Baumgarten, Michael - Ein Sieg in der ersten Gemeinde

Baumgarten, Michael - Ein Sieg in der ersten Gemeinde

Apg. 6,1-7

Eine bewußt verabredete Lüge im Heiligtum gehört zu dem Ärgsten, was Satan zustande bringen kann. Wenn die Gemeinde ein solches infernales Stück durch ihre Kraft hinauswerfen kann, wie solches durch das Gericht über Ananias und Sapphira geschah, dann hat sie bewiesen, daß auch die offene Tür der Hölle ihr nichts anhaben kann. Aber nicht so ist es mit der Heiligkeit der Gemeinde bestellt, daß nur die großen Ärgernisse bekämpft werden, das Geringe aber und das Kleine gering geachtet oder ganz übersehen wird. Das Gegenstück zu jener vollendeten Bosheit ist das Symptom einer allgemeinen menschlichen Schwachheit, dessen Vorhandensein in der ersten Christengemeinde nicht verdeckt, sondern der Methode eines Heilverfahrens unterworfen wird. Die erste Christengemeinde in Jerusalem mehrte sich auf eine außerordentliche Weise, damit mußte aber das Zusammenleben der Christen schwieriger werden. Die erste Beschreibung dieses Zusammenlebens faßt sich sozusagen in den Rahmen einer einzigen Familie und Häuslichkeit. Diese Form konnte nicht beibehalten werden, weil bei der Vermehrung an die 5000 nicht bloß die Zahl an sich zu groß geworden war, sondern nunmehr auch zwei verschiedene Elemente mit verschiedenen Interessen in sich schloß. Die Gemeinde hat die Bestimmung, auch die größten Unterschiede und Gegensätze, nicht bloß die Nationalitäten, sondern auch die Rassen der Menschheit zu vereinigen. Hier in der Erstlingsgemeinde in Jerusalem ist der erste leise Anfang gemacht, um die natürlichen Gegensätze auszugleichen. Diese Gemeinde besteht ausschließlich aus Juden, die in Jerusalem wohnen, aber innerhalb dieser Gemeinde gibt es einen Unterschied und beziehungsweise Gegensatz. Die einen waren in Palästina geboren und redeten aramäisch, was damals hebräisch genannt wurde und hießen Hebräer. Die andern waren in den verschiedenen Provinzen des römischen Reiches geboren und redeten daher hellenisch, weshalb sie Hellenisten genannt wurden. Vermutlich waren die sogenannten Hebräer der Zahl und dem Ansehen nach im Vorteil. Nun entstand eine laute Unzufriedenheit, ein „Murren“ der Hellenisten gegen die Hebräer darüber, daß bei der täglichen Verpflegung ihre Witwen übersehen würden. An sich ist es keine große Sache, aber sie ist in jedem Fall eine Störung des Gemeindelebens, wobei es gleichgültig ist, ob das Murren Grund hat oder nicht. Die Störung ist vorhanden und beweist, daß, wenn auch in der neuen Menschheit der Bann des Fleisches gebrochen ist, jedenfalls noch ein, wenn auch sterbender Rest der alten Selbstsucht vorhanden sein muß. Darin unterscheidet sich der Geist der Apostelgeschichte von dem Geist der theologischen Kirchengeschichte, daß der letztere die kleinen und leisen Regungen der auch dem kirchlichen Leben anklebenden Sünde übersieht oder auch verdeckt, während der in unserm heiligen Buche waltende Geist auch die kleinen Ärgernisse aufdeckt, damit sie überwunden werden. Was hier in unartikulierten Regungen zum Vorschein kommt, ist das, was in dem Weltleben eine große Rolle spielt, was endlich unzählig oft zu Völkerkriegen und Feldschlachten geführt hat.

Wir nennen es Parteiung, welche falsche Verbindung und falsche Gegensätze durch das Übergewicht äußerer Eigentümlichkeiten und Fassungen zuwege bringt. Das Bedauerliche und Gefährliche auf dem kirchlichen Gebiet besteht darin, daß diese Erscheinung im erklärten Gegensatz steht zu dem Ziel, auf welches nach dem hohepriesterlichen Gebet Jesu (Joh. 17) die Kirche gerichtet ist. Allerdings ist in der neuen Menschheit Christi, wie gesagt, der Bann des Fleisches gebrochen, aber das „Murren“ in der Gemeinde beweist, daß noch ein Rest des Fleischeslebens in der Gemeinde vorhanden ist, mithin die Schlange, wenn nicht mit den Werken vollendeter Bosheit, doch mit dem leisen Flüstern selbstsüchtiger Regungen zu dem Heiligtum Zugang findet.

Der Bericht unsers Buches über die Störung in der Gemeinde hat es darauf angelegt, zu zeigen, daß in der Gemeinde eine Gotteskraft wohnt, welche aus dieser Störung eine heilsame Förderung schafft, indem sie die Parteiung durch Beteiligung an der Gemeindewahl überwindet. Die Zwölf berufen die Gemeinde, nicht um durch Anordnung und Vorschrift ihre Herrschermacht zur Geltung zu bringen, sondern um die schlummernden Kräfte der Gemeinde zu wecken und einen Teil ihrer bisherigen Arbeit der Gemeinde anzuvertrauen. Bisher war die Angelegenheit der Verpflegung der Dürftigen durch die Hände der Apostel gegangen, welche ohne Zweifel darüber ein gutes Gewissen hatten, daß sie die Hellenisten nicht verkürzten. Die Apostel konnten nun in dem Murren der Hellenisten leicht ein gegen sie gerichtetes Mißtrauen finden und übelnehmen. Aber über eine solche Anschauung sind sie erhaben, sie bescheiden sich aber, indem sie erklären, daß ihnen die zwiefache Arbeit, die Verwaltung des Wortes und die Verwaltung des Tischdienstes ihr Vermögen übersteige, daß sie sich von nun an auf das Wort und auf das Gebet beschränken würden.

Durch die vorhandene Trübung und Störung des Gemeindebewußtsein ist den Aposteln das Vertrauen auf den Geist der Gemeinde keineswegs abhanden gekommen. Sie machen den Vorschlag, daß sieben Männer ernannt werden, welche die Lücke, die durch das Zurückziehen der Apostel auf das innere Gebiet entsteht, ausfüllen sollen; aber sie denken nicht daran, selber diese Männer zu ernennen, sie wenden sich an die Initiative der Gemeinde in dem Vertrauen, daß die Gemeinde sich selbst überlassen, die in ihrem eigenen Schoße vorhandenen und bis dahin meist verborgenen Personen am besten selber finden werde. Auf dem Weg des Vertrauens zu dem Geist der Gemeinde kommt es zum ersten Mal zu einem freien selbständigen Akt der Gemeinde in der Gemeindewahl der sieben Diakonen. Durch die neue und freie Bewegung in der Gemeindewahl wird das ungesunde Parteiwesen einem Heilungsprozeß unterworfen. Die Gemeinde erweist sich dadurch als die Stätte, wo Störungen des Gemeindewesens durch innere Kraft zur Förderung und Weiterbildung gedeihen. Aus dem gärenden Parteiwesen hat sich eine gesunde und kräftige Organisation der äußeren Gemeindepflege entwickelt. Schließlich ist der wichtige Umstand nicht zu übersehen, daß aus der Gemeindewahl als erster der sieben Diakone Stephanus hervorgeht. Wenn wir den späteren kirchlichen Sprachgebrauch herausnehmen, werden wir sagen: Dieser Stephanus bricht durch seinen Geisteskampf gegen die Juden den Gegensatz zwischen Klerus und Laien, denn dieser, und kein Apostel, ist es, der durch sein Wirken und Leiden den nächsten großen Fortschritt der kirchlichen Entwicklung zustande bringt. Das, was man Laienstand nennt, tritt hier als Organ des Heiligen Geistes selbständig auf und zeigt dem Gemeindeleben Wege, die es in der Kraft des Heiligen Geistes zu wandeln hat.

Quelle: Gärtner - Eine Wochenschrift für Gemeinde und Haus 1912

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