Binde, Fritz - Im Namen des Gesetzes

Binde, Fritz - Im Namen des Gesetzes

Frühmorgens aber kam er wiederum in den Tempel, und alles Volk kam zu ihm; und er setzte sich und lehrte sie. Die Schriftgelehrten und Pharisäer aber bringen ein Weib zu ihm, im Ehebruch ergriffen, und stellen sie in die Mitte und sagen zu ihm: Lehrer, dieses Weib ist im Ehebruch, auf der Tat selbst, ergriffen worden. In dem Gesetz aber hat uns Moses geboten, solche zu steinigen; du nun, was sagst du? Dies aber sagten sie, ihn versuchend, auf daß sie etwas hätten, ihn anzuklagen. Jesus aber bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Als sie aber fortfuhren, ihn zu fragen, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer von euch ohne Sünde ist, werfe zuerst den Stein auf sie. Und wiederum bückte er sich nieder und schrieb auf die Erde. Als sie aber dies hörten, gingen sie, einer nach dem anderen, hinaus, anfangend von den Ältesten bis zu den Letzten, und Jesus ward allein gelassen, und das Weib in der Mitte stehend. Als aber Jesus sich aufrichtete und außer dem Weibe niemanden sah, sprach er zu ihr: Weib, wo sind jene, deine Ankläger? Hat dich niemand verurteilt? Sie aber sprach: Niemand, Herr. Jesus aber sprach zu ihr: So verurteile auch ich dich nicht; gehe hin und sündige nicht mehr.
Ev. Joh. 8,2-11

In dieser alten Geschichte ist eine Gerichtsszene dargestellt, die so bedeutsam ist, daß sie trotz ihres Alters noch nichts von ihrer Bedeutung auch für uns verloren hat. Man kann über sie schreiben:

„Im Namen des Gesetzes“,

denn das ist ja das Wort, mit dem überhaupt Gericht gehalten wird. Sehen wir uns diese Gerichtsverhandlung einmal aufmerksam an.

Jesus sitzt im Tempel und lehrt. Da ist in der letzten Zeit seiner Wirksamkeit sein eigentlicher Platz gewesen, gleichwie in der ersten Zeit, da er 12 Jahre alt war. Frühmorgens schon sitzt er da, und allerlei, ja, „alles Volk“ kam, ihn zu hören. Eine fruchtbare Stille, in die seine Worte hineinfallen wie goldige Samenkörner in die bereite Erde, umfängt ihn und die Hörer. Plötzlich wogt ein Lärm auf. Ein Schwarm Leute tobt heran. Sie zerren ein Weib mit sich. Es sträubt und wehrt sich. Roh stößt man es vorwärts, unter Schreien und Toben wälzt sich der Menschenknäuel auf Jesus zu. „Lehrer!“ schreien sie, „dieses Weib ist im Ehebruch ergriffen worden auf frischer Tat. Moses gebietet, solche zu steinigen; du nun, was sagst du dazu?“

Siehe da, urplötzlich eine Anklage im Namen des Gesetzes! „Moses gebietet. .. !“ Eine ertappte Ehebrecherin! Da gibt es Gericht im Namen des Gesetzes; denn das Gesetz ist heilig. Ja, das Gesetz ist unverbrüchlich und heilig; das ist das erste, das uns diese bedeutsame Gerichtsverhandlung zurufen muß.

Was ist das für ein Gesetz? Es ist das Gesetz vom Sinai mit seinem zehnmaligen unerbittlichen, steinharten: „Du sollst!“ Gottes Finger hat es in die Felstafel gegraben; der Finger war noch härter als der Stein – Ungläubiger, du lächelst; aber siehe, dasselbe Gesetz, wenn auch nicht mit hebräischen Lettern, schrieb derselbe Gott dir ins Herz, unzerstörbar, unentrinnbar, du weißt es! Gottes Finger ist noch härter als dein Herz. Frage in Babel, Athen und Rom: unter Staub und Schutt stößest du auf dasselbe Gesetz. Gehe zu den Eskimos und Papuas: sie nicken mit den Köpfen und sagen: „Es stimmt, das Gesetz steht geschrieben in unseren Herzen. “ Fasse den modernen Europäer oder Amerikaner, gehe mit ihm abseits und sage ihm ein Wort unter vier Augen: „Mein Herr, wie ist es?“ Er steht still vor sich selbst und spricht: „Sie haben recht, so ist es. “ – Ja, so ist es! Keine Kultur, keine Ethik ist inhaltlich über jenes Urgesetz der zehn Gebote hinausgekommen, in welch veränderlichen Formen es auch immer erweiterten Ausdruck gefunden haben mag. Auf seinem unerbittlichen: „Du sollst!“ beruht die Möglichkeit des menschlichen Zusammenlebens, die Möglichkeit der Zivilisation, die Möglichkeit der Mission und Bibelverbreitung und auch die Möglichkeit der Evangelisation an diesem Abend in unserer Mitte. Denn eben jetzt wieder wird das Gesetz, das geschrieben steht in unserem Herzen, eine Arbeit tun, die weit größer ist als alle maschinelle und industrielle Tätigkeit an diesem Tage in dieser Stadt. Denn eben jetzt wieder werden die Gedanken anheben, sich untereinander zu verklagen und zu entschuldigen, eben dieselben Gedanken, die dich hierher geführt haben. Und es wird sich zeigen, daß die Anklage in deinem Herzen übereinstimmt mit der Anklage aus dem verlesenen Bibelworte. Denn merke: So unveränderlich wie das Gesetz ist, so unveränderlich ist seine Übertretung. Mit anderen Worten: die Sünden von Babylon, Jerusalem, Athen und Rom sind auch die Sünden von Paris, London und Berlin und auch die Sünden dieser Stadt. Die Kultur hat die Sünde nicht verändert oder gar vermindert, sondern nur kultiviert. Unverbrüchlich gültig bleibt deshalb das heilige Gesetz, das geschrieben steht in der Menschheit Herzen, und von dem das Gesetz vom Sinai der mustergültigste Ausdruck bleibt. Das war das erste.

Nun höre! Eben im Namen dieses Gesetzes, das ja bei den Juden zugleich Volksgesetz war, schleppt man die Übertreterin vor Jesus hin und erhebt die Anklage. Was sind es für Leute, diese Ankläger? O, in Religions- und Rechtssachen zuverlässige Leute, maßgebende Leute: Schriftgelehrte und Pharisäer, Lehrer, Vertreter und Wächter des mosaischen Gesetzes, für das sie peinlich eifern. Besonders diesmal. Denn mit diesem Jesus, diesem Galiläer, stimmt es nicht. Sie haben Grund, zu vermuten, daß er das Gesetz Moses nicht gehörig respektiere. Den Sabbat soll er gebrochen haben und die Reinigungs- und Fastenvorschriften der Ältesten verachten, zudem spricht er freventlich aus, er sei der erschienene Messias, und das dumme Volk glaubt es und läuft ihm nach. Lächerlich! – Kann der Messias auch das Gesetz brechen? Sieht man ihn nicht essen und trinken mit offenbaren Sündern?

Kann der Messias der Sünder Geselle sein? Nimmermehr! Hier muß Klarheit geschafft werden. Jetzt paßt auf! Jetzt hat man einen Fall. Da ist das ehebrecherische Weib. Jetzt paßt auf! Jetzt muß es sich zeigen, wer er ist. Jetzt wird er entlarvt, gefangen, gerichtet. Denn sie sagten ihre Anklage, ihn zu versuchen.

Schmunzelnd und mit lauernden, blitzenden Blicken umstehen sie ihn und das vor ihm zusammengesunkene Weib. Einer stößt den anderen an; einer blinzelt es dem anderen zu: „Paß auf, diesmal gelingt’s! Diesmal legen wir ihm das Handwerk!“ „Im Namen des Gesetzes! Dagegen kommt er nicht auf!“ – Entweder erkennt er jetzt die Heiligkeit des Gesetzes Moses an, und dann muß er auch ihre Heiligkeit und Herrscherstellung anerkennen und sich vor dem Gesetz und vor ihnen beugen – oder er widerspricht dem Gesetz, und dann hat man eine Handhabe, ihn nach dem Gesetz zu richten und loszuwerden. Fein eingefädelt! Keine Ausflucht möglich! Entweder er spricht das Weib schuldig, und dann haben sie recht behalten als die respektablen Wächter des Gesetzes – oder er entschuldigt das Weib, und dann ist der offenbar gewordene Sündergeselle gefangen als Verächter des Gesetzes, und sie haben wiederum recht behalten – nämlich mit ihrer maßgebenden Meinung über ihn – und können ihn richten und vernichten im Namen des Gesetzes! Gott weiß es, sie wünschten das letztere.

Der Herr sitzt noch geradeso da wie zuvor, als er lehrte. Nicht im geringsten, scheint es, ist er durch äußere Unterbrechung innerlich unterbrochen worden. Nur bückt er sich jetzt und schreibt auf die Erde. Er weiß sich gelassen unabhängig von Menschen, aber in kindlicher Überlassenheit innerlichst abhängig vom Vater. Schreibt er den Willen des Vaters über dieses Weib in den Sand, ihr Urteil, wie Gott es Moses gebietet? Und wischt er die Schrift wieder aus mit derselben Hand, die Macht hatte, alle Urteile aufzuheben, weil sie bereit war, sich bald durchbohren zu lassen für die Verurteilten?

Da stampfen sie mit dem Fuß den Erdboden. Seine Ruhe jagt sie in wilde Ungeduld. Mit scharfem Nachdruck wiederholen sie die Anklage. Drohend kreischt es über ihn her: „Du aber, was sagst du?“

Still richtet er sich empor und schaut sie an. Wird er es ihnen jetzt sagen, was zu sagen wäre? –: „Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler! Habt ihr jetzt dies schuldige Weib als Köder ergriffen, mich zu fangen? Wollt ihr die Sünde zur Sünde benutzen und dazu im Namen des Gesetzes? Wahrlich, ich sage euch, vor meines Vaters Augen seid ihr nicht schuldloser als diese da! Moses, auf den ihr euch beruft, wird euch richten!“

Nein, das sagt er nicht. In hoheitsvoller Weisheit begegnet er ihnen auf demselben Boden, auf dem sie ihm zu begegnen suchten, auf dem Boden des heiligen Gesetzes, das unantastbar ehern über dem Menschen wuchtet. Und sich selbst ganz ausschaltend und nur das heilige Gesetz reden lassend, spricht er zu ihnen in eherner Ruhe: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe zuerst den Stein auf sie. “

Und wieder bückt er sich nieder und schreibt auf die Erde.

Fragend – verstehend blicken sie sich einander an, und dann kann keiner mehr den anderen ansehen. Schmachvolle, schwüle Verlegenheit hält sie einen Augenblick gebannt, dann hebt der Älteste unter ihnen sein Kleid ein wenig empor und dann den Fuß und schleicht hinaus. Der Zweitälteste folgt. Der dritte. Leise, langsam, einer nach dem anderen. Bis zum letzten. –

Ich sagte vorhin, diese alte Geschichte habe an Bedeutung für uns nichts verloren. Ich möchte nun warten, daß der Älteste in dieser Versammlung aufstehe und hinausschleiche. .. Wir haben es jetzt gar nicht mit Jesus, wir haben es mit dem unerbittlichen, heiligen Gesetz zu tun. Fühlt sich niemand schuldig? Wer alle zehn Gebote gehalten, möge aufstehen! Keiner. Wer fünf gehalten, möge aufstehen! Niemand. Wer eins gehalten, er möge aufstehen! Auch nicht einer. Gut, dann sitzen wir hier vor dem lebendigen und heiligen Gott als von seinem Gesetz überführte und verurteilte Leute. Laßt uns an unsere Brust schlagen und sprechen: „Schuldig, schuldig, schuldig!“ – Und auf Schuld folgt Gericht und auf Gericht Strafe.

Siehe, das ist das zweite, das dir diese alte Geschichte, diese Gerichtsverhandlung sagen will. Das erste war: Das Gesetz ist heilig, das zweite ist: Du bist vor dem heiligen Gesetz unheilig; es richtet dich. Oder in besonderer Beziehung: Wer sich auf den Boden des Gesetzes stellt, kommt durch das Gesetz um.

Das war es, was jene Pharisäer, die eben hinwegschlichen, vergessen hatten. Im Vertrauen auf ihre religiösen Übungen beriefen sie sich stets aufs Gesetz und wußten nicht, daß das Gesetz die Sünde nur um so sündiger macht, und daß, wenn Gott Sünde zurechnet nach dem Gesetz – und das muß er; denn das Gesetz ist heilig, und Gott ist heilig –, vor ihm kein Lebendiger bestehen kann, sondern aller Welt Mund verstopft wird.

Und das will diese Gerichtsverhandlung, der du jetzt beiwohnst, gerade an dir tun. Sie will deiner sicheren, satten, gähnenden Tugend den Mund stopfen, deiner richtseligen, geschwätzigen Selbstgerechtigkeit Schweigen gebieten, daß du überführt zusammensinken müßtest vor des heiligen Gottes heiligem Gesetz als ein Schuldiger, als ein Verurteilter.

Hat diese Geschichte dies jemals bei dir vermocht? Wie oft schon hast du sie gelesen? Kannst sie gar auswendig! O, der du deine Bibel liest gedankenlos wie die Zeitung oder auswendig weißt wie das Einmaleins! Ist dir der Name Gottes und Jesu nicht geläufiger und inhaltsloser geworden als der Name Schulze oder Müller? Und das Wort Gottes nur ein auswendig gelerntes Stücklein, ein auswendig getragenes Schmuck- und Prunkstück deines selbstgerechten, selbstsicheren, gedankenlosen Namenchristentums? Oder ein wohlfeiles Paradestücklein deines Mundes, deiner vermeintlichen, überlegenen modernsten Bildung, ein Stücklein zum Kritisieren und zum Lachen?

Ja, wir haben es uns lange leicht gemacht.

Haben wir nicht die ehernen Worte Jesu: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe zuerst den Stein auf sie“ so oft in den Mund genommen wie süßen Brei? Kam es nicht öde und selbstgefällig aus unserem verwahrlosten Mund, das gedankenlose Wort: „Ja, Sünder sind wir alle!“ Und das sollte heißen: „Du lieber Gott, macht doch nicht so viel Aufhebens von der Sünde! Sünde ist ja das Allerselbstverständlichste am Menschen! Gar nichts Auffälliges, gar nichts besonders Erwähnenswertes, ja, eigentlich überhaupt nichts mehr. Wer wird sich da nach Steinen bücken. Das tun doch nur die Pharisäer, die immer besser sein wollen als andere Leute. Aber hat es ihnen Jesus nicht gesagt: ,Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. ‘ Wenn Jesus es nicht einmal mit der Ehebrecherin so genau nahm, wie wollen wir es so genau nehmen mit der Sünde! Sünder sind wir alle!“

Sag’, ist das nicht auch dein Sprüchlein gewesen, wie lange, wie lange?

Aber ich fasse dich jetzt beim Knopfloch und sage dir: Freund, diese Gedankenlosigkeit hört von heute abend an auf! Du sagst recht: „Wir sind alle Sünder. “ Gut, sind wir alle Sünder, dann bist auch du persönlich einer. Und dann sind wir auch alle verurteilt, und auch du bist ein persönlich Verurteilter; denn du hast gehört, das Gesetz, das die Sünde anzeigt und die Strafe androht, ist unverbrüchlich heilig wie Gott selbst, der es gab. Und nun laß das fade Geschwätz und erwäge Gottes Urteil über dich! Höre auch auf, vom sogenannten „lieben Gott“ zu faseln, der es nicht so genau nehmen werde und fünf gerade sein lasse. Wohl ist Gott völlige Liebe, aber auch völlige Gerechtigkeit. Nähme er es mit der Sünde nicht mehr genau, so bräche seine Gerechtigkeit zusammen, und er hörte auf, Gott zu sein.

Aber ich sehe dich bereits entweichen mit einer anderen Redensart. Sie lautet: „So schlimm bin ich nicht gewesen. Ich habe allezeit getan, was recht ist, soviel ich nur konnte. Ich habe allezeit meine Pflicht getan!“ Siehe da, derselbe Mund, der gedankenlos sprach: „Sünder sind wir alle!“ derselbe Mund spricht nun: „Ich habe allezeit getan, was recht ist. “ Siehe, nun zeigst du das wahre Gesicht deiner eitlen Selbstgerechtigkeit. Du berufst dich auf dein gerechtes Tun, mit dem du dem heiligen Gesetze Gottes Genüge getan zu haben glaubst. Vermessenes Menschenkind, du willst bestehen auf dem Boden des Gesetzes? Hast du es nicht gehört: Wer auf den Boden des Gesetzes tritt, kommt auf diesem Boden um; denn niemand ist schuldlos vor dem heiligen Gesetz. Auch in diesem Saale ist keiner, der ohne Sünde wäre, keiner, der in seiner eigenen Tugend die Berechtigung hätte, Steine zu werfen. Im Namen des Gesetzes gilt uns allen ein unerbittliches: „Schuldig!“ Das ist das zweite.

Aber blicken wir doch noch einmal hinein in unsere Gerichtsszene. Alle sind hinausgeschlichen, die Schriftgelehrten, die Pharisäer und auch alles Volk, das der Lehre Jesu zuvor gelauscht hatte. Keiner fühlte sich berechtigt, das Gesetzesurteil an dem sündigen Weibe zu vollziehen; denn keiner fühlte sich schuldlos vor dem Gesetz, sondern jeder kannte seine Sünde, gleichwie auch du die deine kennst.

Aber war denn hier wirklich keiner ohne Sünde? Kein Schuldloser? Keiner, der die Berechtigung gehabt hätte, im Namen des Gesetzes Steine zu werfen? Keiner? Sieh dich doch einmal recht um! Siehe da den Einen, den Einzigen! Weißt du nicht, daß er einst sagen konnte: „Wer unter euch kann mich einer Sünde zeihen?“ Und keiner konnte es; weder die Menschen, noch die Engel, noch Gott! Und die es taten, wußten nicht, was sie taten. Sieh den Einen, der nie das heilige Gesetz Gottes verletzte, nie hineingezogen war in den Bannkreis der menschlichen Verschuldung vor Gott! Sieh den Einen, der nicht gekommen war zu übertreten, noch aufzulösen, sondern zu erfüllen das heilige Gesetz als der von oben her Gezeugte, einzig Gehorsame, einzig Sündlose, der je im Fleische gewandelt! Da sitzt er und schreibt in den Sand und vor ihm eine Ehebrecherin. Wie? Warte ein wenig, und du beginnst zu verstehen. Sag’, hätte er, der Sündlose, der Erfüller des Gesetzes, der einzig berechtigte Vertreter des Gesetzes, sag’, hätte er nicht das Recht gehabt, sich zu bücken, nicht um in den Sand zu schreiben, sondern um den Stein zu ergreifen und ihn auf die Brust der Ehebrecherin zu werfen und den nächsten ins Angesicht des Ältesten, des Zweitältesten, des dritten, des vierten, des letzten und in dein Angesicht und in jenes und in meines? – Und er tat’s nicht? Dort nicht und hier nicht? Und wir sitzen hier und leben?!

O sieh, jetzt hast du es nicht mehr mit dem kalten, unerbittlich harten Gesetz zu tun, jetzt hast du es mit ihm zu tun und seiner heißen, heißen Liebe! Tödlich müßte der Heilige uns Schuldige, uns Schändliche treffen, und er tut’s nicht, er tut’s nicht! – Ach, Menschenkind, wenn dich die kalte Schneide des Gesetzes vorhin nicht treffen konnte, laß dich jetzt treffen von dem Feuerstrahl seiner unendlichen Liebe! Erkenne dich, richte dich, verwirf dich vor der Liebe dessen, der dich verwerfen müßte und dich nicht verwirft, und den du so oft verworfen hast! Jetzt hast du es in der Hand, jetzt gib ihm die Antwort auf seine Liebe!

Das, mein Freund, ist das dritte.

Sieh auf das Weib am Boden. Was mag während alledem in ihr vorgegangen sein? Ertappt in der Sünde, in der Schande. Ergriffen und den frommen Männern ausgeliefert. Hereingezerrt, gestoßen in den Tempel vor allen Leuten. Endlich trotzig, schmachbedeckt vor dem zusammengesunken, den sie „Lehrer“ nannten. Dann die Anklage der Frommen und ihre Berufung auf Moses, der gebietet, solche – solche, wie sie nun eine war – zu steinigen. Sie bückte sich tiefer und schauerte. Das Gebot hatte sie lange gekannt. Was lag ihr an dem alten Gebot? Die Sünde war so süß! Nun war es so gekommen. „Du nun, was sagst du!“ schreit es über ihr. Er also, der Lehrer, wird ihr Urteil sprechen. Sie wagt ihn nicht anzusehen; nur seine Füße sieht sie, die so ruhig sind, und wartet. Es ist jetzt gleich, denkt sie, macht mit mir, was ihr wollt; und wartet. – Da sieht sie seine Hand in den Sand schreiben. Was mag das bedeuten? „Du nun, was sagst du?“ schreit es gellend droben. Warum schreien sie ihn so an? Warum zögert er so? „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe zuerst den Stein auf sie,“ hört sie. Sie versteht nicht. Sie duckt sich zusammen; sie hörte nur „Stein“ und „werfen“. Jetzt wird es geschehen. Sie schließt die Augen und wartet. .. Sie hört Schritte. Man wird die Steine suchen. Warum so langsam? Warum so langsam? Ein wenig öffnet sie die Augen. Vor Staunen fallen ihr die Hände vom Gesicht. Auf den Knien liegen bleibend, fährt sie steil empor: Sie gehen hinaus? Man läßt sie allein? Allein mit dem Lehrer? Da sieht sie ihn an. .. O, nun weiß sie alles: Er hat ihre Ankläger gerichtet! Sie triumphiert. O, sie hat es gewußt, vorhin, als man sie so hereinschleppte mit den grinsenden Gesichtern, mit den gemeinen Griffen, mit den rohen Fäusten, da hat sie es gewußt, da hat sie sich gewehrt, da schrie es in ihr: Geht mir doch weg, ihr seid nicht besser, als ich bin! Ihr seid noch viel schlechter! Von euch laß ich mich nicht richten! Nimmermehr! – O, wie hat sie sich gewehrt! Bebend, dankbar muß sie wieder den Lehrer anschauen. Er hat sie geschützt; er steht auf ihrer Seite. Da erschrickt sie tief. – Auf ihrer Seite? Nimmermehr! O, wenn der jetzt ihr Urteil spräche! Und sie fühlt es: Wenn einer ein Recht hat, Steine auf dich zu werfen, dann ist der es. Wenn er jetzt würfe, sie würde sagen müssen: Wirf zu, ich bin schuldig, gemein, schlecht, sündig, sündig! Wirf zu, ich habe es verdient! – Tief, tief sinkt sie zusammen. .. Allein mit Jesus. –

Allein mit Jesus. – Menschenkind, verstehst du das? Es gibt in der ganzen Welt nur eine Gelegenheit, wo du dich erkennen kannst, wie du in Wahrheit bist, wo du dich siehst in deiner Sünde, in deiner Schande, wo du dich preisgibst und in dir zusammenbrichst: Allein, wirklich einmal allein mit Jesus. Siehe, Menschen haben es nicht über dich vermocht. Du warst stolz und selbstgewiß und wußtest sie schuldig, gleichwie dich. Aber hier ist Jesus der Sündlose, Reine. Soll er jetzt nicht deine Seele berühren, gleichwie die Seele jenes Weibes? – Längst schreibt sein Finger wieder auf der Erde. Aber nein, er schreibt auf ihrem Herzen, heiß, brennend wie Feuer gräbt sich die Schrift ein: schuldig, schuldig, schuldig! Gleich wird er hoch aufstehen und es ihr sagen: „Ich bin der Herr des Gesetzes, das du übertreten hast. Empfange nun von mir dein Urteil!“ Sie duckt sich noch tiefer; sie will ganz, ganz stillehalten.

So hört sie: „Weib, wo sind jene, deine Ankläger? Hat dich niemand verurteilt?“ Zögernd, qualvoll kommt es von ihren Lippen: „Nein, Herr, niemand. “ Und dann will sie es hinausrufen: „Niemand, nur du, nur du! Hier bin ich, triff mich! Ich muß sterben für meine Sünde!“ – Aber was braucht sie es ihm erst zu sagen; er weiß es ja. Er wird es ja jetzt selbst aussprechen; sie wartet.

Da tönt es über ihr: „So verurteile auch ich dich nicht. Gehe hin und sündige nicht mehr!“

Wie? Er verurteilt dich nicht? Er spricht dich frei?! Er, der Einzige, der das Recht hätte, sie zu Boden zu schmettern, er tut es nicht?! O, das trifft sie jetzt tausendmal tödlicher, als sein Richtwort und Steinwurf im Namen des Gesetzes sie je hätte treffen können. Nein, nein, das ist kein Freispruch! Das ist das schauerlichste Gericht über ihre Sünde, über ihr ganzes unheiliges Leben. Von unaussprechlichem Ekel gegen sich selbst erfaßt, holt sie aus und führt mit eigener Hand den Wurf gegen ihr elendes, verfehltes Leben. Als er sie nicht verwirft, da verwirft sie sich: sie kann ja nicht mehr leben vor seiner Heiligkeit und Liebe. Als er sie nicht richtet, da richtet sie sich, vernichtet von seinem Freispruch bis in die tiefsten Spuren ihres bisherigen Lebens. Lebens? Nein, das war kein Leben! Das war Moder und Tod. Ein ganz Neues dämmert in ihr auf: Dieser da hat das wahre Leben! Er ist das Leben! Wie Lichtfluten geht es jetzt von ihm auf sie über. Eine heilige Kraft schwellt ihren Geist, hebt ihren Körper. Sie steht auf. Was hat er gesagt? „Gehe hin und sündige nicht mehr. .. !“ Wie ist ihr? Wo ist die Schuld, wo ist die Macht der Sünde? Die Ketten liegen am Boden. Sie ist frei! Sie weiß es, sie fühlt es: Nie mehr wird das Alte Macht über sie gewinnen können, nie mehr sie beherrschen. Sein Leben, sein Geist ist auf sie übergegangen. Sie hat Jesus kennengelernt, ihren Herrn, ihren Heiland, ihren Erretter.

Das ist das vierte in dieser Geschichte.

Noch ein letztes. Es soll beginnen mit der Frage: Wie konnte er sie freisprechen? Hat er sie deshalb nicht verurteilt, weil die anderen sie nicht verurteilten? Er hatte doch das Recht zur Verurteilung; denn er war tatsächlich ohne Sünde. Oder dünkte ihm ihre Sünde belanglos? Wie sollte dem Sündlosen die Sünde belanglos erscheinen! Oder vergab er ihr um ihrer sichtlichen Reue willen? Wie könnte die Reue eines Menschenherzens die Tatsache der geschehenen Sünde sühnen und ungeschehen machen! Oder konnte sein liebreiches Erbarmen das Urteil nicht über die Lippen bringen? Wie könnte seine Liebe seine Gerechtigkeit aufheben!

O nein, mein Freund, du weißt es längst besser. Du hast gehört von dem, der Sünde nicht kannte und eben darum auf Golgatha für uns zur Sünde gemacht wurde, damit wir Gottes Gerechtigkeit würden in ihm. – Denn Sünde bleibt Sünde, mein Freund, und läßt sich nicht durch die Finger blasen, weder von deinem Munde, noch vom Munde Gottes. Denn die Sünde ist Rebellion gegen die Heiligkeit Gottes und muß als Sünde gerichtet und bestraft werden, oder Gott ist nicht mehr Gott. Gott und die Sünde schließen einander aus. Darum wäre auch die durch den Abfall von Gott unter die Sünde verkaufte Menschheit ewig von Gott ausgeschlossen und mithin verloren, wäre nicht jener Eigen- und Einzigartige erschienen, das Haupt der Menschheit, der ewige Bürge, das makellose Schlachtschaf, das Lamm Gottes, das der Welt Sünde hinwegtrug, indem es, zur Sünde gemacht, für dich, den Sünder, starb, damit du leben und zu Gott kommen könntest. Ihm die Strafe, dir der Frieden; ihm die Wunden, dir die Heilung!

Verstehst du jetzt, warum Jesus freisprach? Er sprach frei, weil er bereitstand, das Schuldopfer zu werden. Verstehst du jetzt, warum er die Sünderin nicht richtete im Namen des Gesetzes? Er richtete nicht, weil er nicht gekommen war zu richten, sondern zu retten, indem er auf dem Wege war, sich selbst für die Sünde richten zu lassen, um so des Gesetzes Erfüller zu werden.

Die Ehebrecherin wußte das damals noch nicht; so wurde ihr das Unbegreifliche seiner vergebenden Liebe noch überschwenglicher. Du aber weißt heute um Jesu Kreuzessterben, und so sollte dir das Unbegreifliche seiner sich opfernden Liebe noch viel, viel überschwenglicher werden. Bei jenem Weibe reichte die vergebende Liebe Jesu aus, daß sich das Weib bis ins Innerste richtete und verwarf, so daß es selig wahr für sie werden konnte: „Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet; wer nicht glaubt, der ist schon gerichtet. “ Und nun du aber? Welche Antwort bist du gewillt, deinem gekreuzigten Erlöser zu geben? Sieh, jene richtete sich vor Jesu Reinheit und konnte als eine verurteilte Verbrecherin Gnade empfangen um Golgatha willen. Denn nur die, die das Urteil des Gesetzes vom Sinai über sich unterschreiben, werden Jesus als Erretter brauchen und Freisprechung vom Urteil um der Erfüllung des Gesetzes willen im Blute Jesu Christi empfangen.

Wirst du diese Freisprechung heute empfangen?

Wie wirst du jetzt von dem hinweggehen, der aus dieser Geschichte, aus dieser Gerichtsverhandlung, zu dir geredet hat?

Wirst du, innerlich überführt, feig hinwegschleichen ins alte Leben und Treiben zurück wie jene heuchlerischen Pharisäer, oder wirst du, allein mit Jesus wie jenes Weib, als ein verurteilter Verbrecher dich aufgeben und ihn finden und in ihm Vergebung deiner Sünden, Versöhnung mit Gott und ewiges Leben?

Was wirst du jetzt tun?

Das ist das letzte.

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