Baumgarten, Michael - Am zehnten Sonntage nach Trinitatis

Baumgarten, Michael - Am zehnten Sonntage nach Trinitatis

Das Weinen Jesu über Jerusalem

Wie lieblich sind deine Wohnungen, Herr Zebaot; ein Tag in deinen Vorhöfen ist besser denn sonst tausend; ich will lieber das Thor hüten in meines Gottes Hause, denn lange wohnen in der Gottlosen Hütten (s. Ps. 84). So tönt es zu uns herüber von dem alttestamentlichen Heiligthum wie wunderliebliches Glockengeläute. Nur Schatten hatten Jene von den zukünftigen Gütern (s. Hebr. 10, 1. Kol. 2, 17), aber durch diesen Schattenriß erhielten sie eine so bestimmte Vorstellung von den ewigen Gütern, die ihnen aufbehalten waren, und eine so starke und heilige Sehnsucht nach dem Besitze dieser göttlichen Fülle und Seligkeit wurde dadurch in ihren Herzen angeregt, daß sie nirgends lieber weilten als an der State der schönen Gottesdienste, und daß sie im Anschauen dieser heiligen Schatten und Bilder den Vorgenuß der Güter selber empfingen. Wir haben mit Bildern und Schatten nichts zu thun, uns hat sich aufgethan die Fülle und Wesenheit Gottes selber, denn er, der Gott war wie der Vater von Ewigkeit, ist gekommen und hat Allen, die an seinen heiligen Namen glauben, hier mitten im Fleischesleben, mitten im Weltgewühl die Thore des himmlischen Heiligthums aufgeschlossen und sie können und dürfen hinzutreten ohne Furcht mit voller Zuversicht und Freudigkeit zu dem göttlichen Thron, der im Himmel ist. Und darum haben wir hier in unserm irdischen Heiligthum nichts mit Bildern und äußerlichen Gebräuchen zu schaffen, sondern das helle, lebendige Wort unsers Heilandes, in welchem der Geist des Vaters und des Sohnes gegenwärtig und wirksam ist, hat hier sein freies Walten, welches Alles, was sich hier findet und was hier geschieht, durchdringt und durchleuchtet. Darum sollte billig das Lob über die Herrlichkeit unseres neutestamentlichen Heiligthums und Dienstes noch tausendmal lieblicher und kräftiger klingen, als wenn die Psalmen ihre alttestamentlichen Vorbilder besingen. Es ist daher wohl ein recht trauriges Zeichen, daß es von diesem Jauchzen und Jubeln über die uns in unseren heiligen Versammlungen so frei aufgeschlossene und so reichlich dargebotene Gegenwart der ewigen Güter in unseren Herzen so stille ist und sich noch weniger davon aus unserm Munde vernehmen läßt.

Weislich ist es geordnet, daß der Ruhetag, der von Anfang der Welt gewesen ist, auch uns noch verblieben und erhalten ist. Denn wenn auch unser Ruhetag in der Reihe der Tage umgestellt worden ist, so ist er doch nach der ursprünglichen Ordnung der je siebente, und es ist auch deshalb nicht zu verwundern, daß über unserm Ruhetag noch Etwas von jenem wunderbaren Glanze ausgebreitet ist, der in der Heiligung und Segnung des ersten Sabbats in der Welt beschlossen ist. So oft der Ruhetag mit seinem Morgenstrahl die in ihren Mühen und Beschwerden hart gebundene Welt begrüßt, weckt er in dem Herzen das Verlangen der Freude und der Freiheit und es ist, als müßten heilige und unaussprechliche Ahnungen, die sonst verborgen und verloren in der Tiefe des Herzens ruhen, Gestalt und Wirklichkeit gewinnen. Wer von diesem Hauch, mit welchem der Morgengruß jedes Ruhetages die arbeitende Menschheit anwehet, gar Nichts mehr spüret, muß in der That schon sehr stumpf und ganz weltsinnig geworden sein. Aber wie gehen nun die Menschen um mit diesem köstlichen Gute des Ruhetages? Die Freiheit von der Last der Arbeit wollen sie genießen, die Freude, deren Verlangen sich in ihnen regt, wollen sie gewinnen. Was sie nur ersinnen können, bieten sie auf, und selbst das Theuerste, was sie haben, ist ihnen oft nicht zu kostbar, die Ruhe ihres Gewissens setzen sie ein, um diesen Zweck zu erreichen. So gehen sie denn hinaus in die Mannichfaltigkeit und Weite der Welt, der Eine auf diesem, der Andere auf jenem Wege. Wir wollen sie nicht begleiten auf diesen Wegen, aber ihre Heimkehr wollen wir uns nicht entgehen lassen. Ach des Jammers! hell und heiter spielte der Morgenstrahl um ihr Angesicht, aber dumpf und düster liegt die Abendstunde auf ihrer Seele. Ach Sie haben nicht erreicht, was sie so eifrig erstrebt, sie haben nicht gefunden, wonach sie so emsig gesucht! Die Freiheit der Ruhe, die sie gewannen, war ein Sonnenstrahl, der sich nicht festhalten läßt, wenn die Finsterniß kommt; der Genuß der Freude war eine Blume, und sie war welk, ehe die Mitternacht gekommen. Manche gestehen sich selber dies traurige Ergebniß, Manche weigern sich dieses Geständnisses, weil es ihnen gar zu schmerzlich ist. Aber am andern Morgen ist es mit Augen zu sehen und mit Händen zu greifen: nicht erquickt und gestärkt beginnen sie den neuen Lauf der Arbeit, sondern verdrossen und widerwillig wie das Zugvieh werden sie in das alte Joch gespannt. Aber, Geliebte, es kann nicht anders sein. Die Armen, sie haben sich selber nicht verstanden. Das, was sich am Morgen in der Seele so still und heimlich bewegt, es ist das tiefe Verlangen nach der ewigen Ruhe, es ist die Sehnsucht nach der Freude Gottes. Darum ruft uns der Morgen des Ruhetages nicht hierhin und dahin, sondern mit seinem lautesten Tone, mit seinem feierlichen Geläute ruft er uns zu der State des heiligen und seligen Gotteswortes. Dieses Gotteswort redet von der Ruhe und der Freude, in welcher sich Gott erquickte an seinen Werken (s, 2 Mos. 31, 17) und mit welcher Ruhe und Freude er seiner Schöpfung das Gepräge der göttlichen Vollendung aufdrückte (s. 1 Mos. 2, 2). Die ewigen Güter, die hier im Heiligthume des neuen Testamentes angeboten werden, sind nichts Anderes als diese Ruhe, diese Freiheit, diese Freude und Erquickung Gottes, welche er nicht für sich behalten will, sondern Allen, die ihn lieben und suchen, reichlich und überschwenglich mittheilen will. Aber wie Wenige folgen diesem heiligen Rufe des Ruhetages! Und unter diesen Wenigen sind leider immer noch wieder Manche, welche gewohnheitsmäßig folgen und nicht aus einem brünstig verlangenden Geiste: daher sitzen sie denn in dem Hause Gottes zerstreut und verwirrt, und von der ewigen Ruhe und seligen Freude empfangen sie ebenso wenig, wie Jene auf den Wegen ihrer Eitelkeit. Gewiß, Geliebte, wenn wir, die wir in dem Hause Gottes wohnen, nur jedesmal mit kräftigen Zügen trinken wollten aus den Brunnen des Heiles, die uns hier aufgethan sind; Viele von denen, die draußen sind, würden es an unserer Freudigkeit und Freiheit merken, daß sie Thoren sind, und würden uns bald nachfolgen und mit uns eingehen, in die Thore der heiligen Stadt unseres Gottes. Wohlan Alle, die wir uns gegenwärtig hier zusammengefunden haben, lasset uns thun, was diese heilige Stunde und diese heilige Stätte von uns erheischt, lasset uns unsere Sinne und Herzen versenken in die göttlichen Tiefen des Wortes, welches uns hier dargeboten wird. In solchem Sinne wollet verlesen hören das heutige Evangelium:

Luk. 19, 41-48.

So mächtig ergreifend, so überschwenglich reichhaltig ist diese Erzählung, daß wir uns daran müssen genügen lassen, wenn wir nur das erreichen, daß wir uns dieselbe nach ihrem Hauptinhalt anschaulich und gegenwärtig machen können. Und in der That wird auch dieses für unser vornehmstes und wichtigstes Bedürfniß ausreichend sein, denn wer das Bild dieser Erzählung seiner Seele lebendig einprägt, der kann bei sich selber die beste Anweisung finden, wozu er dasselbe sich habe dienen zu lassen.

Ein Umstand hebt sich aber vor allen andern aus der Fülle dessen, was hier berichtet wird, hervor: mit kurzem Worte zwar ist er nur erwähnt, aber er gleicht einem heiligen Magnet, der all unsere Gedanken und Vorstellungen unwiderstehlich an sich zieht, so daß uns alles Uebrige in unserer Erzählung unwillkürlich nur dazu dienen muß, diesen Umstand zu beleuchten und zu erklären. Ihr merkt wohl schon, geliebte Zuhörer, daß ich das Wort meine: „und er weinete.“ Das Weinen eines Menschen ist überall eine Erscheinung, der wir unsere Theilnahme nicht versagen können. Was ist das nun für eine geheime Macht, welche dieser Erscheinung innewohnt? Als etwas Besonderes muß es uns wohl erscheinen, daß das Auge des Menschen zu einer Quelle wird und sein Angesicht zu einem Bache. Es weist uns dies darauf hin, daß wir auch in dem Menschen einen Brunnen der Tiefe zu denken haben, wie es im Innern der Erde solche Brunnen der Tiefe giebt. Gleichwie aber diese nur hervortreten, wo ein übermächtiger Druck auf sie einwirkt, so werden wir es auch beim Menschen uns ähnlich vorzustellen haben. Der übermächtige Druck der Welt ist es, welcher den Brunnen der Tiefe, der in dem Menschen verborgen ist, in der Quelle der Augen hervortreten läßt. Aber was in der Welt darf und kann den Menschen drücken, ihn, der zum König und Herrn auf der Erde bestellt ist, dem daher Alles und Jedes nur zur Erhebung, nur zum Schemel seiner Füße dienen soll? Wenn es nun dennoch anders ist, wie die Thränen beweisen, so muß uns dies ein Zeichen sein, daß die ursprüngliche Ordnung eine andere, eine umgekehrte geworden ist, und das ist wohl der vornehmste Grund, warum jegliches Weinen der menschlichen Augen so sehr unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Sonst würden wir uns auch wohl längst an diese Erscheinung gewöhnt haben und dagegen abgestumpft sein. Denn wie nun die Dinge stehen, ist Weinen eine allgemeine menschliche Erscheinung geworden: weinend tritt das Menschenkind seinen Lauf durch das Leben an und der Thränenstrom begleitet den Gang der Menschheit durch die Weiten der Erde wie durch die Jahrhunderte der Zeit, und nicht eher wird das Weinen gestillt sein, als bis Gott selber die Thränen von den Angesichtern wischen wird (s, Offenb. 21, 4). Aber dennoch müssen wir stille stehen vor jedem weinenden Angesichte, denn die Thräne ist uns ein helles Zeichen von der Umkehrung einer ursprünglichen Grundordnung: die Welt, die zu unsern Füßen liegen sollte, drückt auf unserem Gemüthe wie eine übermächtige Last. Selbst dann, wenn sich die Freude in Thränen äußert, können wir es nicht anders verstehen, denn was die Freude zu einer solchen Aeußerung bringt, ist nichts Anderes, als die Wehmuth, welche ihr anhängt und die eben in dem Drucke dir Welt ihren geheimen Ursprung hat. Es hat aber nicht alles Weinen einen gleichen Werth und dieselbe Bedeutung, Das Kind weint, weil es noch außer Stande ist, dem Drucke der Welt ein Gleichgewicht entgegenzusetzen. Manche nun giebt es, welche weinen, wie die Kinder, weil sie sich keine Kraft erworben haben, welche gegen den Druck der Welt zu wirken berufen ist, es sind die schwächlichen und weichlichen Menschen. Diesen gegenüber giebt es Solche, welche nicht weinen können aus dem Grunde, weil sie den Druck der Welt entweder gar nicht, oder nur sehr wenig fühlen. Das beruht aber nicht auf Kraft oder Stärke, sondern nur auf Stumpfsinn und Gefühllosigkeit; der Brunnen ihrer Tiefe ist von der Schwüle und Dürre der Welt gänzlich ausgetrocknet und versiegt. Weder jene Weichlichkeit, noch diese Herzlosigkeit kann zum Verständniß des Geheimnisses, welches wir hier zu betrachten haben, einen Dienst leisten. Aber ein Weinen giebt es, welches eben w weit von der Schwächlichkeit wie von der Stumpfsinnigkeit entfernt ist. David, der kühne und starke Mann, hat geweint mehr als einmal; die gewaltigen Helden des griechischen und deutschen Alterthums haben sich ihrer Thränen nicht geschämet. Der Heiland nun ist ein Held und ein Gewaltiger, dem Niemand zur Seite gestellt werden darf. Seine Empfindung ist so scharf und sein Gefühl ist so sein, daß es all unsere Erfahrung nicht bloß, sondern auch alle unsere Gedanken übersteigt; kein Schmerz, kein Kummer des äußeren oder inneren Lebens entgeht seinen Sinnen und jede Roth empfindet er bis auf ihren untersten Grund, ja es liegt auf feinem Gemüthe in jedem Augenblick seines Lebens die Last der gesammten Welt, Aber es wohnt in ihm eine Kraft, welche sich dieser ganzen Weltlast freudig unterstellt und sie nicht bloß trägt, sondern auch erträgt. Selbst in den Augenblicken, in denen alle Fluten des Feindes über seinem Haupte zusammenschlagen, finden wir ihn stark und unbeweglich. Als er rang in Getsemane, da ist wohl sein Schweiß zu Blutstropfen geworden, aber Thränen hat er nicht vergossen, und als das Blut aus seinen Wunden troff unter den Händen der römischen Kriegsknechte in dem Richthause und an dem Kreuzespfahl, hat man sein Auge nicht weinen sehen, und auch dann, als die Weiber von Jerusalem klagten und weinten, ist er nicht erweicht worden, sondern mit männlicher Kraft hat er sie von sich weg auf sie selber gewiesen.

Dies Alles macht uns noch gespannter und aufmerksamer auf das Weinen Jesu, das uns hier berichtet wird und an sich schon unsere andächtige Theilnahme im höchsten Maaße in Anspruch nimmt.

Die Thränen unseres Heilandes gelten Jerusalem; das ist es, was der Evangelist sofort bemerkt und was auch aus dem hinzugefügten Worte, mit welchem Jesus sein Weinen begleitet und erklärt, hervorgeht. Die Thränen nun, welche nicht uns selber gelten, sondern Anderen, sind überall die edelsten, denn sie zeigen, daß wir den Druck der Welt empfinden, vermittelst des Besten, dessen wir überall fähig sind, nämlich vermittelst der innerlichen Theilnahme der Liebe; daß der Brunnen der Tiefe, aus welchem sie stammen, das Leben der Liebe ist. Aber so weit bringen wir es niemals, daß unsere Thränen völlig selbstlos rinnen. Das Verständniß und Gefühl für fremde Noch geht uns immer nur so auf, daß wir uns zugleich der eigenen Noch bewußt werden. Der Brunnen der Liebe, aus dem die Thränen unserer Theilnahme quillen, ist, so zu sagen, eingeschlossen in das Selbstgefühl eigener Bedrängniß in der Welt und darum haben auch die reinsten Thränen des Mitleides eine Beimischung von diesem Selbstgefühl eigenen Leidens. Daher fließen unsere Thränen am leichtesten und am häufigsten, wo es der Noch derer gilt, die uns durch Bande des Fleisches und Geistes verbunden sind; und mit Recht wird die Liebe für um so reiner und edler geachtet, je mehr sie sich auch für entferntere Kreise der Noth zum Mitleiden anregen läßt, je weniger also das Selbstleben Theil an unserer Aeußerung hat. Von den Thränen des Heilandes läßt sich nun zeigen, daß sie Zeugnisse einer völlig selbstlosen und durchaus lauteren Theilnahme sind, denn zwischen ihm und Jerusalem giebt es keine andere Verbindung, als reine Liebe.

Wie selbstlos das Weinen Jesu über Jerusalem ist, muß uns schon dann einleuchten, wenn wir nur erwägen, welche Bedeutung für das Leben und die Thätigkeit des Heilandes der Augenblick haben mußte, in welchem er die Stadt Jerusalem erblickte. Er kam von Bethanien her und war begriffen auf seinem feierlichen Einzuge in die Stadt Davids; nicht zu Fuße wandernd wie sonst, sondern auf dem königlichen Reitthier (s. 1 Mos. 49, 11. 1 K. 1, 33.47. Sach. 9, 9) zog er einher; die Volkshaufen huldigten ihm, begrüßten ihn mit Psalmen und jubelten ihm entgegen als dem Sohn Davids, Eine so allgemeine, reine und helle Begeisterung war ihm nach niemals entgegen gekommen, und er ist weit davon entfernt, dieselbe zu verschmähen oder sich ihr, wie er früher gethan, zu entziehen; vielmehr straft er diejenigen, welche dem Jubel wehren wollten, mit dem Wort: wo diese würden schweigen, so würden die Steine schreien (s. Luk. 19, 40), auch wissen wir ja, daß er seinen Theil dazu gethan hat, um diese Feier seines Einzuges vorzubereiten. Hier ist also die Höhe seiner Wirksamkeit, der Gipfel seiner Herrlichkeit in den Tagen seines Fleisches, es ist sein königlicher Ehrentag, an welchem sein Herz Freude hat. Unter solcher Umgebung ist es, daß er auf der Höhe des Oelbergs der Stadt Jerusalem ansichtig wird. Wie fern muß sein Auge von allem Einflusse des Selbstlebens und des Selbstgefühls sein, wenn es bei dem ersten Anblick Jerusalems unter solchen Umständen sich mit Thränen füllt über die der Stadt bevorstehende Noth! Nicht was die Stadt für ihn ist, dem Sohn Davids und König Israels, sagt ihm der Anblick, sondern was die Stadt für sich ist, ohne ihn, in ihrer Noth und Verlassenheit; das ist das Bewußtsein, was sich ihm mit diesem Anblick Jerusalems in Eins verschmilzt.

Aber weiter zeigt sich darin die Kraft seiner Liebe, beweisen sich seine Thränen als die Quellen völlig reiner Theilnahme, daß sein Blick nicht sowohl die Gegenwart, als die Zukunft Jerusalems erfaßte. Wie herrlich lag Jerusalem vor seinen Augen, beleuchtet von dem Morgenlicht! Wie strahlte der Tempel auf Moria in seinem Glanze! Wie fest und trotzig standen die Mauern auf ihren gewaltigen Quadern! Es nahet der Tag, daß die Sichel in die Saat gehet und Israel aufs Neue den reichen Segen Jehovas von seinem Erbtheil entgegen nehmen soll. Und ringsum ist die feiernde Menge aus allen Gegenden des Landes, ja aus allen Theilen der bewohnten Welt, beschäftigt mit Zurüstungen auf das herrliche Fest der Erlösung Israels. So stand Jerusalem vor seinen Augen, als er die Stadt vom Oelberg her erblickte, und denke nur Niemand, daß Jesu auch nur ein Zug dieser Heiterkeit und Festlichkeit, dieser Herrlichkeit und Ruhe entgangen und seinem Herzen gleichgültig geblieben ist. Aber gefangen nehmen läßt sich sein Blick nicht von dieser Gegenwart vor seinen Augen. Sein Blick dringt wie immer, so auch hier in den Grund und da stehet er, daß diese ganze Herrlichkeit und Sicherheit der Gegenwart nur eine leichte oberflächliche Hülle ist und eben darum verwandelt sich seinem Geistesauge das ganze Bild in das gerade Gegentheil. Da an dem Orte, wo er stand und wo ihn die fröhlichen und jubelnden Scharen seines Volkes umwogten, sah er die Scharen der furchtbaren römischen Legionen, welche, wie Josephus berichtet, die Hauptmacht der Belagerung auf dem Oelberg aufgerichtet hatten, Jerusalem, die festliche Stadt erscheint ihm wie eine verlassene Wittwe, die mit ihren Kindern eingeschlossen ist und keinen Ausgang findet, und in unaussprechlicher Angst Nichts mehr zu erwarten hat, als grausamen Untergang aus der Hand des Feindes; die furchtbaren Wehren der Stadt sind aus ihren eisernen Fugen aufgelöst und kein Stein ruht mehr auf dem andern, kurz er schaut in einem Ueberblick die Zerstörung Jerusalems, ein so grausenhaftes Bild, wie die Welt keines vorher noch nachher gesehen hat. Wir nennen das Wort Jesu, welches dieses Geschick Jerusalems beschreibt, mit Recht eine Weissagung; wir sollten nur nicht vergessen, daß der weissagende Blick und das weissagende Wort auf dem Grunde der Liebe ruht. Warum anders blicken die Propheten so tief in Israels Zukunft hinein, als weil die Macht der Liebe zu ihrem Volke so tief in ihrem Herzen gegründet ist? Warum kann Paulus das Geheimniß der Bekehrung der Juden aufschließen, als weil er mit Banden ewiger Liebe mit seinen Brüdern nach dem Fleische, auch den ungläubigen und verstockten, verbunden bleibt? Sehet, diese Macht der Liebe ist es, welche die fröhliche Gegenwart Jerusalems vor den Augen Jesu in die schreckliche Zukunft der heiligen Stadt verwandelt. Die Weissagung höret auf, aber die Liebe bleibet. Und wären wir nur willig in der Liebe, so würden wir zwar noch nicht weissagen, aber wir würden uns nicht von der Gegenwart des Anderen so hinnehmen lassen, daß uns die Zukunft völlig verdeckt bliebe. Wäre unsere Liebe nur nicht so oberflächlich und unergründlich, so würden wir oft weinen, wo wir nun lachen und fröhlich sind, weil wir nicht erkennen, daß eine heitere und sichere Gegenwart des bleibenden Grundes entbehrt und darum nothwendig bald in ihr Gegentheil verkehrt werden muß und wird. An dieser unserer Mangelhaftigkeit haben wir einen sicheren Maßstab, an dem wir erkennen können, wie tief und rein der Brunnen der Liebe Jesu gewesen sein muß, aus welchem die Thränen quillen, die er auf dem Oelberge weint.

Indessen eine noch schärfere Probe besteht diese Liebe unseres Heilandes, sie besteht die schärfste, welche überall denkbar ist. Unsere Theilnahme an Anderer Leiden richtet sich in den allermeisten Fällen nach dem Grade der Schuld oder Unschuld der Betheiligten; sehen wir die offenbare Verschuldung vor Augen, so hat unsere Theilnahme in der Regel ihr Ende, oder sie zerfällt in zwei Hälften, die zu keiner rechten Ausgleichung kommen; einerseits empfinden wir eine gewisse Befriedigung in der Wahrnehmung, daß sich eine höhere Ordnung in dem Geschicke der Menschen offenbart, andererseits bleibt nur schwächliches und in sich unklares Mitleid an der Roth der Büßenden übrig. Dies Letztere schwindet aber dann gewöhnlich ganz und gar, und es steigert sich die Befriedigung an den Werken göttlicher Gerechtigkeit, wenn wir selber es waren, gegen welche die Leidenden sich versündiget haben. In solchem Falle macht der kalte Eifer der Gerechtigkeit den Brunnen der Liebe völlig starr und von der Thräne des Mitleidens sind wir weit entfernt. Wie steht nun hier die Sache? Die Verwüstungen und Zerstörungen, welche über Israel ergehen, sind eine so deutliche Sprache und Schrift der göttlichen Gerechtigkeit und Vergeltung, daß sie selbst den Heiden verständlich ist (s. 5 Mos. 29, 24), Am allermeisten aber gilt dies von dem Untergang Jerusalems, welchen der Heiland voraussagt, wie es auch die Heiden ausdrücklich bezeugt haben. Wir wissen auch, daß Jesus Jerusalems Zerstörung als das wohlverdiente Gericht Gottes über der Juden Sünden und Missethaten mit den strengsten Worten erklärt hat und daß er das grausenhafte Schicksal, welches er hier schildert, auch in unserem Evangelium nicht anders betrachtet, erhellt daraus, daß er dasselbe ausdrücklich auf die Schuld Jerusalems zurückführt. Wahrlich, es wird sich Niemand mit Jesu messen dürfen an Strenge des Urtheils über die Heiligkeit und Gerechtigkeit dieses göttlichen Gerichtes! Aber dies hemmt und schwächt die Kraft und Innigkeit seines Mitleides nicht im Mindesten. Aber noch weit wunderbarer muß uns diese Liebe erscheinen, wenn wir bedenken, daß Alles, was Jerusalem verschuldet und verbrochen, sich zuletzt zusammenfaßt in dem Einen, was es gegen Jesum, seinen ewigen König, gesündigt hat, daß es vor allem Anderen die Verschmähung seiner Liebe, die Verwerfung seiner Hülfe ist, was die Stadt, die voll Volks war, zu einer Oede und Wüste gemacht hat. Auch ist eben dieses, was der Herr meint mit der Versäumniß der Zeit der Heimsuchung, obwohl er in diesem Zusammenhang offenbar seiner Gemüthsstimmung entsprechend seinen heiligen Namen verschweigt. Denn die göttliche Heimsuchung, welche über Jerusalem kam, war die Offenbarung des eingeborenen Sohnes Gottes, welcher als Sohn Davids und König Israels erschien. Als sein Fuß den Boden der heiligen Stadt betrat, da sah er schon den Adler kreisen, den furchtbaren Adler der römischen Kriegsscharen, wie er sich seine Beute an der geheiligten Stätte der Erde erschaute und sie zu verschlingen drohte (s. Matth. 24, 28). Darum, wie die Henne ihre Küchlein lockt, wenn der Raubvogel sich blicken läßt in der Höhe, so erhob Jesus die liebliche und sanfte Stimme seiner Liebe, um die gefährdeten Kinder Jerusalems unter die mächtig schirmenden Flügel seiner göttlichen Gnade und Gewalt zu sammeln (s. Matth. 23, 37). Aber ihr habt nicht gewollt, muß er ihnen voll Schmerz zurufen. Daß sie seine Liebe nicht erkannt, hat er von Anfang an erfahren und auch jetzt, da sie ihm in der reinsten Begeisterung, deren sie fähig waren, entgegen jubeln, auch jetzt, als alles Volk ihm nachging und zuhörete, täuscht er sich keinen Augenblick darüber, daß der Grund ihrer Gesinnung das Nichtwollen seiner Liebe und seiner Hülfe ist. Aber sein Blick dringt noch tiefer in das Geheimniß der Herzen ein. Er weiß, daß sein Volk nicht an ihm vorübergehen kann, daß es nicht gelingen wird, ihm einen Platz neben anderen Meistern und Propheten anzuweisen und sich durch eine solche Anerkennung mit ihm abzufinden; es steht ihm fest, daß nur die Wahl zwischen Zweien bleibt: entweder ihn Alles sein zu lassen oder ihn als ein Nichts zu achten und hinauszuwerfen, entweder ihm mit ganzer Liebe und aller Kraft anzuhangen, oder ihn an das Kreuz zu hängen. Mit Sicherheit sieht er es kommen, daß die Verschmähung seiner Liebe und Hülfe zur Verwerfung und Ueberantwortung seiner Person führen wird, und dann weiß er, wird die Vergießung seines unschuldigen Blutes das Maß der Sünden von dem Blute Abels an voll machen (s. Matth. 23, 32. 35), zugleich aber auch den göttlichen Zorneskelch über Jerusalem füllen. Die Zerstörung der Stadt ist ihm also nichts Anderes als das Gericht des gerechten Gottes über sein eigenes unschuldiges Blut, welches Jerusalem mit ihren Kindern über ihr Haupt herabrufen wird. Und dennoch weinet er über Jerusalem, als wäre die Angst und Noth, welche über die Mörderin des Heiligen und Gerechten kommen muß, seine eigene Gegenwart. Sehet, Geliebte, welch eine unergründliche Tiefe göttlicher Liebe sich uns hier darstellt!

Wo die rechte Liebe ist, da wohnt auch die wahre Kraft und wo die Kraft ist, da ist kein Ruhen, sondern ein lebendiges Wirken. Dies offenbart sich in unserer Erzählung und zeigt uns das Weinen Jesu in einem neuen Licht. Wenn wir dahin gelangt sind, daß wir erkennen, unsere Liebe wird verschmäht, unser Wirken ist umsonst und uns bleibt Nichts übrig, als zu weinen über die Verblendung, die uns gegenübersteht, so lassen wir ab von unserm Thun und betrachten leicht unsere Thränen selbstgefällig als die letzte Pflichterfüllung unserer Liebe, indem wir uns glauben vollkommen beruhigen zu können, wenn der Schmerz der Wehmuth alle unsere Kraft auflöst. Und wahr ist es, Geliebte, die meisten Menschen bringen es lange nicht so weit, schon lange vorher, ehe sie zu einer solchen Erkenntniß gelangen, ehe sie bis zu solchem Schmerze vordringen, haben sie schon ihre Hände sinken und ihre Kniee laß werden lassen. Aber daß auch jenes Ziel noch lange kein christliches ist, sehen wir an unserm Heiland. Bei ihm ist das Weinen nicht ein Letztes, sondern ein neuer Anfang. Die Vergeblichkeit all seines Wirkens ist ihm unverholen, die Verblendung Jerusalems ist ihm eine finstere Decke, durch welche Nichts hindurch, zu dringen vermag. Diese Erkenntniß mußte ihn wie ein Todesstachel durchbohren. Es wird uns dies noch deutlicher, wenn wir den Grundtext unserer Erzählung ansehen. Hier heißt es: wenn du doch selbst an diesem deinem Tage bedächtest, was zu deinem Frieden dient! Jesus hebt hervor den heutigen Tag und bezeichnet ihn als einen Tag Jerusalems. Ohne Zweifel entlehnt er diese Bezeichnung aus dem 118. Psalm. Dieser Psalm gehörte zu dem großen Lobgesang, den Israel beim Passamahl anzustimmen pflegte und den auch der Herr mit seinen Jüngern gesungen hat (s. Matth. 26, 30). Der 118. Psalm ist so zu sagen die Höhe dieses Lobgesanges, denn er besingt den Tag des Heiles, an welchen Israel errettet und erhöhet wird. Dieser Psalm, der allen frommen Israeliten namentlich zur Passazeit im Sinne lag, ist es nun auch, aus welchem die begrüßende Menge das Hosianna dem Sohne Davids entgegenrief. Diesem Hosianna unmittelbar vorausgehend läßt sich aber der Psalm also vernehmen: dies ist der Tag, den Jehova gemacht hat, lasset uns jubeln und fröhlich sein an demselben (s. V. 24). Wenn nun Jesus den gegenwärtigen Tag als einen besonderen auszeichnet, sollte er da sich nicht auf diese Psalmesworte beziehen und wegen dessen, was der Psalm von dem Tage Jehovas so Großes und Hohes für Israel verkündigt, diesen Tag als einen Tag Jerusalems benennen? Dann aber meint er es offenbar so, daß es lediglich an Jerusalem liegt, diesen gegenwärtigen Tag zu dem Tage des vollkommenen Heiles, welches der Psalm besungen, für sich werden zu lassen. So nahe, so gegenwärtig ist Jerusalems Errettung und Erlösung! Beschlossen ist sie in der allgenugsamen Gegenwart seines helfenden Königs, der so eben kommt zu der Tochter Zions. Wie alle Kraft verzehrend und vernichtend steht nun daneben die helle Gewißheit: nun aber ist es vor deinen Augen verhüllet worden! Und dennoch hört der Herr nicht auf zu wirken, so lange die Nacht noch nicht eingebrochen ist. Täglich, sagt unser Evangelist, lehrte er im Tempel. Also nicht in den Kreis seiner Vertrauten zog er sich zurück, sondern vor allem Volke trat er auf, in der Mitte der verblendeten Kinder Jerusalems ließ er seine Stimme erschallen. Auch ließ er bei der Einsicht der Erfolglosigkeit seiner Arbeit nicht ab in der Kraft seiner Rede; im Gegentheil eindringlicher, nachdrücklicher war das Lehren seiner letzten Tage, denn je zuvor, sein Wort erstieg jetzt den Gipfel seiner Gewaltigkeit. Sein Weinen über Jerusalems Noth und Verblendung war demnach eine neue Heilige Weihe der Kraft seiner Thätigkeit an Jerusalems Rettung und Erleuchtung. Noch deutlicher aber zeigt sich dieses an dem, was auch unsere Erzählung als etwas besonders Merkwürdiges hervorhebt, nämlich an der Reinigung des Tempels, welche er an demselben Tage vollzog. Es war dies ein ungewöhnliches Thun, wie wir es sonst an Jesu nicht finden. So scharf auch und schonungslos nämlich sein Wort gegen alle Thorheit und Verkehrtheit auftritt, so läßt er doch Alles an seinem Orte stehen, nur das Wort seines Mundes ist sein Schwert gegen alles unordentliche Wesen, jedes äußerlichen Mittels zur Feststellung der Ordnung enthält er sich. Nur einmal war er von dieser seiner Weise abgewichen, nämlich damals, als er sich zum ersten Mal in Jerusalem als den König Israels zeigte. Damals ging er in den Tempel und machte sich eine Geißel, und mit drohendem Wort und mit drohender Hand trieb er sie aus Alle, welche die heilige Stille der Gottesstätte störten und entweiheten. Aber schon damals verstand das Volk das Zeichen seines eifernden Königs nicht und sofort bezeichnete er schon damals seinen Weg nicht als Wirken sondern als Leiden. Der Zustand des Tempels ist gegenwärtig nun gerade derselbe wie bei seinem ersten Auftreten. Und freilich ist die Verunreinigung des Tempels, welcher das eigentliche Herz Jerusalems bildete, das gewisse Zeichen, daß der Adler bald seinen Raub erhaschen wird. Aber was nützt es, den Tempel Jerusalems zu reinigen, wenn die Herzen ihrer Kinder unrein bleiben nach wie vor? Ist die Reinigung das erste Mal vergeblich gewesen, jetzt da die Verblendung nahe daran ist, ihren höchsten Grad zu erreichen, wird sie es noch viel mehr sein. Dennoch treibt er zum zweiten Male aus Alle, welche das Bethaus zu einem Ort des weltlichen Treibens und Ansichraffens machen. Darin sehen wir am hellsten, wie durchaus unerschlafft und unermüdet das Wirken Jesu ist. Nicht darum nämlich enthält er sich für gewöhnlich alles eingreifenden Wirkens, weil dies an sich verkehrt und unstatthaft ist, sondern lediglich darum, weil es an der nothwendigen Bedingung dazu, an dem rechten Verständniß seines Wirkens und Sinnes fehlte. Jetzt aber ist ein gewisses Verständniß dessen, was Jesus ist und will, vorhanden in Jerusalem. Das Hosianna schallt ihm fort und fort entgegen vor den Thoren wie in den Gassen der Stadt. Zwar ist diese Erkenntniß nur wie das Leuchten des Blitzstrahles, welches schnell verschwindet und die Finsterniß der Nacht nur dunkler erscheinen läßt, aber vorhanden ist sie doch und wir haben gesehen, welch einen Werth Jesus auf dieselbe gelegt wissen will. Diesen Augenblick eines gewissen allgemein verbreiteten Verständnisses seiner königlichen Würde ergreift er sofort, um auf Grundlage desselben auszuführen, was am allernöthigsten war. So scharf ist sein Auge, auch unter verzweifelten Umständen die geringste Gelegenheit zum Gutesthun wahrzunehmen, so rasch sein Fuß und seine Hand, die Werke des Vaters zu thun bis zum letzten Hauch ohne Rücksicht auf Erfolg, Wohl muß es das Weinen der Liebe sein, welches mit einem solchen rastlosen Wirken verbunden ist.

Unser Weinen, auch wenn es aus leidender Theilnahme fließt, ist meistens das Zeichen, daß es mit aller Hülfe zu Ende ist; tröstend und lindernd mag es für die Weinenden sein, wenn wir mit ihnen weinen, aber Hülfe gewährt es ihnen nicht; was sie verloren, können unsere Thränen nicht ersetzen, geschweige denn wiedergeben. So wie also unsere Thränen das Ende unseres Wirkens zu sein pflegen, so erscheinen sie in der Regel auch als die Grenze unserer Hülfe. Sollten nun die Thränen unseres Heilandes, wie sie darin von den unsrigen verschieden sind, daß er durch sie hindurch nur zu einer desto mächtigern und rücksichtsloseren Thätigkeit vorschreitet, auch nicht darin etwas Besonderes haben, daß sie in sich selber eine Macht und Hülfe haben in Bezug auf das, dem sie gelten? Einigen unter Euch ist das Wort eines frommen Kirchenlehrers bekannt. Zu diesem kam eine Mutter, die in jahrelangem Kummer um das Selenheil ihres unfolgsamen Sohnes gegangen war; und als sie ihr Herzeleid dem Bischof Ambrosius geklagt hatte: sprach dieser: ein Kind so vieler Thränen kann nicht verloren gehen. Das Wort ist herrlich in Erfüllung gegangen, nicht bloß wurde der verlorene Sohn wiedergefunden, sondern er ward ein Licht Gottes, welches seine Strahlen weit durch die Finsterniß der Zeiten verbreitet hat. Sollten nun die Thränen einer Mutter mächtiger sein, als die Thränen des Heilandes? Ist es denn nicht eine Mutterliebe, die hier weint über Jerusalem und ihre Kinder? Ja ist hier nicht die Quelle aller wahrhaftigen Mutterliebe, aus welcher auch die Thränen jenes um ihren Sohn bekümmerten Weibes geflossen sind?

Die Thränen Jesu sind nicht die einzigen, die über Jerusalem geweint sind. Es war in den Tagen des Propheten Jeremia, als es ähnlich um Jerusalem stand, wie in den Tagen Jesu. Lüge und Ungerechtigkeit hatten überhand genommen in der heiligen Stadt, die Leiter des Volkes hatten keine Furcht Gottes mehr und die Menge folgte dem bösen Beispiele von oben her, und ferne im Morgenlande hatte die Weltmacht ein festes Reich gegründet und stand bereit, über das entheiligte Volk Israel das Gericht Jehovas zu vollziehen. In dieser schweren Zeit hat Jeremia mit lauter Stimme gerufen und gelockt, gezürnt und gedroht, aber alle sein Mühen und Arbeiten war umsonst. Schon damals war es vor den Augen Jerusalems verdeckt, was zu ihrem Frieden dienlich war. Die Chaldäer kamen, zerstörten die Stadt Davids und verbrannten den Tempel Salomos und Jeremia setzte sich auf die Trümmer von Jerusalem.

Aus einer unergründlichen Tiefe seiner Liebe und seines Schmerzes fließt der Strom seiner Thränen und aus derselben Tiefe stimmt der Prophet seinen Klage- und Grabgesang an über die gefallene und zerstörte Gottesstadt. Und nicht umsonst hat er geweinet und geklaget um Jerusalem; in der finstersten Nacht seines Kummers schaut er das ferne Licht eines kommenden Tages, der über Jerusalem anbrechen wird und aus der Mitte seiner Klagelieder tönt das wunderliebliche Wort der Hoffnung und Verheißung für Jerusalem heraus. Sollten nun nicht die Thränen Jesu noch mehr vor Gott vermögen, als die Thränen des Jeremia? Welch eine geheimnißvolle Macht den Thränen Jesu innewohnen, war auch erst vor wenigen Tagen, ehe Jesus vom Oelberg aus die Stadt Jerusalem sah und über sie weinete, offenbar geworden. In Bethanien, von wo er am Morgen des Tages, von welchem wir reden, aufgebrochen war, wohnte sein Freund Lazarus. Dieser war gestorben und von der bekümmerten Schwester und den weinenden Juden ward Jesus zu dem Grade des Freundes geführt. Auf diesem Gange zu dem Grabe des Geliebten ward er heftig bewegt und es gingen ihm die Augen über. Die Juden, welche solches sahen, erkannten sofort, daß dies nicht eine weichliche Stimmung war, sondern die Macht der reinen Liebe zu seinem Freunde. Die Annäherung an das Grab des Entschlafenen versenkte sein Gemüth in die volle rückhaltslose Empfindung der Todesnoth und Grabeshaft, in welcher er den Freund beschlossen und von sich geschieden weiß; da Lazarus zu ihm nicht herüberkann, so durchbricht die Macht seiner Liebe die Riegel des Todes und des Grabes und vereinigt sich mit dem gestorbenen und begrabenen Freunde in der Kraft seiner Liebe. Das war Jesu Liebe, welche weinete am Grabe seines Freundes. Aber aus der Versenkung seiner Liebe in die Tiefe des Todes und Grabes dessen, der ihm Freund war, erhob er seine Augen zum Himmel und ließ sein zuversichtliches Gebet zu seinem Vater emporsteigen und darauf hat er den Todten gerufen, wie man einen Schlafenden weckt. Sehet Geliebte, darin war allem Volke und auch uns kund geworden, welch eine Wundergewalt die Thränen der Liebe Jesu besitzen und wir werden nicht irre gehen, wenn wir in dieser That, die noch in aller Munde war, ein Zeichen sehen, an welchem wir die wirksame Macht und Hülfe in den Thränen Jesu auf dem Oelberge zu erkennen haben. Nur müssen wir bedenken, daß das, was sich in Bethanien als ein ganz einfaches Verhältniß herausstellt, hier in das Große und Allgemeine sich ausbreitet. Die Liebe, welcher er hegt zu Lazarus und seinen Schwestern, ist ein Vorbild der Liebe, mit welcher er Jerusalem in seinem Herzen trägt. Hat nicht die Stadt Davids mit ihrer heiligen Vergangenheit und ihrer heiligen Zukunft ihm entgegengeleuchtet, als er im zwölften Lebensjahr ihren Boden betrat? Hat er nicht in dem Tempel auf Moria das Haus seines himmlischen Vaters, seine wahre Heimat gefunden, als er von Vater und Mutter sich selbst überlassen worden war? Stehen ihm nicht immerdar vor Augen die großen und ewigen Verheißungen, welche an die Stadt des himmlischen Königs geknüpft sind? Schaut er nicht fortwährend die heiligen Gottesfußstapfen, welche hier von Abraham bis Nehemia eingeprägt sind? Ja ist er nicht der himmlische Bräutigam der ihm ewig verlobten Tochter Zions? In der Kraft dieser wunderbaren Liebe geschieht es, daß er sich in die Noth und Verwüstung Jerusalems versenkt: ganz wie er Tod und Grad seines Freundes zu seinem eigenen machte, ganz ebenso verhält er sich zudem, was er an Jerusalem schaut und von Jerusalem aussagt. Zwar hat er jetzt nicht für Jerusalem gebetet, wie er für Lazarus betete, aber wenige Tage darnach hat er am Kreuz für Jerusalem um Vergebung geflehet und dieses sein Flehen dürfen wir als das Werk seiner Thränen ansehen. Aber sind denn nicht seine Thränen als solche schon lautlose Bitten, deren Engel eben so gewiß zum Himmel steigen, wie ihre Tropfen zur Erde fallen? Was finden wir nicht auch mitten unter den schweren und furchtbaren Drohungen, welche er in seinen letzten Tagen über Jerusalem ausspricht, solche Worte, welche auf das Allerbestimmteste eine Wiederherstellung Jerusalems nach den Zeiten der Heiden aussprechen (s. Luk. 21, 24) und ein Ende der Verwüstung ankündigen, wenn nämlich er der König seinen zweiten Einzug in Jerusalem halten und der große Jubelpsalm seine vollkommene Erfüllung finden wird (s. Matth. 23, 39) und woher anders ist ihm diese zuversichtliche Gewißheit, als weil er weiß, daß seine Thränen Erhörung gefunden haben und finden werden? Wir müssen nur nicht vergessen, es handelt sich hier nicht um einen einzelnen Menschen wie in Bethanien, sondern um die Stadt eines Volkes handelt es sich und zwar des Volkes, welches das Volk Gottes ist, dessen Geschick daher mit den Geschicke aller Völker und Reiche der Erde verflochten ist. Daher dürfen wir uns nicht wundern, daß das Geheimniß der Thränen Jesu über Jerusalem sich durch weite Zeiträume und durch viele und große äußere und innere Verwandelungen der Weltgeschicke hindurchzieht, das darf uns aber nicht zweifelhaft sein, daß das Ende der Geschichte die Wundermacht dieses Geheimnisses in das hellste Licht stellen wird. Und schon jetzt können wir an der Hand der heiligen Schrift den großen und gewaltigen Gang der Wirkung dieser Thränen Jesu auf dem Oelberg übersichtlich verfolgen. Dadurch, daß Jesus sich in seinem Weinen in die ganze innere und äußere Noth Jerusalems versenkt, empfängt er diejenige Kraft, vermittelst deren er sein letztes Werk an Jerusalem vollbringt, und dieses sein letztes Werk führt ihn dahin, daß er für sein Volk und für Jerusalem in den Tod gehen eben so sehr will als muß. Durch seinen Tod aber hat er sich aus seinem Volk eine Gemeinde erworben und gestaltet. In dieser seiner Gemeinde nun lebt sein Geist und sein Gedächtniß in unbesiegbarer Kraft und Frische und hier ist auch das Gedächtniß seiner Thränen über Jerusalem aufgehoben in treuen Liebesherzen. Darum, so gewiß die Gemeinde Christi sich darüber nimmer irre machen läßt, daß Israel unter den Bann des unschuldig vergossenen Blutes verhaftet ist und Jerusalem wegen seines Frevels gegen den Heiligen Gottes unter dem Fluche der Verwüstung und Zertretung liegt, so wird sie andererseits niemals vergessen, daß das grauenvolle Gericht über Jerusalem mit ihren Kindern ein Gegenstand der Thränen und des vergebenden Flehens Jesu gewesen ist und darum auch alle seine treuen Jünger ihm in dieser Kraft der Liebe für Jerusalem folgen müssen. Es ist dies zwar eine Weile verdeckt gewesen, man hat über dem Eifer der Gerechtigkeit die Liebe des Erbarmens zurückgestellt, aber es kann dies auf die Länge nicht fortgehen. Bereits fängt auch die Christenheit an, sich dieser ihrer falschen Einseitigkeit bewußt zu werden und dieses Bewußtsein wird immer mehr erstarken und geläutert werden; es muß und wird dahin kommen, daß auf dem heiligen Grunde der Wahrheit und Gerechtigkeit die Flamme der erbarmenden Liebe für Jerusalem und ihre zerstreuten und geängsteten Kinder kräftig und helle auflodern wird, nicht nur in Diesem und Jenem, sondern in der gestimmten Gemeinde Jesu Christi. Und wenn so die Gemeinde Jesu aus den Heiden in der vollen Liebe stehen wird, die wir in den Thränen Jesu anbeten, dann werden endlich nach unsäglicher Verwirrung und Trübsal die verlorenen Schafe des Hauses Israel die Stimme ihres guten Hirten vernehmen, dann werden sie seine treue Liebe verstehen, mit der er sie hat behüten und beschirmen wollen, erfahren werden sie dann seine Thränen auf dem Oelberg und sein Flehen am Kreuz und im bittersten Herzeleid werden sie weinen und ihm zu Füßen fallen als ihrem ewigen Könige und Haupte und von ihnen wird genommen werden der Bann ihrer Herzensthätigkeit und der Fluch ihrer Zerstreuung; heimkehren werden sie in das Land, wo ihre Väter begraben liegen, und Jerusalem wird hervorsteigen aus seiner vielhundertjährigen Grabesnacht, wie einst Lazarus, erweckt durch die Kraft der Thränen Jesu Christi.

Nicht wahr, geliebte Zuhörer, wenn wir so unsere evangelische Erzählung uns deutlich machen, liegt nicht in demselben eine göttliche Fülle, aus welcher ein Jeder von uns nehmen kann, was zu seinem Frieden dient? Die Thränen Jesu scheiden die ganze Menschheit und so auch unsere Zahl in zwei sich entgegengesetzte Seiten: die Einen sind die, welche mit Jesu weinen, die Anderen die, über welche er weinet. Darum, lieber Zuhörer, kannst Du nicht mit Jesus weinen, weil in Dir nicht ist der Brunnen der Liebe Jesu, so gehörst Du zu denen, um welche er weinet. Seid ihr aber von denen, welche weinen, wie Jesus weint, weil Eure Liebe verkannt und verschmähet wird, weil Ihr vergeblich arbeitet an Anderer Leibes- und Selenwohlfahrt, so tröstet Euch mit dem kräftigen Troste, daß es Euerm Herrn nicht besser ergangen ist. Aber prüfen müßt Ihr Euch daneben, ob Euer Weinen auch eine Kraft hat zum unermüdeten Fortwirken, oder ob es die Thätigkeit Eurer Liebe auflöset und zum Stillstand bringet. Ihr werdet dabei wohl Alle erkennen, daß Ihr immer noch tiefer und kräftiger zu schöpfen habt aus der Liebesfülle Jesu Christi, damit auch Ihr immer mehr aus jedem Schmerze Eurer Liebe fortgehet von einer Kraft zur andern. Und in dem Maße, als Ihr auch darin Euerm Heilande gleichen werdet, dürfet Ihr auch gewiß sein, daß Euer Weinen eben so wenig vergeblich sein wird, wie die Thränen Jesu. Dann lasset nur stille und heimlich die Thränen Eures Kummers zur Erde rinnen, sie sind eine Saat, welche Euch einst als Erntefreude entgegen kommen wird; denn die mit Thränen säen, werden mit Freuden erndten. (s. Ps. 126, 3.)

Die Ihr aber nicht mit Jesu weinen könnt, sehet, in Euch wohnt die Herzenshärtigkeit, welche Jerusalem einst wüste gemacht hat; darum weinet Jesus über Euch, wie er über Jerusalem geweinet hat. Lasset Euch warnen durch diese Thränen, ehe die Tage Eurer Noth kommen werden. Wenn auch Jerusalem mit seinem Volk im Ganzen und Großen mit verblendeten Augen in den Abgrund seines Verhängnisses gestürzt ist, so gab es doch eine kleine Zahl, welche der Worte und Thränen Jesu eingedenk zur rechten Zeit entkam und dem Verderben der Stadt entging. Die Gemeinde der Christen rettete sich vor der Belagerung Jerusalems nach Pella. Dem Beispiele dieser Gläubigen folget nach, eilt und errettet Eure Seele. Denn wahrlich kommen wird die Verwüstung über jede Seele, welche in eitler Selbstverblendung und eigener Gerechtigkeit und Weisheit vor der Liebe Jesu sich verschließt, kommen wird der Tag der Belagerung und Verhaftung in äußerlicher oder innerlicher Weise, oder wie es meistens geschieht in beiderlei Weise zumal; dann sind die Mauern Deiner Sicherheit gefallen, und Du sitzest wie gefangen und verhaftet, geschieden von aller Hülfe und allem Trost und alle Deine Gedanken und Vorstellungen sind geschlagen mit Angst und Verzweiflung. Ach merke es doch an den Thränen Jesu Christi, wie schrecklich Deine Roth sein wird und habe Erbarmen mit Dir selber, daß Du heute, da Du Gottes Stimme hörest, Dein Herz nicht verstecken mögest. Aber wie sollte ich mir einbilden dürfen, daß es meinem Worte besser ergehen wird, als dem Worte meines Herrn? Viele unter Euch werden mein Wort eben so verachten, wie die Juden das Wort meines Herrn verachtet haben, unsere Zeit haftet viel zu sehr an der Oberfläche, sie ist viel zu sehr hingenommen von der Gewalt des Augenblicks. Die Meisten denken: es ist guter Friede und hat keine Gefahr, und so lange leben sie in diesem Leichtsinne, bis der Fallstrick über sie kommt und dieser verderbliche Leichtsinn findet sich gar nicht selten bei den Mienen strenger Ehrbarkeit und großen Ernstes. Ihr Thoren, so nehmt denn dieses Wort mit auf den Weg Eurer fleischlichen Sicherheit: wenn Ihr erfahren müßt, daß das heilige Wort Gottes sich auch an Euch erfüllet, wie einst an Jerusalem, so bedenket in dieser Eurer Noth, daß noch eine Hülfe für Euch vorhanden ist, nämlich daß Ihr dann, wenn nach Eurer und aller Menschen Meinung Alles vergeblich und verloren ist, der Thränen Jesu eingedenk werdet, die er geweinet hat, als Ihr in lachender Lust und Sicherheit einherginget; und für Euch Alle will ich es von Gott erflehen, daß er, wenn es denn nicht eher sein kann, Euch dann wenigstens, wenn es mit Euch zum Aeußersten gekommen ist, die Augen aufthun wolle für das Werk der Liebe, die mit ihren Thränen auch Eure Sünde und Eure Noth getragen hat, damit Ihr noch am letzten Ende wie ein Brand aus dem Feuer gerissen werden möget. Amen.

Quelle: Baumgarten, Michael - Zeugniß des Glaubens für die Gemeinde der Gegenwart

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