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Calvin, Jean - Der Mensch

Calvin, Jean - Der Mensch

Mit gutem Grunde legt ein altes Sprichwort dem Menschen ans Herz: „Erkenne dich selbst.“ Gilt es schon als schimpflich, nicht zu wissen, wie man sein Leben vernünftig einrichtet, so ist es noch viel häßlicher, wenn man sich selbst nicht kennt: denn diese Unkenntnis raubt uns für unsere Entschlüsse auf dem allerwichtigsten Gebiete das klare Urteil und macht uns gänzlich blind. Wir müssen uns aber hüten, diese alte nützliche Anweisung nicht zu mißbrauchen, wie dies viele Philosophen getan haben. Sie wendeten die Mahnung zur Selbsterkenntnis dahin, daß der Mensch sich über seine Würde und Herrlichkeit wohl unterrichten solle. Sie leiteten ihn zu einer Selbstbespiegelung an, die ihn aufgeblasen, stolz und voll leeren Selbstvertrauens machen mußte. Tatsächlich kommen für die Selbsterkenntnis zwei Stücke in Betracht:

Erstlich sollen wir uns vor Augen stellen, was uns bei der Schöpfung gegeben ward, und wie Gott noch immer seine Gnade freundlich über uns walten laßt. Dabei kann uns freilich nicht entgehen, wie erhaben unsre Natur angelegt war - wenn sie nur in ihrem unversehrten Stande geblieben wäre. Und doch müssen wir uns zugleich sagen, daß wir nichts Eignes haben, sondern nur entlehnen, was Gott uns gibt, so daß wir immer von ihm abhängig bleiben. Zweitens stoßen wir auf unsere jämmerliche Verfassung nach Adams Fall. Die Empfindung, die uns dabei aufsteigt, kann nur demütigende Scham sein, bei der uns das Rühmen und Selbstvertrauen vergeht. Denn wenn uns Gott im Anfang nach seinem Bilde geschaffen hat, um unser Dichten und Trachten nicht bloß mit irdischer Sittlichkeit, sondern auch mit dem Ausblick auf das ewige Leben zu beschäftigen, so gilt es - wenn anders wir uns wirklich unseres edlen Vorzugs vor den unvernünftigen Kreaturen bewußt bleiben wollen -~, vor allen Dingen dies festzuhalten, daß wir mit Vernunft und Verstand begabt wurden, damit wir durch einen heiligen und sittlichen Wandel dem Ziel der seligen Unsterblichkeit stets näher kommen. Sobald wir uns aber diese ursprüngliche Würdestellung vorhalten, fällt unwillkürlich unser Blick auch auf die trostlose Verschmutzung und Schande, in die uns der Fall des ersten Menschen gestürzt hat. So lernen wir, uns selbst zu hassen und in wahrer Demut ein Mißfallen an uns selbst zu haben. Und dies gibt uns einen neuen Antrieb, nach Gott zu fragen, in dessen Gemeinschaft ein jeglicher die Güter wiedergewinnen soll, von denen er sich sagen muß, daß sie ihm gänzlich verlorengingen und fehlen.

Die von Augustin stammende verbreitete Meinung, daß die natürlichen Gaben des Menschen durch die Sünde verderbt, die übernatürlichen verloren wurden, mochte ich durchaus billigen. Unter den übernatürlichen Gaben versteht man das Licht des Glaubens sowie eine solche Gerechtigkeit, die zum Erwerb des himmlischen Lebens und des ewigen Glücks ausgereicht hätte. lndem der Mensch sich von der Herrschaft Gottes lossagte, wurde er zugleich dieser geistlichen Gaben beraubt, die für ihn die Hoffnung auf ewiges Heil bedeuteten.

Jetzt ist er also von Gottes Reich so fern, daß alles, was auf ein seliges Leben der Seele zielt, in ihm ausgelöscht ward, bis es durch die Gnadengabe der Wiedergeburt ihm neu geschenkt wird. Diese Güter sind: Glaube, Liebe zu Gott und den Nächsten, ernstes Streben nach Heiligkeit und Gerechtigkeit. Sie sind, sofern Christus sie uns wiederbringt, Zugaben zu unserer Natur: wir schätzen sie also als übernatürliche Güter ein, die durch den Fall verloren wurden. Daneben kam uns die Gesundheit unseres Denkens und die rechte Richtung des Herzens abhanden: in diesem Letzteren sehen wir die Verderbnis der natürlichen Gaben. Denn wenn auch noch etwas von Denk- und Urteilskraft samt dem Willen in uns bleibt, so können wir diese geschwächte und von mancherlei Finsternis umhüllte Denkkraft doch nicht für gesund und unversehrt erklären und wie verkehrt unser Wille ist, wissen wir nur zu gut Wenn also der Verstand, vermöge dessen der Mensch zwischen gut und böse unterscheidet und andere Urteile fällt zur Ausrüstung der Menschennatur gehört, so konnte er nicht gänzlich verlorengehen; aber er wurde teils geschwächt, teils verfälscht, so daß man nur noch ungestaltete Ruinen sieht… Auch der Wille, der eine notwendige Ausrüstung der Menschennatur ist, ging nicht verloren. Aber er wurde durch sündhafte Begierden gefesselt, so daß er nichts Rechtes mehr begehren kann.

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