Beecher, Henry Ward - Die Fürbitte

Beecher, Henry Ward - Die Fürbitte

Text: 1. Tim. 2,1,2.
So ermahne ich Euch nun, dass man vor allen Dingen zuerst tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, für die Könige und für alle Obrigkeit, auf dass wir ein ruhiges und stilles Leben führen mögen in aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit.

Wie reich und umfassend die Vorstellungen sind, die der Apostel vom Gebet hat, sehen wir aus der Menge der Bezeichnungen, die er in diesen Worten anwendet. „Bitte,“ „Gebet,“ - „Fürbitte,“ - „Danksagung,“ das alles sind Ausdrücke, welche sich auf das Gebetsleben des Christen beziehen. Einige dieser Ausdrücke heben gewisse Seiten des Gebetes besonders nachdrücklich hervor, - aber alle zusammen genommen sollen doch nur dazu dienen, uns zu ermahnen, dass wir eben jede Form des Gebetes für uns in Anwendung bringen sollen, doch nicht für uns selbst allein, sondern ebenso sehr für alle anderen Menschen. Wir finden im Wort Gottes an gar vielen Stellen die Mahnung, für uns selbst, in unseren eigenen Anliegen vor Gott zu treten, das Eigentümliche des vorliegenden Textes ist dagegen das Gebot, dass wir nicht allein für uns selbst, sondern ohne Ausnahme auch für Andere bitten sollen. Die Fürbitte wird uns hier geboten, und zwar die Fürbitte für die gesamte menschliche Gesellschaft, mit allen ihren Obrigkeiten, Fürsten, Königen, Amtleuten u. s. w. Hervorragende Beispiele dafür bietet das Leben der Propheten des Alten Testamentes, noch mehr das Leben des Heilandes. In dem ergreifendsten seiner Gebete spricht sich die höchste Inbrunst da aus, wo er die göttliche Gnade nicht für sich selbst, sondern für Andere erfleht.

Blicken wir in die Schriften der Jünger des Herrn, so finden wir gleichfalls, dass ihnen das Gebet für Andere eine heilige Gewohnheit war, und dass sie die Christen insgemein ermahnten, diese Gewohnheit gleichfalls zu pflegen. Deutlicher als bei irgend einem anderen Apostel tritt uns dies bei Paulus entgegen. Er wird nicht müde, Andere in sein Gebet einzuschließen. Fast in jedem seiner Briefe und oft zu wiederholten Malen betet er für diejenigen, die ihm bekannt sind, für Gemeinden, für einzelne Personen, für Familien, für Freunde.

Sein ganzes Leben scheint ein Hauch des Gebetes oder der Fürbitte für alle diejenigen gewesen zu sein, nach denen sein Herz sich sehnte, oder mit denen er zusammen gearbeitet hatte. Was aber der Herr selbst und was seine Jünger nach seinem Beispiel getan haben, das dürfen wir wohl als einen Gegenstand besonderen göttlichen Wohlgefallens betrachten. Wir dürfen annehmen, dass Gottes Herz daran seine Lust sah. Dieses persönliche Verhalten Gottes zu unseren Gebeten dürfen wir nicht außer Acht lassen. Wir müssen daran denken, dass Gott in seinem eigenen Verhalten wesentlich denselben Gesetzen folgt, denen wir unterworfen sind, nur freilich in höherer Weise. Hiervon lasst mich zunächst reden.

Wenn Menschen uns fort und fort um ganz gewöhnliche Dinge ansprechen, wenn sie uns um Sachen bitten, die uns gemein und niedrig dünken, so halten wir sie selbst für niedrig. Wenn sie nur zu uns kommen, um uns um Essen und Kleidung, und um nichts anderes zu bitten, so nennen wir sie bald Bettler. Stehen sie aber eine Stufe höher, und suchen sie uns auf, nicht um Essen und Kleidung von uns zu erbitten, sondern um uns ihre innerliche Not zu klagen, um uns um unsere Meinung zu befragen, und von uns Rat und Trost zu erbitten, dann steigen sie in unserer Achtung. Und wenn sie uns um noch höhere Dinge befragen, so dass wir erkennen, dass sie uns geistig ebenbürtig sind, und dieselben Gedanken über Ehre und Menschenwürde wie wir haben, dann fühlen wir, dass eine gewisse Verwandtschaft zwischen ihnen und uns besteht. Das, woran die Leute denken und was sie wünschen, wenn sie zu uns kommen, ist von entscheidendem Einfluss auf unsere Gefühle für sie. Glaubt Ihr nun nicht, dass dies auch bei Gott der Fall ist? Wenn sich ein Mensch stets nur an ihn wendet wegen der gewöhnlichen Lebensverhältnisse und wegen irdischer Notdurft, wenn er alles im Gebet des Herrn vergisst außer der vierten Bitte: „Gib uns heute unser täglich Brot,“ glaubt Ihr nicht, dass dann sein Gebet noch sehr tief steht? Oder wenn er aus Furcht betet; wenn er aus niederem oder höherem Verlangen betet, sollte Gott nicht über den jeweiligen Wert seines Gebetes ein Urteil haben, sollte das Herz Gottes nicht etwas fühlen für den, der zu Ihm betet, und zwar verschieden je nach dem verschiedenen Standpunkt, auf welchem der Betende steht? Wenn ein Mensch sich dem Thron der Gnade täglich in immer höherem und reinerem Verlangen nähert, hungernd und dürstend nach Gerechtigkeit; wenn er sich sehnt nach der Gemeinschaft mit Gott; wenn er sich selbst vergisst und mit edlem Eifer für Andere erfüllt ist, ja wenn er mit Gott selbst sagen kann: Geben ist seliger als nehmen, glaubt ihr nicht, dass er Gott näher steht, als wenn er nur niedere Wünsche im Gebet ausspräche?

Jeder Fürbitte wohnt schon an sich ein Adel inne; sie ist ihrer Natur nach selbstlos. Wenn auch die eigentliche Selbstsucht überhaupt aus unseren Gebeten verbannt sein muss, so darf unser Selbst sich doch geltend machen im Gebet. Wir dürfen für uns selbst beten. Wenn aber ein Mensch nur an sich selbst oder an die ihm zunächst Stehenden denkt, so berührt er nur den äußeren Rand, nur den Saum vom Kleid Gottes. Wer ihm näher treten und zu lebendiger Gemeinschaft mit ihm kommen will, muss sein Herz und Geist dem Wesen Gottes gemäß gestalten. Denn Gott beurteilt die Menschen nach sich. Wenn wir auch in allen Dingen uns an ihn wenden, so wird doch die Art, in der wir es tun, zeigen, wes Geistes Kinder wir sind. Und wir werden Gott ähnlicher werden, wenn wir für Andere beten, anstatt ihn nur für uns anzuflehen. Viele Menschen nehmen eine engherzige und selbstsüchtige Art zu beten an. Gewiss würden sie mehr für sich erlangen und reicheren Segen davon tragen, wenn sie sich im Gebet dem Thron Gottes mit dieser Gott ähnlichen Liebe für Andere nahten.

Eine nähere Betrachtung dieses Gegenstandes kann uns nach verschiedenen Seiten hin förderlich sein, und wir wollen deshalb denselben einer genaueren Erwägung unterwerfen.

Wenn wir uns gewöhnen für Andere zu beten, so gewinnt unser Inneres, wie gesagt, einen höheren Adel, als wenn wir nur an uns selbst denken.

Es ist wahr, dass unsere nächste Pflicht unserer Familie angehört. Aber stellen wir uns zwei Hausfrauen vor, von denen die eine freundlich an alle ihre Freunde und deren Familien denkt und die, während sie alle ihre Pflichten gegen ihre Kinder und die Glieder ihrer eigenen Familie erfüllt, es doch möglich macht, sich hin und wieder eine Stunde abzustehlen, um ein Werk der Barmherzigkeit zu tun, - während die andere nur an sich und ihre Familie denkt, und nie Zeit für Andere übrig hat - besteht zwischen diesen beiden Frauen nicht ein bestimmt hervortretender Unterschied? Wird die Meinung der Nachbarn nicht die Frau, welche ohne ihre eigenen häuslichen Pflichten zu versäumen auch an dem Wohlergehen Anderer teilnimmt, höher stellen als diejenige, welche nur an sich denkt? Wird man die erstere nicht für edler halten?

So ist es überall. Sittliche Wahrheiten, welche in den untergeordneten Verhältnissen unseres Lebens Geltung haben, haben nicht geringere Geltung auch in den höheren Gebieten der Sittlichkeit, sie gelten in denselben nur in einer noch erhabeneren und umfassenderen Weise. Das Gebet für Andere vertieft unser Mitgefühl und unser Wohlwollen gegen unsere Nebenmenschen, stärkt also solche Eigenschaften in uns, auf welche es in all unserem Zusammenleben so sehr ankommt. Wie viel Rohheit und Verwilderung herrscht noch unter den Menschen!

Viel erinnert bei ihnen noch an den Urwald und die Wildnis. Die Menschen leben dicht bei einander; sie drängen sich und stoßen und überlisten sich. Das Recht des Stärkeren und Listigeren, das eigentlich unter den Wilden heimisch ist, herrscht auch noch unter uns. Wir pflegen die Menschen in ihrem Ringen und Kämpfen inmitten der menschlichen Gesellschaft noch mit viel zu großer Gleichgültigkeit anzusehen. Wir sehen auf sie als auf „das Volk.“ Wir nennen sie die Masse, das gemeine Volk, den Pöbel. Wir denken an sie wie an einen Schwarm Vögel, ohne die Einzelnen ins Auge zu fassen - ohne uns vorzustellen, dass sie Sorgen, Versuchungen und Prüfungen haben, ohne dass wir in besondere Beziehungen zu ihnen treten. Wenn ihr auf einem Landungsplatz steht und seht, dass sich Abends etwa zwölfhundert Leute aus einem Dampfschiff drängen, was denkt Ihr über sie? Ihr denkt an sie als an zwölfhundert Leute. Ihr sagt: „Welche Menge Menschen! wie tief geht das Boot! welche gute Geschäfte muss diese Dampfbootgesellschaft nicht machen!“ Ihr steht und seht auf die Männer, Frauen und Kinder; jede Seele unter ihnen hat ihren eigenen Kampf zu kämpfen, sie fühlt Kummer, Angst, Furcht und Liebe, kurz alles, was ein Menschenherz bewegt, jede einzelne Seele hat Anwartschaft auf die Ewigkeit und Ihr sprecht: welche Menge! Oder wenn Ihr an die Einzelnen unter ihnen denkt, so fragt Ihr nur, wer hübsch und wer hässlich ist, oder wer gut und wer schlecht gekleidet ist, und wer zu den höheren und wer zu den niederen Klassen der Gesellschaft gehört. Alles, was Gott in dieser Menschenmenge sieht, das übersehen wir wegen der Decke, die über

Es ist traurig, wenn die Menschen leben, aufwachsen und sich Christen nennen und in der Masse der Menschen nichts als ihre körperliche Beschaffenheit und ihre äußerlichen Beziehungen zu einander sehen können. Die Gewohnheit aber, für Andere zu beten, bringt die Menschen Eurem Herzen und Geist so nahe, dass Ihr unwillkürlich an ihre Geschichte denkt, und warmen Anteil an ihnen nehmt.

Wenn wir an die Menschen im ganzen genommen denken, so sehen wir in ihnen leicht nur so und so viele Arbeitskräfte ohne besondere Eigenschaften. Wir sehen sie arbeiten, schaffen, erwerben. Sie sind uns nicht viel mehr als Regen, als Winde, kurz als Naturkräfte. Sie kommen uns wie Maschinen vor, die im Leben auf und ab gehen. Sie sind auch alles dies, aber dies ist nur der geringste Teil von dem, was sie sind. Und es ziemt sich nicht für Christen, deren Blick durch die Offenbarung eines jenseitigen Lebens erweitert und erhellt ist, auf ihre Nebenmenschen in dieser Weise zu blicken.

Wir sind sogar geneigt die Menschen zu verachten, wenn wir nur die gemeine Seite des menschlichen Lebens sehen. Wir können uns diese Seite nicht verbergen. In den Unvollkommenheiten der Menschen, in ihrem vielfachen Straucheln, müssen wir notwendigerweise vieles Rohe, vieles Unschöne sehen. Und dieser Anblick ist schädlich, denn er verhärtet das Herz.

Es ist gefährlich, die Schwächen der Menschen ins Auge zu fassen. Alles ist dem Menschen schädlich, was ihm seine Liebe zum Nächsten raubt und sein Herz gegen ihn verhärtet. Es ist schwer für jemand, der Recht von Unrecht genau unterscheidet, der das Reine und Edle zu schätzen weiß und ein klares Verständnis für das hat, was wahr, einfach, offen und lauter ist, sich unter die Menschen zu mischen, und zu sehen wie vielfach sie sich verstellen, wie oft sie betrügen und wie viel bewusste und unbewusste Heuchelei bei ihnen zu finden ist, wie oft sie sich mit Betrügereien hinhalten, wie viel Oberflächlichkeit bei ihnen herrscht und wie viel aus Gewohnheit und Mode geschieht, oder nur durch das Gesetz und die öffentliche Meinung erzwungen wird, wie wenig durch die eigene Rechtschaffenheit, wie arm, jämmerlich, hohl und niedrig viele Menschen sind und wie gemein und sündhaft das Leben sich oft zeigt.

Dies geht besonders diejenigen an, welche die Menschen unter dem Druck der Versuchung und dem Einfluss ihrer Leidenschaften, oder in den Stunden der Schwäche und des Leidens sehen. Es ist kaum möglich, dass sich in dem, der viel unter den Menschen lebt und deren Unvollkommenheiten sieht, nicht ein gewisser menschenfeindlicher Geist entwickelt, vorausgesetzt, dass er sie nicht wie der Arzt die Kranken ansieht. Ein Arzt verachtet die Menschen nicht, wenn sie elend, schwach und krank sind. Er geht zu ihnen aus Menschenliebe. Er will sie heilen. Er nimmt Teil an ihren Schmerzen und Leiden. Und wenn er sie geheilt hat und ihre ehemalige Schwäche der Kraft gewichen ist, dann freut er sich ihrer Gesundheit. Das, was uns Not tut, ist eine so warme Teilnahme für unsere Nebenmenschen, dass wir uns täglich gedrungen fühlen für sie zu beten, und dass wir auch auf ihre Rohheiten im Geist der göttlichen Barmherzigkeit und nicht mit Verachtung und herzloser Kritik blicken. Wir sind leicht geneigt, Menschen, die unglücklich sind und sich an uns um Rat und Hilfe wenden, für ausgesprochene Gegner unserer eigenen Wohlfahrt zu halten, oder solche, mit welchen wir im Geschäftsleben zusammentreffen, und deren Interessen den ruhigen Verlauf unserer eigenen Geschäfte etwas zu unterbrechen drohen, für unsere Feinde anzusehen. Diejenigen, welche unserem eigenen Vorteil nicht entgegenstehen, oder die unsere Aussichten auf Erfolg nicht verringern, finden uns ziemlich freundlich, auf die Anderen blicken wir hingegen mit Misstrauen und Strenge. Vielleicht unbewusst machen wir unsere eigenen selbstsüchtigen Interessen zum Richterstuhl, von welchem aus wir über den Wert der Menschen unser Urteil sprechen. Wir richten sie und verurteilen sie. Fehler, die wir bei unseren Kindern entschuldigen, finden wir bei unseren Gegnern unverzeihlich. Wir halten diejenigen, die zwar ihre Fehler und Gebrechen haben, die aber gut von uns reden und unserer Eigenliebe und Eitelkeit huldigen, für viel besser als alle übrigen Menschen. Wir sagen von ihnen: Sie haben zwar ihre Fehler, aber im Ganzen sind es doch recht gute Menschen. Wir suchen sie im Allgemeinen zu entschuldigen, während diejenigen, die uns zu nahe treten und den Gewinn mit uns teilen möchten, sehr scharf von uns beurteilt werden. Wie genau beobachten wir sie und wie streng ist unser Urteil über sie!

Und doch, wenn wir uns gewöhnen könnten, diese Menschen abgesehen von den Verhältnissen zu betrachten, wo unser Eigennutz im Spiel ist, wenn wir an ihren Kummer dächten und jedesmal, wenn wir sie ein Unrecht tun sehen, anstatt sie anzuklagen, fragen wollten: Wer waren ihre Eltern? Welche Aussichten hatten sie, als sie in die Welt traten? Wie sind sie auf solche Abwege geraten? kurz wenn wir ihre Geschichte kennten, dann würden wir mehr Grund haben, sie zu bemitleiden, als zu tadeln. Ein Mann ist z. B. genau und engherzig in seinen Geschäftsverbindungen; er erscheint unliebenswürdig, wenn nicht hassenswert. Aber man weiß nicht, welche Liebe ihn zu Hause vielleicht dazu treibt, in diesem Maß auf den Erwerb bedacht zu sein. Man sieht den Kampf nicht, den er kämpfen muss, um das zu sein, was er ist.

Ist es daher nicht besser, wenn wir unsere Nebenmenschen, mögen sie nun Gegner oder Mitarbeiter sein, beurteilen, wie Gott sie beurteilt, und nicht wie es die Menschen, und zwar in der unedelsten Stimmung tun?

Wie kein Mensch so gut ist, dass er nicht auch seine Fehler hätte, so ist kein Mensch so schlecht, dass er nicht auch gute Eigenschaften besäße. Die Niedrigen stehen nicht so niedrig, und die Hohen nicht so hoch, als wir denken.

Wenn wir uns gewöhnen könnten, von einer ruhigeren und erhabeneren Sphäre aus auf die Menschen zu blicken; wenn wir sie als unsterbliche Seelen ansähen und für sie beteten, so würde jedenfalls unsere Achtung für die Menschen zunehmen und der Staub und Rost würde verschwinden, den wir so leicht an ihnen wahrnehmen, wenn wir nur ihre bösen Anlagen ins Auge fassen, die sich in der Not und Arbeit des Lebens offenbaren. Wir sehen die Irrtümer der Menschen; ihre Unlauterkeit, ihre Sünden (denn wer hienieden ist ohne Sünde?) und wir verachten und hassen sie. So kommen wir oft in einen verwerflicheren Seelenzustand, als diejenigen, die wir hassen. Es ist wohl möglich, dass ein Mensch einen Dieb in einer Weise verachtet, dass die Verachtung in den Augen Gottes verwerflicher ist, als das Stehlen des Diebes. Es ist möglich, dass man auf einen Verworfenen mit so kaltem Tadel, solchem Abscheu und so tiefer Verachtung sieht, dass Gott dies als ein größeres sittliches Vergehen ansieht, als die Tat, deren jener sich schuldig gemacht hat.

Gerade dieser Hass gegen die Menschen wegen ihrer Unwissenheit und ihrer Vergehungen veranlasste die furchtbaren Weherufe des Herrn gegen die Pharisäer und Schriftgelehrten. Der Herr rief über sie Wehe, nicht, weil sie die den meisten Menschen gemeinsamen Sünden hatten, sondern weil sie in ihrer Überhebung über ihre Nebenmenschen, in ihrer geistigen Überlegenheit und ihrer hohen Sittlichkeit sich von der übrigen Menschheit loslösten und sich nicht mehr um sie kümmerten, weil sie die menschlichen Schwächen und Sünden in einem Maß verabscheuten, dass die Menschen tatsächlich von ihrer Teilnahme ausgeschlossen wurden. Nichts kann verwerflicher als dies sein. Es mag vielleicht nicht in unserer Macht liegen, den Leuten zu helfen; es mag vielleicht nicht klug sein, ihnen unser Haus zu öffnen; es kann dieser oder jener Grund vorhanden sein, der uns hindert, uns ihnen zu nähern. Aber wir können sie im Gebet vor Gott bringen; und wenn wir das tun, dann wird es sicherlich geschehen, dass wir unwillkürlich eine bessere Meinung von ihnen gewinnen.

Wenn wir Gebete hätten, beschwingte Wünsche, die wir auf der Straße jedem Menschen, dem wir begegnen, wie einen Gruß zuwerfen könnten, dann würden wir bald anders über die Menschen denken lernten. Dies ist manchmal in fast komischer Weise ausgeführt worden, wenn z. B. Cotton Mather sagt: Wenn ich einen großen Menschen sehe, dann sage ich „Gebe Gott, dass die Gnade groß über ihn sei, und wenn ich einen kleinen Menschen sehe dann sage ich: Gebe Gott, dass seine Sünden so klein wie seine Gestalt seien.“ Man kann dies übertreiben, aber es wäre eine herrliche Sache, wenn wir die Menschen in ähnlicher Weise mit unseren Wünschen umgeben könnten.

Wie schön ist es, wenn man die Sorgen der Menschen erleichtern und ihrer Not abhelfen kann, wenn man sie wieder zu Ehren bringen, und ihr Familienleben wieder neu begründen kann, und zwar durch äußere Mittel! Aber wenn wir dies nicht zu tun im Stande sind, wie schön ist es doch, ihr Wohlergehen durch Bitten und Flehen für sie zu befördern! In wie hohem Grade würden nicht unsere selbstsüchtigen Naturen an herzlicher Liebe zunehmen, wenn wir für die Menschen beteten, sobald wir sie in Not sähen; wenn wir z. B. für einen Mann, den wir als stolz kennen, beten wollten, dass Gott ihm einen demütigen Geist verleihen möge; oder wenn wir für einen unwahrhaftigen Menschen beteten, dass Gott ihn mit dem Licht seiner Wahrheit erleuchten möge! Wie viel besser wäre es, wenn wir mit dem Erkenntnis der menschlichen Schwäche ein Gefühl des Mitleids und Erbarmens für sie verbänden! Wie viel besser würde es dann um sie und um uns stehen!

Man redet viel von der „Gemeinschaft der Heiligen.“ Wie wenig Gemeinschaft ist aber in Wirklichkeit vorhanden! Wir leben fast wie die Insassen eines Gefängnisses, wo jeder Einzelne in seiner Zelle eingeschlossen und von allen Anderen um ihn herum durch eine steinerne Mauer getrennt ist. Er kann vielleicht durch gewisse Zeichen, durch Klopfen an der Wand ein wenig mit seinen Mitgefangenen verkehren, aber was kann man auf solche Weise von den Gefühlen und Gedanken der Menschen erfahren? Es gehen Dinge im menschlichen Herzen vor, die die Engel schauen, von denen die Menschen aber nichts sehen. Jeder Mensch ist inneren Kämpfen und Prüfungen unterworfen, von denen seine Mitmenschen so viel wie gar nichts wissen. Was sieht Gott nicht alles in den Menschen, das uns verborgen bleibt! Und um wie viel menschlicher müssten alle diejenigen gegen ihre Nächsten sein, die von ihrem gnädigen Richter, von ihrem teuren Heiland gelernt haben, sie mit seinen Augen anzusehen.

Die Fürbitte macht uns auch geduldig, hilfreich und gerecht gegen unsere Mitmenschen. Wir legen auf Gerechtigkeit nicht bloß in Worten, sondern auch in Gedanken viel zu wenig Wert. Gar mancher Mensch würde seinen Nachbar um keinen Preis mit der Faust niederschlagen, aber in seinen Gedanken behandelt er ihn unbarmherzig, und mancher, der seinen Nächsten um nichts in der Welt mit irgend einer Waffe verletzen möchte, verletzt und verwundet ihn ohne Umstände in seinen Gedanken. Gar viele unter uns, die sich nie und unter keinen Umständen ein Geheimnis entreißen lassen würden, das einen Anderen angeht, beschimpfen in ihrem Innern diesen Anderen, und beurteilen ihn streng und ohne Erbarmen.

Auf dem Richterstuhl unseres innersten Herzens verdammen wir die Menschen ohne sie anzuhören. Wir verurteilen ihre Sache und sie haben keine Gelegenheit, sich zu verteidigen. Wir sitzen da, um sie anzuschuldigen, um sie anzuklagen, und um über ihre Sache zu entscheiden, und soll für oder gegen sie gesprochen werden, so treibt uns unsere Eitelkeit, unser Stolz und unser Vorteil dazu, gegen sie Partei zu nehmen, Keiner aber ist da, um für sie zu antworten. Eine große Seele, sollte ich meinen, müsste noch vorsichtiger in ihren Gedanken als in ihren Handlungen sein. Denn Gesetze, Sitten und Einrichtungen sind uns meist schon von selbst behilflich, dass wir in unserem Handeln vorsichtig gegen unsere Nebenmenschen sind.

Unsere Sprache, die äußere Kundgebung von dem, was wir fühlen und denken, ist den uns umgebenden Einflüssen sehr unterworfen. Wenn wir aber Christen sind, so müssen wir darauf halten, dass auch dieser innere geheime Gerichtshof, die Seele, den allerstrengsten Anforderungen der Ehre, des Gewissens, der Menschlichkeit und Nächstenliebe entspricht. Ich weiß aber keine andere Weise, in der dies geschehen kann, als in der Ausübung der Fürbitte. Jetzt beklagen wir uns. über die Menschen; wir tadeln sie; wir beschweren uns über sie; wir sehen stets wo sie nicht genügen, und kümmern uns wenig darum, wie es ihnen dabei zu Mute ist. Um wie viel besser stände es um sie und um uns, wenn wir, sobald wir einen Mangel oder ein Unrecht an ihnen wahrnehmen, an ihre Unsterblichkeit denken wollten;, wenn wir sie so sähen, wie sie sein sollen; wenn wir sie uns denken könnten, gereinigt von ihren Fehlern; wenn wir auf sie blicken könnten, als ständen sie in unseres himmlischen Vaters Haus und wenn wir in ihren unsere unsterblichen Brüder sähen. Es wären dann nicht so viele Predigten über christliche Liebe nötig, wenn wir gewöhnt wären, „Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung zu tun für alle Menschen.“

Nachdem wir nun die Pflicht für alle Menschen zu beten, im allgemeinen erörtert haben, wollen wir mehr ins Einzelne: gehen. Wir beten natürlich zuerst für unsere Kinder. Wir schließen sie in unser gemeinschaftliches Familiengebet ein. Wie viel besser wird es sein, wenn wir im Gebet ihre besondere Eigentümlichkeit betrachten und unsere Liebe für sie in der himmlischen Liebe heiligen. Werden sie uns nicht viel schöner erscheinen und wird unsere Liebe nicht viel inniger werden? Wird das Band, welches unsere Herzen mit den ihrigen verbindet, nicht zarter und enger, und werden nicht unsere Hoffnungen für sie edler werden? Wie viel größer und reicher wird unser geistiger Verkehr sein! Wenn wir uns gewöhnen unsere Kinder Tag für Tag im Gebet Gott anzuempfehlen, so wird nichts dem Reichtum von Liebe gleichkommen, mit welcher wir unsere Kinder umfassen.

In dieser Beziehung setzen wir unserem Gebet viel zu enge Schranken, wenn wir einfach bitten, dass Gott unsere Kinder bekehren möge. Der Wunsch ist ein sehr edler; aber die Dinge, welche die Seelen unserer Kinder täglich beschäftigen ihre Gedanken, ihre unentwickelte Einbildungskraft, ihre törichten Meinungen, die Unklarheit oder auch die Klarheit ihrer sittlichen Gefühle, alle die Dinge, die sie von Anderen unterscheiden, ihr besonderer Charakter alles dies kann als Gegenstand der Bitte oder der Danksagung vor ihren und unseren Gott gebracht werden.

Wie teuer werden uns unsere Kinder sein, wenn wir sie täglich vor Gott gebracht haben, damit er auf sie sehen möge, bis wir einst zu ihm zurückkehren werden mit unseren Kindern!

Einer der ergreifendsten Augenblicke im menschlichen Leben ist der, wo das Kind, das das väterliche Haus verlassen und eine eigene Familie gegründet hat und selbst mit Kindern gesegnet ist, zum ersten Mal zurückkommt zu Vater und Mutter mit diesen Kindern. Kein Gedicht hat jemals aussprechen können, was das Herz dann fühlt. Kein Gemälde hat jemals ausdrücken können, was dann vor sich geht. Keine Philosophie hat diese innere Geschichte darlegen können. Millionen und aber Millionen haben es gefühlt und nicht einer war im Stande, es auszudrücken. Das Gebet allein vermag dies.

Dann denke ich, müssen wir auch für unsere Freunde und Mitarbeiter beten, und nicht nur im Allgemeinen. Allgemeine gute Wünsche haben auch ihren Wert; aber besondere Gebete sind erforderlich. Ich glaube nicht, dass wir unsere Freunde genügend aufsuchen und kennen. Wir sind gewöhnt, die Menschen und ihre Beziehungen zu sehr nach ihrem Zusammenhang mit äußeren Dingen zu bemessen. Wir sind geneigt, die Menschen zu beurteilen nach der Art, wie sie sich auf der Straße zeigen, nach ihrer Brauchbarkeit, nach ihrer Ehrlichkeit und Verlässlichkeit, nach ihrer Gelehrsamkeit und ihrem Ansehen bei den Gelehrten, nach dem, was sie getan haben, oder dem, was sie voraussichtlich tun werden. Wir sondern, spezialisieren und beschränken unser Urteil über die Menschen. Aber kein Mensch wird von uns jemals erkannt, wenn wir ihn nicht in dasjenige Licht stellen, in welchem wir sein ganzes Wesen zu schauen vermögen, wo wir zu ahnen vermögen, wie er einst sein wird. Und dies geschieht nur im Licht des Gebets.

Wenn Ihr für andere Menschen betet, so betet Ihr nie für sie als für Pächter, Kaufleute, Mechaniker, Schreiber, Bankiers und Fuhrleute. Ihr lasst alles, was ihre Beschäftigung betrifft, fallen. Ihr betet für sie als für Menschen im Allgemeinen. Ihr betet für sie wie bei ihrem Begräbnis. Ihr schaut sie im Licht der Ewigkeit und in der Gegenwart Gottes, wenn Ihr für sie betet.

Wir freuen uns über Photographien unserer Freunde; wir bewahren sie auf und sagen: „Das Bild ist treu, die Sonne lügt nicht.“ Und wie viel besser wäre es für Euch, wenn Ihr Euch von Euren Freunden geistige Photographien durch die Sonne der Gerechtigkeit vermittelt, verschafftet, und wenn Ihr dieses innere Bild bewahrtet, welches Gott Euch geben wird, wenn Ihr an sie in der Stunde des Gebetes zu Füßen der göttlichen Gnade denkt. Was für höhere Begriffe würdet Ihr dann von dem Wert derer gewinnen, die Euch umgeben, Ihr würdet dann fähig werden, von den Menschen so zu denken, wie sie es von sich selbst in ihren besten Augenblicken tun.

Wir sollen ferner für alle beten, die gering geschätzt werden. Es ist uns gut, wenn wir Tag für Tag unsere barmherzige Liebe wirken lassen. Es ist uns gut, wenn wir unser Los mit etwas vergleichen können. So wie das Süße uns süßer schmeckt, wenn wir vorher etwas Saures gekostet haben, so scheint uns die Freude größer, wenn der Kummer uns nahe ist. In dem Verhältnis, wie wir gedeihen und uns stark fühlen, dürfen wir die Grube oder den Sumpf nicht vergessen, aus dem wir gezogen wurden. Es ist eine der traurigsten Folgen des Glückes, dass es leicht den Menschen von ihren unglücklichen Mitmenschen trennt; dass es ihnen ein Gefühl von Unabhängigkeit gibt, in welchem sie Anderer nicht zu bedürfen glauben. Ein Mensch hält sich gern im Glück für unabhängig in seinen Verhältnissen, aber dies Gefühl der Unabhängigkeit ist eine unglückliche Sache. Derjenige, welcher dahin kommt, dass er glaubt Andere nicht nötig zu haben, oder dass Andere ihn nicht nötig haben, befindet sich in einem bejammerungswürdigen Zustand. Ein solcher Mensch ist wie ein von seinem Stamme getrennter Ast, oder ein von seiner Wurzel losgelöster Stamm. Er ist losgelöst vom großen Baum der menschlichen Gesellschaft.

Wir sollen weiter für alle die beten, welche in Not und Gefahr sind; für alle, die in irgend einer Weise gefangen sind. Solch ein Gebet hält das Mitleid wach. Es vertieft die Menschenliebe. Es stärkt in uns jenen gottähnlichen Geist, aus welchem alle Freudigkeit zum Helfen im ganzen Weltall entspringt.

Endlich sollen wir für unsere Feinde beten. Dies wird uns ganz ausdrücklich zur Pflicht gemacht. Es ist eines der Hauptmerkmale der Verwandtschaft mit Gott selbst. Gott vergibt demjenigen, der ihn vergisst, oder sich nur seiner erinnert um seinem Willen sich zu widersetzen oder seiner Macht zu trotzen. Er „lässt die Sonne aufgehen über Böse und Gute, und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ Und er sagt zu uns: Seid vollkommen gleich mir - vollkommen wie ich es bin, nämlich indem Ihr Eure Güte ausbreitet über die, welche Euch nicht lieben. Lest dieses Gebot, im fünften Kapitel des Evangeliums Matthäi nach. Ihr, die Ihr die Gottheit Christi nicht fassen könnt; Ihr, die Ihr die Lehren der Gnadenwahl oder der Dreieinigkeit nicht begreifen könnt; Ihr, die Ihr Euch beunruhigt fühlt über das Sühnopfer; Ihr, die Ihr Euch nicht zurecht finden könnt bei dem Gedanken an das stellvertretende Leiden Christi - seht hier eine Lehre, welche viel schwerer als irgend eine andere ist. Sie steht in dem vier und vierzigsten Vers dieses Kapitels. Es ist das Wort Eures Herrn:

„Ich aber sage euch, liebt eure Feinde.“

Ihr sagt: „Wie kann ich einen Menschen lieben, der so böse ist?“ Das ist Eure Ansicht. Hier ist Gottes Wort. „Wie kann ich den Hass lieben?“ Gott liebt nicht den Hass, aber wohl die Menschen, welche hassen.

„Liebt eure Feinde.“

Ihr sagt: „Ich will sie lieben, wenn sie gut sind.“ Aber das ist Eure Meinung, nicht Gottes.

„Liebt eure Feinde.“

Wir sollen für sie ein Gefühl haben, wie der Frühling es für die gefrorene Erde hat, wenn er vom Süden her kommt, warm, schwellend, freigebig und mit seiner Freigebigkeit überraschend, wenn er mit dem, was er vom Äquator bringt den starren Norden von seinen Fesseln und seinem Tod erlöst. Aus Eurem warmen Leben heraus lasst auf Eure Feinde den Odem der Liebe wehen, der sie zu sich selbst bringt. Sie sind menschliche Wesen; sie sind empfindende Wesen; sie sind unsterblich; und Ihr wollt Euch auflehnen gegen dieses Gebot, welches Euch gegeben ist, damit Ihr Eure Treue gegen Gott beweisen sollt?

„Liebt eure Feinde, segnet die euch fluchen.“

„Sagte er das von mir wirklich? Nun ich werde daran denken. Ich werde wohl bald Gelegenheit finden, wo ich ihm das wiedergeben kann und dann soll er sehen, was es heißt, so etwas von mir zu sagen.“ Dies ist die Art, in der die meisten von uns Christen dies göttliche Gebot erfüllen. „Sagte er das? Nun ich weiß etwas von ihm, und man wird sehen, ob ich es nicht bekannt werden lasse.“ So sprechen wir; aber Gott sagt: „Liebt eure Feinde, segnet die euch fluchen.“

Es ist sehr schwer für einen Menschen, längere Zeit einen Segen durch einen Fluch zu erwidern; und wenn Ihr fortfahrt, die Menschen, die Euch fluchen, zu segnen, und immer wieder zu segnen, so wird es nicht lange währen, und Ihr werdet finden, dass sie nicht fluchen können. Die beste Hilfe gegen den Fluch ist der Segen.

„Tut wohl denen, die euch hassen.“

Nicht einmal, nicht zweimal, sondern fortlaufend.

„Bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen.“

Das heißt, bittet für die Leute, welche allerlei Übles und Schlechtes von Euch erzählen; Leute, die Euch anfahren, die Euch nachreden, Euch übervorteilen, Euch verfolgen, Morgens, Mittags und Abends, die es immer tun, hier und da und überall. Wenn sie alles, was in ihrer Macht steht, getan haben, was darfst Du mit ihnen tun? Sie töten? Bete für sie!

Hier, meine Freunde, Männer und Frauen, ist ein Christentum, das schwerer anzueignen ist, als alles das, was in Lehrsätzen und Glaubensbekenntnissen steht. Es gibt kein Geheimnis, das dem Geheimnis des menschlichen Herzens gleicht. Und wenn Ihr Euch vornehmt, dieser Lehre nachzuleben, so werdet Ihr finden, dass es das Schwerste im Neuen Testament ist. Wenn Ihr in Wahrheit vor Gott sagen könnt: Ich liebe meine Feinde; ich segne, die mir fluchen; ich tue wohl denen, die mich verachten und verfolgen, so werdet Ihr keinen brauchen, der Euch das Wesen Gottes lehrt. Er wird in Euch sein und wird wohnen in Euch, und Euer eigener Geist wird Euch alles erklären.

Wir sollen aber nicht nur für die beten, die uns nahe stehen und uns teuer sind, nicht nur für die, welche im Unglück sind, nicht nur für unsere Feinde, sondern auch für solche, die hervorragende Stellungen einnehmen und Versuchungen ausgesetzt sind, und die von der Arbeit und Sorge für ihr Amt niedergedrückt werden. Ich fürchte fast, dass in unserem Land der Geist der Demokratie in solchem Maße überhand genommen hat, dass der Sinn für Verehrung, Pietät, Wohlwollen, Menschlichkeit fast verschwunden ist. Wir halten Vorgesetzte und Obrigkeiten gewöhnlich für Leute, die man mit gönnerhafter Miene anzusehen hat. Wir sind der Meinung, dass wir über sie sagen können, was uns gefällt, und mit ihnen machen dürfen, was wir wollen. Wie selten finden wir christliche Gemeinden und Familien und einzelne Seelen, die die Last dieser Männer mittragen helfen - die für die Richter, für die Dynastie, für die Vertreter in der Gesetzgebung oder im Kongress, für die Verwaltung, für den Präsidenten und die Mitglieder in der Regierung, die unter ihm arbeiten, Fürbitte tun. Wir urteilen über sie, aber wir beten nicht für sie. Wir richten über sie streng und lieblos. Gehören sie zu unserer Partei, so verteidigen wir sie; wenn nicht, so verurteilen wir sie. Wir machen kaum den Anspruch gerecht zu sein. Es ist eine Sache der Partei, der Politik. Und doch, wenn irgend etwas deutlich in der Bibel ausgesprochen ist, so ist es dies, dass wir für alle Obrigkeit beten sollen, für Könige und Behörden, für alle, die über uns gesetzt sind. Ich glaube, wenn wir für sie beten wollten, so würde dies sehr segensreich wirken. Wenn in einem Volk, das sich zum Christentum bekennt, das mit Kirchen versehen ist, wie das unsrige, sich die Herzen von der großen Menge von Christen wöchentlich einmal zu Gott erhöben im aufrichtigen, ernsten und warmen Gebet für alle Obrigkeit, das müsste, sollte ich meinen, mittelbar und unmittelbar auf diese Menschen einwirken, und sie würden ehrenwertere Menschen werden, als sie es jetzt sind. Wir haben die allerbeklagenswertesten Beispiele von Entartung und Verderbnis unter den obrigkeitlichen Personen, und es scheint mir, dass unter anderen Ursachen auch die Tatsache daran schuld ist, dass christliche Seelen sie nicht genug mit ihrem Glauben unterstützen, dass für sie nicht genug gebetet wird.

Noch etwas. Wir können weder dem Geist noch dem Buchstaben nach dieses Gebot erfüllen, wenn wir nur für unsere eigene Kirchengemeinschaft beten. Wir sollen für alle Menschen beten, für gute und böse, hohe und niedrige, für gebietende und gehorchende, kurz für alle Christen. Wir aber beten für alle, die den Herrn Jesus Christus lieben, „nach unserem Glauben und in unserer Weise.“ Dies ist der jetzt gebräuchliche Ausdruck. Man versteht darunter, dass wenn der Methodist betet, so betet er für alle guten Methodisten, und wenn der Presbyterianer betet, so betet er für alle guten Presbyterianer und der Baptist für die Baptisten. Es ist sehr natürlich, dass wir für die, welche zu unserer eigenen Kirche gehören, am meisten Sympathie haben, und ich meine nicht, dass Ihr für diese nicht mehr beten dürft als für andere; aber während Ihr es tut, sollt Ihr nicht vergessen, dass Gott noch andere Schafe in einem anderen Stall hat. Weit entfernt, traurig darüber zu sein, freue ich mich vielmehr darüber, wenn ich gute Menschen in anderen Kirchen sehe. Ich freue mich außerordentlich, wenn ich bessere Menschen, als ich erwartete, in anderen Kirchen antreffe. Ich freue mich, wenn ich unter den Katholiken Christen von Erziehung, Bildung und besonderer Frömmigkeit finde. Wenn ich unter den Katholiken, welche mir als die Schuppen des großen Drachen geschildert worden waren, aufrichtige, einfache, sanfte, demütig-fromme, gewissenhafte und gute Menschen finde, so bereitet mir das aufrichtige Freude. Es betrübt mich stets, wenn ich etwas Böses über jemand höre, von dem ich es nicht erwartet habe, und ich freue mich über Leute, von denen ich nicht viel halte etwas zu hören, das mir eine bessere Meinung von ihnen gibt. Ich bin stets froh, von einer Kirchengemeinschaft, zu der ich nicht gehöre, etwas zu erfahren, was mir Veranlassung gibt, über sie besser zu denken, als ich es bisher getan habe.

Nun, wenn wir lernten, nicht misstrauisch auf die zu sehen, welche anderen Kirchen angehören, und Andersglaubende in Liebe zu dulden, wenn wir lernten, diejenigen, welche im Glauben irren, in Liebe zu tragen, und für die zu beten, welche in den Schlingen einer falschen Lehre gefangen sind. Wenn wir Fürbitte tun wollten für solche, die nicht nur unseren Glaubenslehren widersprechen, sondern die uns auch in unseren christlichen Werken hindern; glaubt Ihr nicht, dass wir nicht bald die Früchte jener Liebe sehen würden, mit welcher das tausendjährige Reich anbrechen soll? Wir werden uns nie vereinigen in Bezug auf Kirchenregiment oder Glaubenslehren. Wenn je eine Vereinigung unter den Kindern Gottes auf Erden zu Stande kommen soll, so dass es einst nur eine Hoffnung, einen Gott, einen Glaube, eine Taufe und tatsächlich eine Gemeinschaft der Christen gibt, so geschieht es, wenn die Herzen der Christen sich so nahe stehen, dass die gemeinsame Verbindung mit dem Erlöser für sie mehr bedeutet, als alle einzelnen Verschiedenheiten, welche sie trennen.

In jeder Kirche sollte, meine ich, ein Gebet gesprochen werden, nicht nur für jene Unglücklichen, die nicht zur Kirche gehören, sondern für unsere christlichen Brüder überall und jeden Namens, gleich als glaubten wir, dass Gott auf sie mit derselben Gnade blicke, als auf uns. So würden wir in das zerrissene theologische und kirchliche Feldlager Friedenselemente bringen, die wenn sie sich ausbreiten, nach und nach den großen Tag des Herrn herbeiführen werden.

Meine christlichen Brüder, ich will Euch diesen Gedanken über das Gebet für Andere nun überlassen. Sie gehen Euer Familienleben an; sie sollen Euch mit allen Euren christlichen Brüdern in eine Herzensgemeinschaft versetzen, sie sollen Euch Eure Pflichten lehren, und Eure Schwächen aufdecken, sie sollen die Kirchen vereinigen und entzweite Gemeinden versöhnen, damit das Gebet dessen erfüllt werde, der da betete: „auf dass sie alle seien in Eins, gleichwie Du, Vater, in mir, und ich in Dir, dass auch sie in uns Eins seien, und die Welt erkenne, Du habest mich gesandt.“

So werden wir diesen großen Wunsch der Seele Jesu in Erfüllung bringen, die Vereinigung der Kinder Gottes, wenn wir in Liebe und mit warmem Herzen stets tun „Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen.“

Nun lade ich alle die ein, welche sich durch dies allgemeine Band ihrer Verwandtschaft mit dem Herrn Jesus Christus verbunden fühlen; alle, die sich ihrer Schwäche und Sündhaftigkeit bewusst sind; alle, welche fühlen, dass ihre Sündhaftigkeit und Schwäche der göttlichen Hilfe und der göttlichen Liebe bedürftig ist; alle, die von Herzen die Hilfe Jesu Christi ergreifen, um von ihren Sünden erlöst zu werden; alle, welche Jesum zum Führer auf dem Weg der Heiligung erwählt haben, ich lade sie alle ein, mögen sie nun Glieder dieser Kirche sein oder nicht, das heilige Abendmahl mit uns zu genießen. Diese Einladung, die ich ergehen lasse, wird manchmal missverstanden, als ob ich jeden ohne Unterschied aufforderte, zum heiligen Abendmahl zu kommen. Das tue ich nicht. Sollten hier Glieder der Kirche sein, die sich nichts aus Religion machen, und nur darum kommen, weil es einmal Sitte ist, so lade ich sie nicht ein. Wenn hier solche sind, die da leben und leben wollen im Unrecht und mit bösen Gedanken, so sage ich zu ihnen: Ihr seid nicht tüchtig zu kommen. Aber wenn hier solche sind, die außer der Kirche leben, und welche gestrebt haben, ein göttliches Leben zu führen, und es weiter führen wollen, diese lade ich ein. Mit anderen Worten, meine Einladung entspringt sittlichen und nicht kirchlichen Anschauungen. Ich sage, dass jeder, der sich für sündhaft kennt und den Herrn Jesus Christus als Heiland annimmt, und der dies offen anerkennt und die Hilfe annimmt, welche von diesem einfachen Gebot kommt, von mir eingeladen wird ohne Rücksicht auf seine kirchliche Stellung. Ich lade Euch ein, indem ich mich auf den breiten Boden stelle, dass Jesus Christus gekommen ist, die Sünder selig zu machen, und dass, wenn Ihr ihn als Euren Heiland anerkennt, Ihr berechtigt seid zu kommen. Darin liegt Alles, was Not tut.

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