde gerät. Sofern er nur in Christus bleibt, bietet ihm Gott täglich Gnade und Vergebung an. Für die Frommen hat das Opfer Christi sündentilgende Kraft bis zu ihrem Tod, wie oft sie auch in menschlicher Schwachheit fehlen. Aber nicht davon spricht der Apostel, sondern von der frevelhaften Abkehr von Christus und seinem Erlösungstod. Die Worte: nachdem wir die Erkenntnis der Wahrheit empfangen haben, heben die Undankbarkeit eines solchen Verhaltens deutlich hervor. Wer eigenwillig und vorsätzlich das Licht, das Gott in seinem Herzen hat aufgehen lassen, auslöscht, kann zu seiner Entschuldigung nichts vorbringen. Mögen wir also die uns angebotene Wahrheit nicht nur mit ehrfurchtsvollem und lernbegierigem Sinn annehmen, sondern in ihrer Erkenntnis fest beharren, damit dieses über ihre Missachtung verhängte, schreckliche Strafgericht uns nicht treffe.

V. 27. Sondern ein schrecklich Warten. Darunter hat man sich die Qualen des bösen Gewissens zu denken, unter denen die Gottlosen leiden, die nicht bloß in keiner Weise Gottes Gnade verspüren, sondern, nachdem sie geschmeckt haben die himmlische Gabe, erkennen müssen, dass sie durch eigene Schuld ewig ausgeschlossen sind. Solche Gewissensangst muss eine wahre Folterqual sein. Daher denn auch der trotzige Groll gegen Gott und die Auflehnung gegen einen so strengen Richter. Mit allen Mitteln sucht man den Gedanken an Gottes Zorn los zu werden, aber vergebens. Gott gibt solchen Menschen wohl bisweilen auf kurze Zeit Ruhe, aber nur um sie bald vor seinen Richterstuhl zu fordern und mit den gefürchtetsten Qualen zu ängstigen.

Feuereifer, eigentlich Eifer des Feuers, das verzehren wird. Eifer bezeichnet die brennende Hitze und ungestüme Macht des Feuers. Feuer ist hier, wie auch sonst etwa, im übertragenen Sinn zu verstehen. Wie die Gottlosen jetzt durch den bloßen Gedanken an den göttlichen Zorn in heftige Aufregung und Angst geraten, so werden sie dann vor Qual eigentlich verzehrt werden. Über dieses Feuer darf man nicht spitzfindige Untersuchungen anstellen. Wenn die heilige Schrift Feuer und Wurm miteinander nennt (Jes. 66, 24), so ist offenbar beides bildlich zu verstehen. Der Wurm wenigstens bedeutet ohne Zweifel die Gewissensqualen, die an den Gottlosen nagen.

Der die Widersacher verzehren wird. Zu den Feinden Christi wird gerechnet, wer den Kreis der Gläubigen, zu dem er gehört hat, verlässt. Einen Mittelweg gibt es nicht.

V. 28. Wenn jemand das Gesetz Moses bricht usw. Schon die Übertretung des Gesetzes war ein todeswürdiges Verbrechen; wieviel mehr verdient die leichtfertige Verwerfung des Evangeliums Strafe! Das musste auf die jüdischen Leser Eindruck machen. Die strengen Maßnahmen des Gesetzes gegen die Abtrünnigen waren ihnen weder unbekannt, noch konnten sie ihnen unbillig hart erscheinen. Daher mussten sie die, wenn auch strenge Bestrafung, durch welche Gott heute die Herrlichkeit seines Evangeliums vor Entheiligung schützt, als gerecht anerkennen. Auch hier bestätigt es sich, dass der Apostel bei dem mutwillig Sündigen (V. 26) nicht an einzelne sündliche Regungen denkt, sondern an die gänzliche Verwerfung Christi. Denn nicht jede Gesetzesübertretung wurde mit dem Tode bestraft, sondern nur der bewusste Abfall von Gott und die völlige Lossagung von seinem Gesetz. Der Apostel hat die Stelle 5. Mose 17, 2 ff. im Auge: „Wer den Bund des Herrn, deines Gottes, übertritt und hingeht und anderen Göttern dient, den sollst du ausführen zu deinem Tor und zu Tode steinigen.“ Das Gesetz hatte seinen Ursprung in Gott, und Mose war nicht sein Urheber, sondern bloß sein Diener. Gleichwohl wird es das Gesetz Moses genannt, weil es durch ihn vermittelt ist, damit das Evangelium, das vom Sohne Gottes ausgegangen ist, nach seiner Erhabenheit in umso hellerem Licht erscheine.

Er muss sterben durch zwei oder drei Zeugen. Daraus ist deutlich zu erkennen, welche Gesetzesübertretung der Apostel bezeichnen will. Ohne den Zusatz „durch zwei oder drei Zeugen“ wäre die Möglichkeit zu allerlei falschen Vermutungen gegeben gewesen. Jetzt ist es völlig klar, dass von der Abtrünnigkeit die Rede ist. Nebenbei bemerkt ist dieser Rechtsgrundsatz von den meisten Gesetzgebern anerkannt worden, dass niemand verurteilt werde ohne auf die Aussage von zwei Zeugen hin (5. Mose 19, 15).

V. 29. Der den Sohn Gottes mit Füßen tritt. Die Abtrünnigen gehen ohne Barmherzigkeit zu Grunde, wie unter dem Gesetz, so unter dem Evangelium. Aber ungleich schlimmer ist der Untergang derer, die Christus verachten, weil ihnen nicht nur der leibliche Tod, sondern das ewige Verderben in Aussicht steht. Ihnen wird daher mit schwerer Strafe gedroht. Mit drei verschiedenen Ausdrücken wird der Abfall vom Christentum beschrieben: den Sohn Gottes mit Füßen treten, sein Blut unrein achten und den Geist der Gnade schmähen. Schon der Ausdruck „mit Füßen treten“ lautet viel ernster als das V. 28 gebrauchte „brechen“, und dazu handelt es sich um Christus und sein Ansehen, nicht bloß um Mose. Außerdem verdient Beachtung, dass im Gegensatz zum Gesetz nicht einfach vom Evangelium die Rede ist, sondern Christus und der heilige Geist persönlich Mose gegenübergestellt werden.

Das Blut des Testaments. Die Undankbarkeit erscheint umso größer, je mehr man bedenkt, wie viel reicher die Segnungen sind, die von Christus ausgehen. Sein Blut zu verachten, das unsere Heiligung bewirkt, ist über die Maßen unwürdig. Aber das tun die, die vom Glauben abtreten; denn unser Glaube sieht nicht auf eine bloße Lehre, sondern auf das Blut, durch das unser Heil verbürgt ist. Daher wird es das Blut des Testaments genannt, weil uns erst jetzt, nachdem dieses Pfand gegeben ist, die Verheißungen bestätigt sind. Die Zueignung vollendet sich in dem „geheiligt sein“, da das vergossene Blut uns nichts nützte, wenn wir nicht durch den heiligen Geist damit besprengt würden. So wird es uns zur Versöhnung und zur Heiligung. Die gesetzliche Art der Besprengung, auf die hier angespielt wird, brachte nicht wahre Heiligung, sondern war nur deren Schatten und Vorbild.

Den Geist der Gnade. So heißt der heilige Geist kraft seiner Wirkung, weil wir durch ihn die in Christus angebotene Gnade bei uns aufnehmen. Er erleuchtet unsern Sinn mit des Glaubens Licht, er besiegelt die Gotteskindschaft in unseren Herzen, er wirkt in uns die Wiedergeburt zum neuen Leben und macht uns zu Gliedern am Leibe Christi, so dass er in uns lebt und wir in ihm. Mit Recht wird er also Geist der Gnade genannt, weil wir durch ihn Christi und aller seiner Gaben teilhaftig werden. Ihn schmähen, von dem uns so viele und reiche Segnungen zufließen, ist in der Tat Zeichen einer höchst schändlichen Gottlosigkeit. Den Geist Gottes schmähen aber alle, die seine Gnadenwirkung an sich erfahren haben und dann willentlich wieder zunichtemachen. Kein Wunder, wenn Gott eine solche Entweihung auf die strengste Weise bestraft; kein Wunder, wenn er sich unerbittlich zeigt denen gegenüber, die Christus mit Füßen getreten haben, den Mittler, auf dessen Fürbitte wir angewiesen sind; kein Wunder, wenn Gott den Zugang zum Heil denen verschließt, die den alleinigen Führer, den heiligen Geist, von sich gewiesen haben.

V. 30. Denn wir wissen den, der da sagte usw. Die beiden Schriftstellen sind dem 5. Buch Mose entnommen (32, 35 f.). Dort verheißt Gott, er werde das seinem Volk durch die Feinde zugefügte Unrecht rächen. Es scheint zunächst, diese Stelle lasse sich nur willkürlich brauchen als Stütze für den hier ausgesprochenen Gedanken, dass Gott die nicht ungestraft lässt, die seiner spotten. Dem ursprünglichen Sinn der Stelle entspricht es, wenn Paulus (Röm. 12, 19) uns zur Geduld ermahnt mit dem Wort: Gebt Raum dem Zorngericht Gottes, und sich dabei auf Mose beruft. Allein der besondere Sinn solcher Aussprüche hindert nicht, dass wir auf sie eine allgemeine Wahrheit anwenden. War es auch Moses Absicht, die Gläubigen zu trösten mit der Zusicherung, dass sie an Gott einen Rächer haben für erlittenes Unrecht, so darf man immerhin seinen Worten entnehmen, dass das Strafgericht an den Gottlosen Gottes Sache sei. Und wenn er eine Menschen widerfahrene Unbill nicht ungerächt lässt, wird ihm dann an seiner eigenen Ehre weniger gelegen sein? Gott lässt seiner nicht spotten; er wird den Gottlosen vergelten nach ihren Werken.

Der Herr wird sein Volk richten. Auch hier entsteht die gleiche oder gar eine noch größere Schwierigkeit, weil die Worte bei Mose einen anderen Sinn zu haben scheinen. Der Zusammenhang, in welchen sie durch den Apostel gestellt werden, erweckt den Gedanken, richten bedeute so viel wie strafen, während Mose der nachfolgende Satz: „und über seine Knechte wird er sich erbarmen“, zeigt, dass von der Ausübung des Herrscheramtes im Allgemeinen die Rede ist. Aber auch in dieser Bedeutung passt die Schriftstelle gut hierher; denn wenn Gott über seine Gemeinde herrscht, wird er sie auch reinigen und alle Verwirrung in ihr zurechtbringen. Daher haben die Heuchler mit Fug und Recht eine solche Herrschaft Gottes zu fürchten. Wenn der Hausherr selbst für Ordnung in seinem Hause sorgt, werden sie der Strafe dafür nicht entgehen, dass sie sich unter die Frommen eingeschlichen und Gottes heiligen Namen schändlich missbraucht haben. In diesem Sinne heißt es von Gott, er mache sich auf, um sein Volk zu richten: er scheidet die Heiligen von den Heuchlern (Ps. 50, 3 – 6). Und der 125. Psalm spricht von der Austilgung der Gottlosen, die sich nicht länger darum, weil Gott sie gewähren lässt, mit ihrer Zugehörigkeit zur Gemeinde brüsten sollen. Das Strafgericht wird an ihnen vollzogen werden, und dann heißt es: Friede über Israel! So darf der Apostel wohl darauf hinweisen, dass Gott seine Gemeinde regiert und nichts versäumt, was zur Ausübung seiner Herrschaft gehört, damit jeder lerne, sich völlig unter sein Regiment zu stellen, und daran denke, dass er seinem Richter wird Rechenschaft geben müssen.

V. 31. Den Schluss macht das Wort: Schrecklich ist es, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen. Wie sehr auch ein sterblicher Mensch zu fürchten sei, über den Tod hinaus vermag er nicht zu schaden. Der Allmacht Gottes aber sind nicht so enge Grenzen gezogen. Und während wir die Menschen oft täuschen können, so entgeht man doch dem göttlichen Strafgericht nicht. Wer da inne wird, dass er es mit Gott zu tun hat, den muss, falls er nicht völlig verstockt ist, Furcht und Zittern ankommen, ja ein Schrecken von Gott her, womit sich keine Schmerzen und Qualen vergleichen lassen. So oft unser Fleisch uns einen Genuss vorspiegelt oder die Sünde in irgendeiner Gestalt uns lockt, muss dieses eine Wort genügen, uns aufzurütteln: schrecklich ist es, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen, dessen Zorn so viele und so schreckliche Strafen verhängen kann zu ewigem Verderben. Nur scheinbar ist es ein Widerspruch, wenn David ausruft (2. Sam. 24, 14), es sei besser, in die Hand des Herrn zu fallen, als in der Menschen Hand. David spricht im Vertrauen auf Gottes Barmherzigkeit und wählt lieber ihn als die Menschen zu seinem Richter. Weil er sich in seiner Niedergeschlagenheit an der verheißenen Gnade aufrichtet, glaubt er, dass sich der Zorn Gottes, den er ja wohl verdient habe, wenden werde. Da er gewiss ist, Gott werde nach seiner Bitte tun, so ist es kein Wunder, wenn er den Zorn Gottes weniger fürchtet als den der Menschen. Hier aber spricht der Apostel vom Zorn Gottes gegen die Verworfenen, die ohne Hoffnung auf Vergebung die äußerste Strenge über sich ergehen lassen müssen, weil sie selber der Gnade Gottes den Zugang verschlossen haben. Wie wir wissen, richten sich die biblischen Aussagen über Gott nach dem Verhalten der Menschen zu ihm: „Bei den Reinen bist du rein, und bei den Verkehrten bist du verkehrt“ (Ps. 18, 27).

V. 32. Gedenket aber an die vorigen Tage. Die Erinnerung an die früheren Erweise ihrer Frömmigkeit soll die Leser zum freudigen Beharren aufmuntern. Nach gutem Anfang mitten im Lauf ermatten ist schmählich; noch schmählicher aber ist es zurückzuweichen, nachdem man schon weit vorangekommen ist. Nur dann ist uns die Erinnerung an die früher bewiesene Standhaftigkeit und Treue im Kampf unter Christi Fahne heilsam und nützlich, wenn sie uns nicht zum Anlass feiger Ermattung wird, als hätten wir unsere Pflicht schon vollständig erfüllt, sondern uns vielmehr zur Vollendung des vorgeschriebenen Laufes umso williger macht. Christus hat uns berufen, nicht damit wir nach Verlauf von einigen Jahren wie ausgediente Soldaten unseren Abschied nehmen, sondern um bis zum Ende in seinem Dienste zu stehen. Die Ermahnung wird zudem umso nachdrücklicher, wenn von den Lesern gesagt werden kann, sie hätten den Beweis ihrer Kriegstüchtigkeit schon als junge Rekruten in hervorragender Weise geleistet; umso schimpflicher wäre daher ihr Abfall nach so langer Übung im Kriegsdienst. Durch den Zusatz nämlich: nachdem ihr erleuchtet waret, wird die Aussage auf jene ersten Erfahrungen in der Nachfolge Christi bezogen, so dass sie den Sinn erhält: gleich am Anfang eures christlichen Lebens habt ihr große und heftige Kämpfe erduldet; nachdem ihr diese Schule durchgemacht, solltet ihr nun umso mutiger geworden sein. Der Ausdruck lässt aber auch erkennen, dass der Anfang ihres Glaubens auf Gott und nicht auf ihre eigene Kraft zurückzuführen ist. Erleuchtet werden solche, die vorher in der Finsternis lebten und mit ihren Augen nicht sehen konnten, wenn ihnen nicht von außen das Licht käme. So oft also in unserer Erinnerung auftaucht, was wir für Christus getan und gelitten haben, so oft sollen wir uns angetrieben fühlen zu noch weiterem Fortschritt.

V. 33. Zum Teil selbst durch Schmach usw. Die Angeredeten hatten ungewöhnliche Proben ihres Glaubens bestanden. Sie sind durch Schmach und Trübsal ein Schauspiel geworden, haben also sehr schwere Verfolgungen standhaft ertragen. Dennoch werden sie zu noch Größerem aufgefordert. Niemand soll sich in verkehrter Selbstgefälligkeit einreden, er habe das Ziel schon erreicht, oder er bedürfe keiner weiteren Antriebe mehr. Besonders aber ist auf das zu achten, was weiter folgt. Es heißt, sie hätten Gemeinschaft gehabt mit den Gläubigen, die verfolgt wurden. Da alle Frommen gleicherweise für Christi Sache kämpfen, so muss ihnen das Leiden, das über die einen kommt, als gemeinsames gelten (1. Kor. 12, 26). Das soll stets unser Grundsatz sein, wollen wir uns nicht von Christus selber lossagen.

V. 34. Ihr habt den Raub eurer Güter mit Freuden erduldet. Ohne Zweifel hat die Einbuße ihrer Güter die Leser, sofern sie menschlich empfanden, in Trauer versetzt. Armut gehört zu den Widerwärtigkeiten dieses Lebens, und so berührte sie der Verlust der Güter an und für sich schmerzlich. Aber ihre Traurigkeit war derart, dass sie die Freude nicht ausschloss, von der der Apostel hier spricht. Der Blick nach oben gab ihnen eine Befriedigung, die ihren Schmerz um das Verlorene linderte. So soll auch unser Herz durch das Sehen auf die himmlische Belohnung (11, 26) von der Welt abgelenkt werden. Das ist eine Glaubenserfahrung aller Frommen. Wir lassen uns sicher alles mit Freuden gefallen, was nach unserer Überzeugung zum Heil dienen muss. Kinder Gottes haben aber diese Gewissheit vor allem in Bezug auf die Kämpfe, die sie zur Ehre Christi auf sich nehmen. Daher kann bei ihnen auch im tiefsten Schmerz die natürliche Regung nie so sehr die Oberhand gewinnen, dass sie unfähig wären, ihren Sinn zum Himmel zu erheben und so zur Freude im Geist durchzudringen.

Als die ihr wisset, dass ihr bei euch selbst eine bessere und bleibende Habe im Himmel habt. Hierin liegt der Grund der Freude. Fröhlich haben sie den Raub ihrer Güter erduldet, nicht weil sie sich gern beraubt sahen, sondern weil sie ihren Geist auf den reichen Ersatz richteten und daher die schmerzlichen Erfahrungen des gegenwärtigen Verlustes leicht vergessen konnten. Gegenüber dem kräftig empfundenen Vorgeschmack der himmlischen Güter verliert die Welt mit ihren Lockungen ihren Reiz so völlig, dass wir weder Armut noch bei Schmach im Schmerz völlig versinken können. Es gibt daher kein besseres Mittel, geduldig und gelassen alles, was es auch sei, um Christi willen ertragen zu können, als häufiges Sichversenken in das Glück, das wir bei dem Herrn finden. Demgegenüber sind alle irdischen Güter als Kot zu betrachten (Phil. 3, 8).

Bei euch selbst. Übersehen wir das nicht. Was hilft es, die von Gott seinen Kindern gegebene Verheißung des Erbes im Allgemeinen zu kennen, wenn man sie nicht auf sich zu beziehen vermag?

V. 35. Werfet euer Vertrauen nicht weg. Nichts trägt so sehr dazu bei, uns standhaft zu machen, als kräftiges Festhalten am Vertrauen. Werfen wir dieses weg, so bringen wir uns selbst um die in Aussicht gestellte Belohnung. Dieses Vertrauen ist also das Fundament eines frommen und heiligen Wandels. Wenn von einer Belohnung die Rede ist, so wird dadurch die freie Gnadenverheißung in keiner Weise abgeschwächt. Denn wenn auch die Gläubigen wissen, dass ihre Arbeit in dem Herrn nicht vergeblich ist (1. Kor. 15, 58), so verlassen sie sich doch auf nichts anderes als auf Gottes Erbarmen. Übrigens ist bei anderer Gelegenheit oft genug davon die Rede gewesen, dass sich der Ausdruck Lohn wohl verträgt mit der freien Gnade, durch die uns Gerechtigkeit geschenkt wird.

V. 36. Geduld aber ist euch not, - nicht nur, weil bis ans Ende ausgeharrt werden muss, sondern weil der Satan ungezählte Hemmnisse, Schwierigkeiten und Widerwärtigkeiten auf unserem Weg häuft, um uns wo möglich aufzuhalten. Wären wir daher nicht mit einer ganz besonderen Widerstandskraft ausgerüstet, so würden wir tausendmal entmutigt zusammenbrechen, bevor wir die Hälfte unseres Laufes nach dem vorgesteckten Ziel zurückgelegt haben. Ja keine zwei Schritte kann der Christ tun, ohne zu ermatten, wenn er sich nicht mit Ausdauer wappnet. Das ist die einzige Möglichkeit, beständig vorwärts zu kommen; anders werden wir weder Gott gefallen, noch je das verheißene Erbe, das hier die Verheißung genannt wird, erlangen.

V. 37. Noch über eine kleine Weile. Um die Ausdauer zu erleichtern, erinnert der Apostel, es werde nicht lange währen. Nichts kann zage Gemüter mehr aufrichten als die Aussicht auf einen nahe bevorstehenden Ausgang. Ähnlich wie ein Feldherr seinen Soldaten das nahe Ende des Krieges zeigt, sofern sie nur noch ein wenig ausharren, gibt hier der Apostel den tapferen Kämpfern zu bedenken, dass der Herr bald kommen werde, der sie aus allen Übeln herausreiße. Diesen feinen Trost kleidet er mit Nachdruck in eine Anführung aus dem Propheten Habakuk (2, 3 f.). Da er jedoch der griechischen Übersetzung des alten Testaments folgt und von den eigenen Worten des Propheten einigermaßen abweicht, gebe ich zunächst eine kurze Darlegung der letzteren. Nachdem der Prophet die furchtbare Niederlage seines Volkes geschaut, fasst ihn Entsetzen darüber, und es drängt ihn, sich gleichsam aus der Welt zurückzuziehen auf eine Warte. Unsere Warte aber ist Gottes Wort, das uns in den Himmel erhebt. So auf seiner Feste stehend, erhält er den Befehl, eine neue Weissagung niederzuschreiben, die den Frommen gewisse Rettung verheißt. Weil aber die Menschen einmal von Natur in ihrem Wünschen und Begehren so stürmisch sind, dass sie immer dazu neigen, Gott der Langsamkeit zu zeihen, wie sehr er auch eilt, so wird erklärt, die Verheißung werde ohne Verzug erfüllt werden; dann wird freilich gleich beigefügt: „Ob sie verzieht, so harre ihrer.“ Damit soll angedeutet sein, was Gott verheiße, geschehe nie so schnell, dass es uns nicht spät vorkomme, wie das alte Sprichwort sagt, dem Wartenden werde die Zeit immer lang. Hierauf folgt das Wort: „Siehe, wer halsstarrig ist, der wird keine Ruhe in seinem Herzen haben; der Gerechte aber wird seines Glaubens leben.“ Die Gottlosen, wird damit gesagt, haben trotz aller Hilfsmittel, auf die sie sich verlassen, keinen Halt, weil nur im Glauben wahres Leben ist. Mögen sich darum die Ungläubigen sichern, wie sie wollen, sie finden in der ganzen Welt nur hinfällige Stützen, so dass sie immer wieder in ängstliche Unruhe versetzt sind; wogegen die Frommen ihr Glaube niemals täuscht, da er auf Gott ruht. Dies ist der Sinn des Prophetenworts. Der Apostel überträgt nun, was von der Verheißung gesagt ist, auf Gott selbst – im Grunde ein kleiner Unterschied, da Gott in der Erfüllung seiner Verheißungen gewissermaßen sich selbst offenbart. Ist es doch ein Kommen des Herrn, so oft er seine Hand ausstreckt, uns zu helfen. Bald werde dies geschehen, sagt der Apostel mit dem Propheten; denn Gott schiebt seine Hilfe nicht länger als nötig auf. Nie tut er es, um uns, wie Menschen pflegen, in eitler Weise hinzuhalten, sondern er kennt seine Zeit, und im entscheidenden Augenblick greift er ein.

V. 38. Der Gerechte aber wird des Glaubens leben. Das bedeutet hier zunächst, die ausharrende Geduld werde aus dem Glauben geboren. Gewiss ist es so: nur vermöge des Glaubens werden wir den unser wartenden Kämpfen gewachsen sein; er ist in Wahrheit für uns, wie 1. Joh. 5, 4 sagt, der Sieg, der die Welt überwindet. Er ist es, in dessen Kraft wir uns aufwärts schwingen, durch den wir alle Krisen des gegenwärtigen Lebens, alles Leid und Mühsal besiegen, - mitten im Wetter ein sicherer Bergungsort. Der Apostel wollte daher den Gedanken ausdrücken, dass die vor Gott Gerechtfertigten ihr neues Leben überhaupt einzig durch den Glauben haben.

Die Zukunftsform: er „wird leben“ – deutet die ewige Dauer dieses Lebens an. Für das Nähere verweise ich auf die Erklärung zu Röm. 1, 7 und Gal. 3, 11, wo die nämliche Stelle zitiert wird.

Wer aber weichen wird. Der Prophet sagt: „Wer halsstarrig ist, der wird keine Ruhe in seinem Herzen haben.“ Der Apostel hält sich auch hier an die griechische Übersetzung, die teils mit dem Sinn des Propheten übereinstimmt, teils sich davon unterscheidet. Was das „Weichen“ betrifft, so berührt es sich sehr nahe mit dem halsstarrigen, d. h. hochmütig aufgeblasenen Wesen der Gottlosen; denn ihre trotzige Auflehnung wider Gott hat ihren Grund eben darin, dass sie, von falscher Sicherheit trunken, sich Gottes Machtbereich meinen entziehen und dabei ruhig und straflos bleiben zu können. Ihr Weichen ist eine Flucht hinter allerlei Verschanzungen, die sie der Notwendigkeit, Gott zu fürchten und zu verehren, entheben soll. Daher wird mit diesem Ausdruck ebenso die Art des Glaubens wie der Geist der Gottlosigkeit gekennzeichnet. Der Glaube weicht nicht; er führt den Menschen aus seinem Versteck heraus, löst ihn von sich selbst und bringt ihn in die demütige Abhängigkeit von Gott.

V. 39. Wir aber sind nicht von denen, die da weichen. Das angeführte Wort passte sehr gut zu der früheren Mahnung (V. 25), die Versammlung der Christen nicht zu verlassen, ums ich nicht schließlich dem Glauben und der Gnade Christi zu entfremden. Jetzt gibt ihm der Apostel die feine Wendung: ihre Berufung schließe ein für alle Mal das Weichen aus. Und nochmals stellt er Glauben und Weichen, Rettung der Seele und Verdammnis einander gegenüber. Bedenken wir wohl, dass dies auch uns angeht. Hat Gott uns einmal des Lichts des Evangeliums gewürdigt, so kann der Zweck unserer Berufung nur sein, Gott immer gehorsamer zu werden und ihm beständig näher zu kommen. Auf diesem Wege entfliehen wir dem ewigen Verderben und retten unsere Seele.

1)
vgl. zu 6, 4.
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