Arndt, Friedrich - Der Sündenfall - Sechste Predigt. Der Schrecken vor sich selbst.

Arndt, Friedrich - Der Sündenfall - Sechste Predigt. Der Schrecken vor sich selbst.

Ach Gott, es hat uns ganz verderbt
Der Aussatz unserer Sünden,
Die uns von Adam angeerbt:
Wo soll'n wir Rettung finden?
Es ist das Elend viel und groß
Und ist vor Deinen Augen bloß,
Wie tief das Herz verdorben.

Amen.

Text: 1 Mose III., V. 7.
Da wurden ihrer Beider Augen aufgetan, und wurden gewahr, dass sie nackt waren, und flochten Feigenblätter zusammen und machten ihnen Schürzen.

Die Eltern eines Kindes wurden von einer Fürstin und deren kleiner Tochter besucht. Nach dem Besuche sprach ihr eigenes Töchterchen zum Vater: Väterchen, bitte, bitte, kauf mir auch ein so schönes weißes Kleid mit goldenen Blumen, wie die kleine Prinzessin hat! Kind, sprach der Vater, das nützt dir nicht, und morgen wirst du es satt haben; du wirst sehen. Das Kind weinte, bat wieder, und ließ nicht ab zu bitten. Der Vater sprach: Wohl, mein Kind, du sollst es haben. Das Kind hüpfte, aß und schlief nicht vor Freude, und konnte den Tag nicht erwarten, da das schöne Kleid ankommen sollte. Der Tag kam. Das Kleid wurde angezogen. Das Kind gefiel sich überaus und war außer sich vor Freude. Des anhaltenden Regens halber blieben Eltern und Kind den ganzen Tag im Hause. Früh am folgenden Morgen bestand das Kind darauf, das Kleid wieder zu tragen. Der Vater bewilligte es. Das Kind wollte mit den Eltern ausgehen. Nein, sprach der Vater, die Wolken drohen baldigen Regen, der Regen wird dein neues Kleid auf immer verderben; bleib du zu Hause. Das Kind blieb, obwohl sehr betrübt. Nachmittags nahmen die Eltern das Kind auf einen Spaziergang mit. Sie trafen mehrere Kinder Blumen im Gras pflückend, und das Töchterchen bat, mitpflücken zu dürfen. Gern, sprach der Vater, aber in deinem schönen Kleid geht es nicht; das Gras ist noch nass, dein Kleid würde verderben. Das Kind weinte und bereute sein anhaltendes Bitten um das Kleid. Väterchen, sprach es, gib mir mein voriges Kleid wieder, ich mag nicht mehr so schön und vornehm gekleidet gehen. Mein Kind, erwiderte der Vater, sagte ich dirs nicht zuvor? -

Geliebte, wer war dies Kind? Waren es nicht Adam und Eva im Paradies, als sie verlangten, Gott gleich zu sein und mit aufgetanen Augen zu wissen, was gut und böse ist? Sind wir es nicht alle, so oft wir sündigen? Beim Kind ließ sich der kindische Fehler bald wieder gut machen, denn es besaß noch sein früheres Hauskleid und brauchte es nur wieder anzuziehen: bei uns aber ist es etwas Anderes, wir haben mit dem Sündenfall die ursprüngliche Gerechtigkeit verloren und können sie hienieden in dem Umfang nie wieder erwerben! Die traurigen Folgen der Sündenfalls machten sich nur zu bald und zu bitter geltend. Zunächst und zu allererst, als ihre Augen aufgetan wurden, bemächtigte sich Adams und Evas ein bis dahin nie gekannter Schrecken, und zwar ein doppelter, ein Schrecken vor sich selbst und ein Schrecken vor Gott. Mit jenem haben es unsere Textworte zu tun, diesen wird uns der Fortgang der Geschichte das nächste Mal vorführen. Wir betrachten demnach den Schrecken der ersten Menschen vor sich selbst:

  1. worüber sie erschrecken und wie ihr Schrecken sich äußert,
  2. wie sie ihn zu beschwichtigen suchen.

1.

Nächst der Erlösung ist der Sündenfall das allerfolgenreichste Ereignis der Weltgeschichte. Die erste dieser vielen Umwandlungen zum Schlimmeren, welche seitdem mit der Menschheit eingetreten sind, ist: „Da wurden ihrer Beider Augen aufgetan“, und es trat ein, was der Teufel ihnen als Erfolg des Genusses von der verbotenen Frucht vorherverkündigt hatte; aber freilich auf ganz andere Weise, als die Menschen es verstanden und erwartet hatten; der Baum, von dem sie gegessen, wurde ihnen wirklich ein Baum des Erkenntnisses Gutes und Böses; sie gewahrten nunmehr deutlich, so bitter und jammervoll wie möglich, das Gute, das sie verloren, wie das Böse, das sie dagegen gefunden hatten; sie erkannten namentlich das Böse, aber nicht, wie Gott es erkennt, als etwas Fremdes und außer Ihm in der Welt Befindliches, aus der freien Höhe des Guten, sondern durch unmittelbare traurige Erfahrung an sich selbst als das größte Übel und als einen Gräuel vor Gott, das Gute aber nur noch aus dem Abgrund des Bösen, in den sie gefallen waren; sie fühlten nun, was sie getan, was Schuld und Sünde sei. Wir wissen ja Alle: die Abscheulichkeit der Sünde ist vor der Tat immer noch verborgen, - das liegt in dem Reiz der Sünde, dieser verblendet den Menschen; wenn der Reiz aber nicht mehr verblenden kann, dann leuchtet ihre Verdammungswürdigkeit grell und schrecklich. So schwarz und hässlich hätten sie sich die Sünde nicht gedacht. Es wurden ihnen daher ihre Augen aufgetan, nicht zu ihrer Freude und zu ihrem Segen, wie bei Abraham, als er 2000 Jahre vor Christo im Geist den Tag des Herrn sah und sich freute, wie bei den Propheten und Aposteln, als sie gewürdigt wurden, Einblicke zu tun in die geheimen Ratschlüsse Gottes und in die Herrlichkeit der unsichtbaren Welt, wie bei Saulus, als es wie Schuppen von seinen Augen fiel und er alsbald in den Judenschulen Christum predigte, dass derselbe Gottes Sohn sei, sondern zu ihrem Unheil und Verderben. „Aber waren sie denn bisher blind gewesen?“ Sie waren es gewesen in Beziehung auf ihr sinnliches Sehen. Ihr sinnliches Sehen war bisher geistlich bestimmt gewesen, sie hatten in allem Sinnlichen Gott gesehen und Alles auf Ihn bezogen, alles Sinnliche hatte für sie einen offenen Hintergrund und eine Decke gehabt, und dieser Hintergrund war Gott, diese Decke war Gottes Herrlichkeit gewesen. Jetzt aber, da ihrer Beider Augen aufgetan waren, wurden sie gewahr, dass sie nackend waren.

Merkwürdiger Umstand! „Waren sie denn das nicht vorhin auch schon gewesen?“ Allerdings; aber sie hatten einmal bis dahin ihre Nacktheit und Blöße mit Augen der Unschuld und Einfalt angeschaut, und Paulus sagt Titus 1,15.: „Den Reinen ist Ales rein, den Unreinen aber und Ungläubigen ist nicht rein, sondern unrein ist Beides, ihr Sinn und Gewissen“, jetzt dagegen sahen sie sie an mit unreinen Augen, nicht ohne böse und unordentliche Lüste; da ward ihnen denn ihre natürliche Blöße anstößig. Sodann müssen wir aus den Worten: „Welches Tages ihr davon esst, werdet ihr des Todes sterben!“, folgern, dass, wenn die Menschen nicht vom Baum der Erkenntnis gegessen hätten, sie auch nicht gestorben wären, mithin ihr Körper ursprünglich unsterblich gewesen war, - jetzt war ihr Leib dieser anerschaffenen Unsterblichkeit beraubt und in einen nichtigen, aller Gebrechlichkeit und Krankheit und zuletzt dem Tod unterworfenen Körper umgewandelt. Endlich müssen wir aus den Verheißungsworten des Neuen Testamentes, dass der Herr dereinst unseren nichtigen Leib verklären werbe, dass er ähnlich werde seinem verklärten Leib, die Folgerung ziehen, dass der ursprüngliche Leib ein herrlicher, mit einem besonderen Lichtglanz, einer äußeren, dem inneren göttlichen Ebenbild entsprechenden hellen Bekleidung versehen gewesen sei, dieser seiner ursprünglichen Schönheit und Herrlichkeit war durch die Sünde ihr Leib beraubt, statt des reinen, verklärten Leibes, der des Anschauens Gottes fähig war, ihm ein finsterer, bloß des Anschauens der Scheinwelt fähiger Leib gegeben worden, und das wurden sie jetzt mit Schrecken gewahr. Zugleich aber wurden sie mit noch größerem Schrecken inne, dass auch ihre Seele nackt und bloß war, entkleidet ihrer anerschaffenen Reinheit und Unschuld, Heiligkeit, Gerechtigkeit und Gottähnlichkeit. Sie hatten sich losgetrennt von Gott: damit war das Licht, das ihnen in seiner Gemeinschaft geleuchtet, erloschen, die Freude ihres paradiesischen Zustandes untergegangen, der Himmel, den sie in ihrem Herzen getragen, verschwunden, die heilige Richtung auf Gott, die vom Morgen bis zum Abend ihre Wonne gewesen, ihnen abhanden gekommen, und sie fühlten sich nun vor Gott und Engeln geschändet, der Verachtung und den Vorwürfen des Himmels und der Erde und ihres eigenen Gewissens bloßgestellt, sich selber den Mächten der Finsternis preisgegeben und gefangen in der Knechtschaft von allerlei bösen Lüsten und sündlichen Leidenschaften, welche, nunmehr erwacht, sich immer mächtiger und mächtiger zu regen begannen. Hatten sie auch noch das göttliche Ebenbild: es war doch entsetzlich befleckt, es war so gut wie verloren, wie ein stark angehauchter Glasspiegel oder ein mit Rost überzogener Metallspiegel so gut wie kein Spiegel mehr ist, weil er das menschliche Antlitz nicht mehr rein wiederstrahlt, oder wie wenn ein Spiegel umgekehrt mit seiner Kehrseite vor uns hingestellt wird, der Spiegel allerdings vorhanden ist, aber so, dass wir nur seine dunkle, nicht seine Lichtseite erblicken. Das Herz war noch da, in welchem Gott mit seinem Geist, mit seiner Liebe und mit seinem Frieden gewohnt und geleuchtet hatte; aber dieser Gottesgeist, dieses Gefühl des göttlichen Wohlgefallens und göttlichen Einsseins, welches das Paradies im Paradies ausmachte, und Leib und Seele verklärend auf ihren Augen, ihren Gebärden, ihrer ganzen Gestalt hervorstrahlte, diese innere Sonne der göttlichen Herrlichkeit war untergegangen; sie erblickten, wohin sie schauten, nach innen und nach außen, nichts als Armut und Blöße, Schmach und Schande; ihr innerstes Wesen war umgekehrt, ihre Seele war nun versinnlicht und verweltlicht. Vorbei war es mit jenem reinen unbefangenen Anschauen Gottes und jener kindlichen Unschuld, in der sie gewandelt hatten vor Gott: wie waren sie doch so reich und selig gewesen, so nahe mit Gott verwandt, Sein Bild und Seine Lust, die Krone aller Geschöpfe auf Erden! Und nun von Ihm geschieden, ihr Geist der gewaltigen Riesenmacht der Fleisches unterworfen, ihr Fleisch nicht nur schwach geworden, sondern widerstrebend dem Geist, und alle Gottesgaben in der Natur, statt ihnen Leitern zum Himmel zu werden, Fallstricke zu neuen Sünden; kurz, ihr ganzes Wesen, Leib, Seele und Geist im höchsten Grad zerrüttet und untereinander zerrissen und zerfallen.

Geliebte, welch ein Betrug der Sünde! So lohnt sie aber Jeden, der ihrer Stimme Gehör gibt und ihren Vorspiegelungen seine unsterbliche Seele verkauft. Statt uns zu geben, was sie verspricht, nimmt sie uns, was wir noch haben, und was sie uns lässt, erfüllt uns mit unsäglichem Weh. Wann hätte je ein Mensch in der Sünde das gefunden, was er in ihr gesucht? Wann hätte je Einer ein Unglück auf die Dauer abgewendet durch eine offenbare Unwahrheit und Lüge, oder einen bleibenden Vorteil sich verschafft durch Begehung eines Unrechts, eine wirkliche Freude sich erworben auf Kosten seines Gewissens, eine wahrhaftige Ehre durch bloßes Scheinen und Heucheln? Wie das Alles auch im Anfang und eine Zeit lang Fortgang haben mag, zuletzt heißt es: „Wie gewonnen, so zerronnen, unrecht Gut gedeiht nicht und kommt nicht an den dritten Erben, Hochmut kommt vor dem Fall, Untreue schlägt den eigenen Herrn, wer Andren eine Grube gräbt, fällt selbst hinein, es ist nichts so fein gesponnen, es kommt doch endlich an die Sonnen“. Zuletzt hat die Schrift doch recht, wenn sie lehrt: „Tue nichts Böses, so widerfährt dir nichts Böses; womit Jemand sündigt, eben damit wird er gestraft“. Der Satan macht es mit seinen Knechten wie der betrügerische Spieler mit den jungen, unerfahrenen Anfängern im Spiel; er lässt sie anfangs gewinnen, damit sie, berauscht vom Gewinn, immer höher setzen und immer leidenschaftlicher spielen, bis sie nicht nur das Gewonnene, sondern all ihr Eigentum, Haus und Hof, Leib und Leben, ja die unsterbliche Seele dazu verspielt haben.

Was hatten Adam und Eva vom Genuss der verbotenen Frucht? Sie hofften eine Bereicherung ihres Lebens, und wurden darüber eine Beute des Todes. Sie wollten durch ihre Übertretung Gott gleich werden, und verloren das durch Gottes Ebenbild. Sie suchten höhere Klugheit und Erkenntnis auf dem Wege der Sünde, und legten dadurch den Grund zu ihrer Kinder unermesslichen Verblendung. Was hatte Judas der Verräter von seinen dreißig Silberlingen? Nichts, als einen Strick zum Hängen. Und wie Viele haben, nachdem sie, wie er, den Betrug der Sünde erfahren hatten, auf gleiche Weise, wie er, ihr Leben geendet! O lass dich darum warnen vor der Sünde und ihren großen Versprechungen und heiligen Beteuerungen, traue der Lügnerin und Mörderin nicht, höre vielmehr den Ruf der Weisheit und Erfahrung: „Mein Kind, fleuch vor der Sünde wie vor einer Schlange; denn so du ihr zu nahe kommst, so sticht sie dich; ihre Zähne sind wie Löwenzähne und töten den Menschen; eine jegliche Sünde ist wie ein scharf Schwert und verwundet, dass Niemand heilen kann“ (Sirach 21,24.). Folge ihren Dienern und Anhängern nicht, sie sind blinde Leiter von Blinden, die samt denen, die ihnen folgen, in die Grube fallen. Halte es vielmehr mit dem Herrn, der es treuer mit dir meint als Sünde und Welt, der Seine Worte ewig hält und noch nie Jemanden getäuscht hat, der sich auf Ihn verließ!

Adam und Eva lernten an der äußeren Nacktheit ihres Leibes die innere Blöße ihrer Seele kennen: gerade so geht es noch immer bei der Selbsterkenntnis zu, sie fühlt erst das äußere Leiden, dann aber steigt sie an der Leiter des äußeren zur Erkenntnis des inneren Seelenleidens empor; erst die Krankheit des Körpers, dann die Krankheit der Seele; erst die Schande vor der Welt, dann die tiefere Schande vor Gott; erst den Verlust an Geld und Gut, Achtung und Freiheit, dann den Verlust an Gott und dem Himmel. Eben darum sendet uns der Herr die äußeren Leiden im Leben, damit wir an und in ihnen unseren inneren Schaden kennen lernen, und dann zu dem Arzt gehen, der von allen Schäden Leibes und der Seele heilen kann.

Adam und Eva lernten sich zunächst in einem Stück kennen, in ihrer körperlichen Blöße; das war dann der Anfang zur Erkenntnis ihrer selbst in allen Stücken. Gerade so kommt auch bei uns allemal die Selbsterkenntnis zu Stande. Sie beginnt mit der Erkenntnis einer einzigen Sünde, vielleicht unserer Schoß- und Lieblingssünde, jedenfalls derjenigen, die uns elend gemacht und ins Verderben gestürzt hat; sind wir aber dadurch erst uns unserer Schuld bewusst geworden, so tauchen alsbald auch andere, längst vergessene Sünden in unserem Gedächtnis auf, und wir erkennen unser ganzes sündliches Verderben von Grund auf, unsere von Gott abgewendete Geistesrichtung, die eigentliche Wurzel aller unserer Sünden, und halten uns unwert jeder Gnade und Wohltat. Wohl uns, wenn wir zu solcher gründlichen Selbsterkenntnis emporgestiegen sind und nicht mehr an einzelnen Schwächen und Fehlern haften, und aber sonst für gut und vortrefflich ausgeben, sondern den Stab über unser Herz und Leben brechen, aufrichtig Buße tun, und uns zu dem Herrn bekehren!

Adam und Eva fühlten Scham über ihre äußere und innere Nacktheit, und dies Schamgefühl, welches noch immer nach der Sünde erwacht, ist ein heiliges Zeichen unserer Schuld, unserer Gebundenheit und Gefangenschaft, dass wir Knechte des Fleisches sind durch die Sünde. So lange uns Gottes Gebot heilig und die Stimme unseres Gewissens unverletzlich ist, so lange können wir jedem frei unter die Augen treten und brauchen keinen Blick und keine Frage zu scheuen. Haben wir aber gesündigt, dann hört diese Unbefangenheit auf, der Blick ist verwirrt, das Angesicht wird überzogen mit einer dunkelroten Glut, wir schämen uns vor uns selbst und vor Anderen, wir möchten uns verbergen, dass kein Auge uns sähe, wir fürchten: Jeder sieht uns an und liest auf unserer Stirn die Missetat, die wir begangen haben. Und doch wohl dem, der noch erröten kann! Er ist noch zu retten, er hat noch Ehrgefühl in seiner Brust, und die Gnade kann bei ihm noch anknüpfen. Das Schamgefühl ist nicht nur das Zeichen unserer Schuld, sondern auch das Zeugnis unseres edlen Ursprungs, eine Verkörperung unseres Gewissens, ein Heilmittel gegen die Sünde und die erste Gegenwirkung gegen die Macht des Bösen, wodurch der Mensch, wenn er es nicht überwinden kann, ihm wenigstens zu entfliehen sucht; kurz, eine große Gottesgnade, durch welche wir zum lebendigeren Bewusstsein unserer Schuld, und dadurch zur Sehnsucht nach Dem kommen, der für uns erschienen ist auf Erden, zu retten und selig zu machen, was verloren ist. Selbst die Heiden sagten: „Seine Sache steht wohl, er ist rot geworden“. Hat der Mensch erst diesen zarten Sinn für Tugend und gute Sitte, für Recht und Unrecht verloren, kann er nicht mehr vor einer unlauteren Handlung, geschweige vor einem unreinen Gedanken erröten, dann hat er sich selbst weggeworfen und seine Rettung erschwert. Ist er vollende bis zur Schamlosigkeit herabgesunken und kann er in seiner Lasterhaftigkeit und Frechheit sich hinwegsetzen über das Urteil aller edlen, gebildeten und frommen Menschen, hält er in seinem verkehrten Wahnsinn gar das Ekelhafte für reizend, das Lasterhafte für liebenswürdig, das Widernatürliche für natürlich, Frömmigkeit und Sittlichkeit für Vorurteile und Ziererei, kann er sogar prahlen mit seiner Schande und sich des Schlechten rühmen wie eines Triumphes, wie ein Züchtling1), der sich seiner Ketten freut und sie gern vor den Menschen sehen lässt, dann hat der Satan von seiner Seele Besitz genommen und an eine Rückkehr zum Leben ist kaum noch zu denken. Pflegt darum dieses Gefühl, ihr Eltern und Erzieher, in den Herzen eurer Kinder und Schüler, und stellt es als einen Schutzengel vor sie hin, der sie bewahre vor Versuchung und Fall! Dies Schamgefühl ist die Grundlage der Scham der Buße vor Gott, jener göttlichen Traurigkeit über unsere Sünden, die da wirkt zur Seligkeit eine Reue, die Niemand gereut, aber auch zugleich die Bewahrung vor jener ewigen Schande und Beschämung, welche am jüngsten Tag alle Ungläubigen und Gottlosen treffen wird.

II.

Kaum sind Adam und Eva gewahr geworden, dass sie nackt sind, da denken sie auch auf Mittel, sich zu verhüllen, um gegen das Schamgefühl sich zu waffnen; sie flochten Feigenblätter zusammen, vielleicht jene großen, starken Pisangblätter2), die noch heute im Morgenland als Matten, Tischtücher, zum Einpacken und zu anderen Zwecken gebraucht werden, - und machten sich Schürzen oder Gürtel. Sie bedurften jetzt der Kleider, wie wir seitdem alle ihrer bedürfen, und an ihnen eine beständige Erinnerung haben, dass wir die ursprüngliche Würde, den anerschaffenen Glanz der Unschuld und Seligkeit verloren haben. Sollten sie aber bloß zur Bedeckung für ihren Leib Feigenblätter gesucht haben? nicht auch für ihre Seele? Die folgende Geschichte zeigt uns nur zu deutlich in ihren Entschuldigungen und Selbstrechtfertigungen die gleichen Feigenblätter der Seele. Ach, wie Adam und Eva fehlt es auch uns an solchen bedeckenden Blättern nicht! Wir sind einmal mehr darauf bedacht, unseren guten Ruf, Kredit und Namen vor den Menschen zu retten, als von Gott Vergebung zu erlangen, und, wie wir langsam sind im Bekennen unserer Sünde, so sind wir nur zu eilig darin, sie zu verbergen. Anstatt die rechten Kleider des Heils und den Rock der Gerechtigkeit Jesu Christi anzuziehen, anstatt durch die Scham uns zur Buße, und durch die Neigung zum Verhüllen uns zum Glauben an Sein Blut und Seine Wunden leiten zu lassen, anstatt in Kraft dieses göttlichen Verdienstes auszurufen: „Wohl dem Menschen, dem die Übertretungen vergeben sind, dem die Sünde bedeckt ist, dem der Herr die Missetat nicht zurechnet, in des Geist kein Falsch ist“, und anstatt diese haltbaren Felle so lange zu tragen, bis wir zu jenen weißen Kleidern reif sind, die Gott Seinen Kindern für den Himmel vorbehalten hat, treiben wir, in Adams Fußtapfen tretend, von der Wiege bis zum Sarg jenes erste Handwerk fort, das der Mensch gelernt hat, das leidige Schürzenmachen. Worin bestehen aber jene geistigen Feigenblätter, mit denen wir unsere Sündengräuel bedecken und schmücken, um sie zu vergessen und uns gegen ihre Anklagen zu schützen? Es sind bald die Lügen und Ableugnungen, die Ausflüchte und Beschönigungen, zu denen wir unsere Zuflucht nehmen; bald die Zerstreuungen und Eitelkeiten, Äußerlichkeiten und Verweltlichungen, in deren Strudel wir uns hineinstürzen; bald der Anstrich des Anstandes und der guten Sitte, der Bildung und bürgerlichen Rechtlichkeit, mit dem wir unsere geheimen Sünden wie mit einem Firnis übertünchen; bald unsere sogenannten Tugenden und guten Werke, die nicht von innen heraus, aus dem Glauben und dem neuen Menschen, kommen, sondern die wir uns nur von außen anhängen; kurz, das ganze Geflecht und Gewebe der Kleider der eigenen Gerechtigkeit, mit welchem wir uns verhüllen; nicht selten auch, wie bei Israel die äußeren Opfer, so bei uns das äußere Kirchengehen, Predigthören, Bibellesen, Beten und Almosengeben, statt der aufrichtigen Sinnesänderung und Sündentilgung vor Gott. Das alles sind lauter selbstgemachte und aus natürlichen Stoffen gewirkte Feigenblätter. Ja, was ist jede Sucht, anders und besser zu scheinen, als wir sind, und den Andren unser wirkliches Innere zu verbergen, was ist selbst die Sucht, den sterblichen Leib mit Kleidern und kostbaren Stoffen zu zieren, anders, als ein Feigenblatt, das unser wahres Innere soviel wie möglich umhüllen soll? - Aber was helfen alle diese künstlichen Blätter vor den allsehenden Augen Gottes, die da leuchten wie die Feuerflammen und Herzen und Nieren erforschen? Er schaut durch alle Verhüllungen und Gürtel hindurch bis ins verborgenste Innerste; und wie lange währt es, so sind die Blätter dürr geworden und die Winde treiben mit ihnen ihr Spiel, und was Gott schon immer offenbar gewesen, wird dann auch den Engeln und den Menschen offenbar. Der verlorene Schmuck der göttlichen Ebenbildes wird durch alle jene Bedeckungen nicht wieder ersetzt; wir machen im Gegenteil unsere Sache vor dem Herrn nur schlimmer, statt sie zu verbessern! Und doch, wie vergeblich auch alles Feigenblattflechten und Gürtelmachen der Art ist, - wir dürfen es nicht verschweigen, es liegt auch darin noch eine Gnade Gottes und ein greller Unterschied unseres Zustandes von dem Zustand Satans; denn dieser trägt seine Tat offen zur Schau und schämt sich ihrer nicht, sondern freut sich derselben.

Stehen wir hier zum Schluss unserer heutigen Betrachtung still, der Gedanke liegt uns, wie den ersten Menschen, nahe: Wer hätte das gedacht, als die Schlange ihr Gespräch mit Eva anfing, dass es so enden würde? Nach jeder Sünde erhebt sich dieselbe Frage. „Wer hätte das gedacht?“ fragt das Kind, wenn es sich zum Ungehorsam gegen Eltern oder Lehrer hat verleiten lassen und nun seine Augen nicht aufzuheben vermag, weil es sich seines Unrechts schämt. „Wer hätte das gedacht?“ fragt der Jüngling und die Jungfrau, wenn sie durch Genüsse der Sinnlichkeit und Ausschweifungen ihre Tugend und Unschuld verloren haben und ihr körperliches Hinsiechen sie täglich zur Rede stellt. „Wer hätte das gedacht?“ fragt Mann und Frau, wenn sie durch die Not oder durch Leichtsinn die Hand nach dem unrechten Gut ausgestreckt haben, darüber ertappt und zur Verantwortung gezogen werden. „Wer hätte das gedacht?“ fragt nicht selten der Greis auf dem Sterbelager am Ausgang eines verlorenen und vergeudeten Lebens. O lasst uns vor der Tat bedenken, was zu unserem Frieden dient! Lasst uns Sirachs Rat beherzigen: „Was du tust, so bedenke das Ende, so wirst du nimmermehr Übles tun“ (7,40.). Klar genug warnt Gottes Wort, Gewissen, Erfahrung, Geschichte (Röm. 6,20-23.): „Da ihr der Sünde Knechte wart, da wart ihr frei von der Gerechtigkeit. Was hattet ihr nun zu der Zeit für Frucht? Welcher ihr euch jetzt schämt: denn das Ende derselbigen ist der Tod. Nun ihr aber seid frei von der Sünde und Gottes Knechte worden, habt ihr eure Frucht, dass ihr heilig werdet; das Ende aber das ewige Leben. Denn der Tod ist der Sünde Sold; aber die Gabe Gottes ist das ewige Leben, in Christo Jesu, unserm Herrn.“ Amen.

1)
Zuchthäusler
2)
Bananenblätter
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