Bibliander, Theodor - Aus der Antrittsvorlesung 1532 zu Zürich

Bibliander, Theodor - Aus der Antrittsvorlesung 1532 zu Zürich

11. Januar 1532, Antrittsvorlesung auf dem Lehrstuhl der Schrifterklärung zu Zürich als Nachfolger Zwinglis. Auslegung des Propheten Jesaja.

Es waren wohl zu allen Zeiten und unter allen Nationen, nicht nur bei den durch Künste und Wissenschaften gebildeten, sondern selbst bei den barbarischen ausgezeichnete und hervorleuchtende Männer, welche entweder durch den Vorzug eines tugendhaften Lebens oder durch den Ruf großer Weisheit, durch praktische Tätigkeit oder durch Wissenschaften erworben, bei ihren Zeitgenossen und Nachfolgern am meisten gegolten haben. Diesen, weil sie als treffliche Männer galten und eine außerordentliche Erkenntnis in göttlichen und menschlichen Dingen sich erworben hatten, haben die andern, von einem Instinkt der Natur geleitet, das Recht zu regieren zugestanden und ihnen als Führern zu einem vernünftigen und rechtschaffenen Leben ihr Vertrauen geschenkt.

In ihre Aussprüche wurde eingestimmt, in ihre Urteile und Vorschläge wurde bereitwillig eingegangen. Auf ihren Rat wurden Unternehmungen angefangen, durch ihre Klugheit geleitet, nach ihrer Meinung hinausgeführt oder aufgegeben. Ihren Weisungen wurde Gehorsam geleistet in öffentlichen wie in Privat-Angelegenheiten, in heiligen wie in weltlichen Dingen. Und es wurde die Erfahrung gemacht, dass es den Staaten, Völkern und Reichen immer heilsam war, wenn sie die Ermahnung guter und weiser Männer befolgten. Und wiederum war es höchst gefährlich, mit großen Verlegenheiten, Elend, Schande und äußerstem Unglück begleitet, wenn sie so tüchtige Ratgeber verachtet und überhört hatten. Woher meinen wir, dass jene ähnlichen Erfolge kamen? Woher jene Regelmäßigkeit? Woher jene Übereinstimmung bei der größten Verschiedenheit der Zeit und des Ortes? Doch ohne Zweifel aus den Absichten des höchsten Wesens, in welche auch jene hervorragenden Männer teilweise schauten.

Denn Gott, welchem es viel notwendiger ist, das allgemeine Gut zu sein, als die Wahrheit, wie Plato sagt, hat nichts außerhalb seiner Güte und Vorsicht gelassen, sieht Alles vor und leitet Alles und nichts kann bestehen ohne ihn. Aus allen Völkern aber hat er Einen erwählt und ausgesondert, in welchem er klarer zu erkennen geben wollte, welches seine unermessliche Güte, Gerechtigkeit, Weisheit und Macht sei. Doch ist Gott in allen Völkern, lässt keines ohne Anteil an ihm, bietet sich allen zum Genuss dar, offenbart sich bis zu einem gewissen Grad allen, den einen näher, den andern gleichsam von ferne, den einen klar und lichtvoll, den andern wie im Traum, in einer Wolke, in einem durchscheinenden Körper. Dieser Gott also ist Gemeingut der Wahrheit, das ist: er hat sich auch den heidnischen Menschen dargeboten und ihnen Gesetze gegeben, nicht in Erz oder Stein gegraben, sondern geschrieben und eingedrückt in ihre Herzen 1). Weil diese eingepflanzt und anerschaffen sind dem menschlichen Gemüt von dem Schöpfer aller Dinge, so werden sie natürliche Gesetze genannt. Sie sind Teile ohne Zweifel von dem Willen und der ewigen Ordnung Gottes. Nach diesen Ideen der Wahrheit haben jene vorleuchtenden Männer ihre Begriffe 2) gebildet; nach ihnen, als nach einer Norm und Regel, haben sie ihre Lebensgrundsätze abgewogen und eingerichtet. Daher haben sie ihre Sittenlehren, daher ihre Räte, daher ihre Aussprüche auf alle Gebiete des Lebens 3) genommen, so dass ihre Gebote und Weisungen annehmen so viel heißt, als Gottes ursprünglichen Geboten gehorchen, diese Schranken aber übertreten soviel, als Gottes Gebote vergessen. Es war daher mit Recht und nach der genauesten Prüfung des göttlichen Urteils mit der Haltung jener Grundsätze, Lehren und Mahnungen Ruhe und Glück, mit ihrer Verachtung Strafe und Schmach verbunden. Nicht von Haus haben wir diese Philosophie mitgebracht, sondern aus dem Heiligtum des wohlbelehrten Paulus hervorgenommen, welcher diesen Gegenstand klar genug behandelt in dem apostolischen Briefe an die Römer 2, 8-15 und 26-29 (Gott wird vergelten einem Jeden nach seinen Werken; denen, die durch Standhaftigkeit im guten Werke nach Preis und Ehre und Unvergänglichkeit trachten, das ewige Leben; denen aber, die widerspenstig und der Wahrheit ungehorsam sind, der Sünde aber gehorchen, Ungnade und Zorn. Trübsal und Angst über jede Seele eines Menschen, der Böses wirkt, über den Juden zuerst und auch über den Griechen; Preis aber und Ehre und Frieden einem Jeden, der Gutes wirket, dem Juden zuerst und auch dem Griechen). Im ersten Kapitel sagt er ausdrücklich, Gott habe sich den Völkern geoffenbart, aber die meisten haben die Wahrheit mit dem Irrtum vertauscht. Ich meine daher, es sei aus dem heiligen Wort Gottes klar, dass die Wahrheit auch den Heiden mitgeteilt worden sei und dass das natürliche Gesetz sie dasselbe lehre, was das mosaische; und wenn die Heiden diese Kundgebung verachtet haben, so ist mit Recht die Strafe gefolgt; wenn sie die Lehren der Weisen und Guten annahmen, die nach dem angeborenen Gesetz gehalten sind, so ward ihnen Lob, Ehre und Glück von Gott zugeteilt. - Als Wächter und Vollzieher jener Gesetze, welche Gott dem menschlichen Gemüt eingepflanzt hat, sind dann zu betrachten: bei den Indern die Bramanen und Gymnosophisten, bei den Persern die drei Geschlechter der Magier, bei den Ägyptern die Hierophanten, bei den Griechen und Römern die Philosophen, bei den Galliern die Druiden etc. Weiterhin werden zu diesen Lehrern des menschlichen Lebens mit vollem Rechte die ausgezeichneten Gesetzgeber gezählt: ein Charondas, Minos, Lycurgos, Solon, Dracon; dann auch die Andern, welche bei den verschiedenen Nationen durch hervorragenden Geist und rechtschaffenes Leben sich auszeichneten, wie bei den Scythen Anacharsis.

Den ersten Rang aber als Lehrer für das Leben nehmen glaube ich bei den heidnischen Völkern die Dichter ein, von denen man hielt, dass sie die Gedanken des höchsten Wesens erkannt und erforscht hätten. Man glaubte nämlich, dass sie von einem heiligen Hauch berührt und durch göttliche Begeisterung das lehrten, was den Menschen heilsam sei, wie Ovid rühmt:

Est Deus in nobis, agitante calescimus illo:
Sedibus aethereis spiritus ille venit.

Sie wurden daher auch für Weissager und heilige Priester des Apollo gehalten. Nennt nicht Paulus (an Titus 1,12), indem er den Dichter Epimenides oder Menander zitiert, denselben einen Propheten, eben weil bei den heidnischen Völkern an der Stelle die Dichter standen, wo bei uns die Propheten? Ohne Zweifel waren die ältesten Dichter Theologen von Beruf, wie Musaeos, Orpheus, Linus und Hesiod, der eine Genealogie der Götter erzählt.

Ihr gemeinsames Bestreben war, das dem Menschen Heilsame 4) durch die lockende Macht der Rede darzubieten und einen gesunden, mit Zucker und Honig versüßten Trunk der Lehre zu reichen. Wenn sie nicht immer die Tugend übten, so haben sie dieselbe doch fleißig gelobt und das Laster gegeißelt. Oder sind ihre Satiren nicht Sittenpredigten, klare Beurteilungen der Laster ihrer Zeit und Ermahnungen zur Sittlichkeit? Ja, man findet in ihnen mehr heiligen Sinn, mehr Bildung, mehr Weisheit, überhaupt mehr nützliche Frucht, als in den langen Summen 5) gewisser Matäologen6) (ich sage nicht: „Theologen“) und in ihren ungeheuren Bänden zusammengetragenen Zeuges 7). In der Tat sind jene Männer ihrer Zeit viel gewesen und haben auch der Nachwelt viel Gutes getan. Durch die Mahnungen der Dichter wurde die Ausgelassenheit der Jugend besänftigt, die Wildheit gebändigt, das Urteil gebildet, die Verkehrtheit des Sinnes zurecht gebracht. Der Dichter war der öffentliche Ankläger der Laster, der große Schrecken der Spitzbuben und Schwindler. Aber unter jenen gelehrten Männern sind doch auch viele als Betrüger erfunden worden, möchte Einer sagen. Niemand wird leugnen, dass unter ihnen manche nichtsnutzige und durch böse Leidenschaften verkehrte Menschen gewesen sind, welche dem Schein nach die Wahrheit und jene eingepflanzten Gesetze verkündeten, aber in der Tat das Ihrige suchten und verderbliche Lehren in die Menschheit ausstreuten, nicht anders, als wie auch bei uns zu allen Zeiten falsche Propheten und falsche Apostel gewesen sind. Ihre Lehren wurden aufgegriffen von übelgesinnten und verdorbenen Leuten; aber von den besser gesinnten, die von der Idee des Wahren und Guten getrieben waren, wurden sie zurückgewiesen, da sie als töricht, schändlich, schmutzig, mit der Wahrheit streitend, der Vernunft widerstrebend erschienen und durchaus nicht zu jenen Normen der angeborenen Gesetze stimmten. Aus den Büchern jener Männer aber, die unermüdlich nach Wahrheit und Tugend strebten, kann viel gewonnen werden, das unser Leben veredelt, bildet, verschönt und vor Schaden bewahrt. Vieles, was sie gesagt haben über Gott, stimmt mit den Glaubenssätzen des Christentums überein. Dies hielten unsere Altvordern für entwendet aus den Schätzen der heiligen Bücher und meinten, dass man es mit Recht zurückfordern und jenen als den unrechtmäßigen Besitzern entreißen müsse. Umgekehrt müssen diese Wahrheiten alle vielmehr betrachtet werden als Geschenke des himmlischen Vaters, als Samenkörner des Rechten und Wahren, vom Himmel her in den Acker des menschlichen Gemüts geworfen. Wie nämlich Gott reich ist und großmütig und am allerwenigsten neidisch, so wollte er auch jene Menschen nicht von der Wahrheit, dem höchsten Gute, ausschließen. Was sage ich, er wollte sie nicht ausschließen? Vielmehr wollte er 8), wie sein Wort lehrt, dass alle Menschen mit großen Schritten nach der Erkenntnis der Wahrheit fortschreiten und an dem ewigen Heil Teil erlangen. Möchten nur die törichten Menschen die ihnen dargebotene Wohltat anerkennen, nicht undankbar vernachlässigen, sondern mit Eifer erfassen. Lasst uns also mit jenen Schätzen (Wahrheiten der Heiden) Mitleid haben, nehmen wir sie in Empfang, damit sie nicht zu Grunde gehen und legen wir sie ehrenvoll im Haus Gottes nieder!

1)
impressas in corda illorum
2)
sensa
3)
ad omnes partes vitae muniendas
4)
utilia vitae
5)
Lehrbüchern
6)
abw. Philosophen, leere Schwätzer
7)
ingentibus centonum fasciculis
8)
maxime nopit
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