Arndt, Friedrich - Das Vaterunser - Die fünfte Bitte.

Arndt, Friedrich - Das Vaterunser - Die fünfte Bitte.

Vergieb uns unsere Schulden, wie wir vergeben unsern Schuldigern.

Die drei letzten Bitten des Vater Unser beziehen sich auf den Anfang, den Fortgang und den Ausgang des geistlichen Lebens. Indem wir sie beten, bekennen wir nicht nur unsere Bedürfnisse, sondern auch unsere Schuld, Gefahr und Noth. Sind diese hinweg geräumt und überstanden, dann ist uns Gott Alles in Allem, und es erfüllen sich die drei ersten Bitten. Sein Name wird geheiliget, Sein Reich kommt und Sein Wille geschieht auf Erden wie im Himmel - An der Spitze der Bitten um geistliche Güter im Vater Unser steht die Bitte um Vergebung, denn der erste Blick, den wir in uns selbst thun, fällt auf unser bisheriges Leben, und unser bisheriges Leben, das können wir nicht läugnen, war reich an Schulden. Es lautet daher die fünfte Bitte: Vergilb uns unsere Schulden, wie wir vergeben unsern Schuldigern. Wir fragen: 1) was fordert uns auf zu diesen Gebet? 2) wozu fordert dies Gebet uns wieder auf?

1.

Zweierlei fordert uns auf zu der Bitte: Vergieb uns unsere Schulden; einmal das Bewußtsein unserer tiefen Verschuldung, dann die Unmöglichkeit, uns selbst aus eigenen Kräften davon zu befreien. Aber indem wir das aussprechen, treten wir zugleich unwillkührlich den beiden Haupteinwürfen entgegen, welche der natürliche Hochmuth des menschlichen Herzens zu machen pflegt.

Nämlich zunächst dem Einwurf: „Wie kann Christus, der als der Sohn Gottes die Menschen auch kennen muß, sie Alle auf gleiche Weise beten lehren: Vergieb uns unsere Schulden, ohne auch nur den geringsten Unterschied zwischen ihnen festzuhalten, und gute und schlechte, ehrbare und gottlose Menschen, Heilige und Verbrecher damit in eine Klasse hineinwerfen? Unsere Schwächen und Fehler, selbst unsere Sünden haben wir allerdings, aber Schulden keineswegs; damit macht Er uns ja alle geradezu zu Verbrechern!“ Nun, gesetzt, der Unterschied wäre wirklich vorhanden, wir wären unbescholten und ehrbar vor Gott: sind wir da nicht Alle verschuldet und kann, wo es sich einmal von Schulden wirklich handelt, noch ein großer Unterschied geltend gemacht werden zwischen leichten und schweren, feinen und groben Schulden? muß es da nicht immer heißen, auch bei den Besten und Heiligsten: „Vergieb uns unsere Schulden?“ Gerade die Besten und Heiligsten, die Gläubigen, lehrt der Herr also beten im Vater Unser. Denn es ist durch und durch ein Gebet für Gläubige; gerade die Besten und Heiligsten stimmen am bereitwilligsten in dies Gebet ein. Es muß aber auch bei Allen so heißen, da wir Alle nicht leicht, sondern schwer verschuldet sind vor Gott. - Fragen wir den Richter in unserer Brust, das Gewissen: spricht es uns frei? Wenn wir die zehn Gebote durchgehen, eins nach dem andern; wenn wir nicht blos ihre äußerlich buchstäbliche, sondern ihre innere, geistige Auffassung berücksichtigen; wenn wir die Triebfedern und Bewegungsgründe unserer Handlungen auf die Wagschale legen, wenn wir die Selbstprüfung vor Gottes, des Allwissenden und Heiligen, Angesicht anstellen, wie wir sie einst vor seinem Richterthron anstellen werden; wenn wir endlich das Wort beherzigen: „So jemand das ganze Gesetz hält und sündiget an einem, der ist's ganz schuldig, und verflucht ist, wer nicht hält alle Worte des Gesetzes, daß er danach thue:“ wie? spricht es uns frei? Fragen wir die Menschen um uns her, was sie an uns auszusetzen, zu tadeln, uns vorzuwerfen haben, lassen wir uns erzählen, was sie hinter unserm Rücken in den Gesellschaften zu Andern von uns reden: wie? werden wir uns von allem dem freisprechen können, dessen sie uns anklagen? Wie oft können wir in der Lage sein, uns für unschuldig zu achten, und haben doch, vielleicht selbst gegen unsere ausdrückliche Absicht, unserm Nächsten Unrecht gethan und ihm das Herz zerrissen! Niemand sage: „Menschen dürfen meine Richter nicht sein, denn sie können nicht ins Herz hineinsehen, und für Aergernisse, die sie an mir nehmen, ohne daß ich sie ihnen gebe, bin ich nicht verantwortlich.“ Denn was sie von uns sagen und setzen, bestätigt ein anderes Gericht, das uns wirklich ins Herz hineinschaut und uns darstellt, wie wir sind, das göttliche Wort in der Schrift. Die Bibel nämlich erklärt alle Menschen für Sünder ohne Ausnahme und Unterschied, sie spricht: „Es ist hier kein Unterschied, sie sind allzumal Sünder und mangeln des Ruhms, den sie vor Gott haben sollten.“ (Röm. 3, 21.); ja, sie erklärt Alle für große Sünder, denn sie versichert: „Gott hat es alles beschlossen unter den Unglauben,“ welches die größte Sünde und die Mutter aller Sünden ist; sie sagt: „Da ist nicht, der gerecht sei, auch nicht Einer; da ist nicht, der verständig sei; da ist nicht, der nach Gott frage; sie sind alle abgewichen und allesammt untüchtig worden, da ist nicht, der Gutes thue, auch nicht Giner.“ (Röm. 3, 10-12.) Sie geht sogar so weit, daß sie alle Menschen für Sünder erklärt, nicht etwa um einiger weniger Sünden willen, sondern sie macht alles ihr eignes Thun zur Sünde; ihre Worte- „Ihr Schlund ist ein offen Grab, mit ihren Zungen handeln sie trüglich, Otterngift ist unter ihren Lippen, ihr Mund ist voll Fluches und Bitterkeit“ (Röm. 3, 13. 14.); ihre Herzen: „Es ist das Herz ein trotzig und verzagt Ding, wer kann es ergründen? (Jer. 17, 9.); das Dichten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf; ihre Vernunft: „Der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geiste Gottes, es ist ihm eine Thorheit und kann es nicht erkennen, denn es muß geistlich gerichtet sein“ (Ephes. 2, 3. 1. Cor. 2, 14.); kurz, den ganzen Menschen nach allen seinen Thaten und Kräften, von der Fußsohle bis aufs Haupt. Reiche und Arme, Gebildete und Ungebildete, Gerechte und Verbrecher, Fürsten und Bettler, alle ohne Unterschied nennt Gottes Wort Sünder; und Gott achtet unsre Sünden groß, wer wollte sie noch für klein ausgeben? Noch mehr, gehen wir in eine Kirche und treten vor den Altar: woran erinnern uns seine Kerzen, sein Kreuz und das Nachtmahl, welches an demselben gefeiert wird? An jene Nacht, in der Jesus verrathen wurde, an jenen Tag, an welchem Er sein Haupt neigte und verschied. Und warum wurde Er verrathen, warum wurde Er gekreuzigt? Wegen unserer vielen und schweren Sünden! Aber gab es denn kein anderes Mittel der Versöhnung? Nein, in allen Himmeln keines, in allen Höllen keins, in allen Welten keins; nur Ein Mittel gab es, Tod und Blutversühnen des eingebornen Sohnes Gottes, des allein Reinen für die Unreinen. Wäre ein anderes Mittel da gewesen, Gott hätte es nicht unbenutzt gelassen; aber es war kein anderes da, und wird kein anderes sein in alle Ewigkeit. Wie groß müssen also unsere Sünden sein, da sie solches Opfers bedurften, und wie ruft uns der Altar des Herrn, so oft wir ihn anblicken, zu: Ihr seid schwere Sünder vor Gott! Gehen wir hinaus auf den Kirchhof, da reiht sich ein Todtenhügel an den andern, und der Tod gleicht alle Unterschiede wieder aus. Warum setzt er so alle Unterschiede der Menschen aus den Augen? Weil dem Wesen und der Wirklichkeit nach kein Unterschied unter ihnen besteht, sondern Alle Sünder sind; denn der Tod ist der Sünden Sold. Und selbst die Kirche, diese heilige Stätte, in der nur heilige Gedanken und Handlungen uns beschäftigen sollten, wird sie nicht oft schmählich entweiht? Wie oft wird hier das Abendmahl, nicht zum Segen, sondern zum Gericht gehalten! Wie oft haben hier Verlobte Liebe und Treue bis in den Tod einander zugeschworen, und sind dann hingegangen und haben ihre Schwüre gebrochen! Wie oft wird das Ja ausgesprochen beim Sacrament der heiligen Taufe und im Herzen glaubt man entweder gar nicht, was man betheuert, oder doch nicht recht und ganz! Wie oft hören wir die Predigt an, nicht um uns zu erbauen und dem göttlichen, Worte zu unterwerfen, sondern um zu makeln und zu richten! Wie selten, vielleicht nie, beten wir das Vater Unser mit gesammelter Seele, ohne störende Gedanken! Und wir wollen uns noch sträuben, unsere Schulden zu bekennen? wollen uns noch entschuldigen, noch leugnen, noch ausschließen von der allgemeinen Verderbniß? wollen noch in einem Stücke zufrieden mit uns selbst sein und Wunder was darauf einbilden, daß wir solche gute und vortreffliche Menschen sind? Nein, nein, wir sind Alle Sünder, Alle Schuldner, Alle Majestätsverbrecher gegen Gott, und müssen, wenn wir aufrichtig sein wollen gegen uns, den Stab brechen über uns selbst.

Aber da erhebt sich ein neuer Einwurf: „Zugegeben, wir sind Sünder, so folgt daraus noch nicht, daß wir bitten müssen alle Tage um Vergebung; es ist genug, daß wir sie einsehen und ablegen, wir vergeben uns unsere Sünden selbst.“ Fürchterlicher Wahn! Die Schrift sagt: „Kann doch ein Bruder niemand erlösen, noch Gott jemand versöhnen; denn es kostet zu viel, ihre Seele zu erlösen, daß er's muß lassen anstehen ewiglich“ (Ps. 49. 8. 9.); und wir wollen uns selbst vergeben? Die ganze Menschheit fühlt die Unmöglichkeit, sich selbst zu helfen und bringt Opfer über Opfer zur Sühnung; und wir wollen uns selbst vergeben? Der Vater sendet seinen eingebornen Sohn in die Welt, laßt Ihn leiden, bluten, sterben; der Allwissende im Himmel weiß kein anderes Mittel, als das, daß Er den Sohn seiner göttlichen Gestalt beraubt, in die Hände der Sünder dahingiebt, und Ihn sinken läßt tief hinunter in des ewigen Todes Anfechtung und Tage lang in den zeitlichen Tod; der Sohn sendet wieder seine Apostel aus in alle Welt mit der Botschaft, Buße und Vergebung der Sünden zu predigen unter allen Völkern, und an Christi Statt zu bitten: „ laßt euch versöhnen mit Gott;“ Er stiftet das Amt, das die Versöhnung predigt, Er setzt das heilige Abendmahl ein zur Versiegelung der Vergebung unserer Sünden, Er baut die Kirche auf das Blut seiner Märtyrer; das Alles thut der Herr zu unserer Erlösung: und wir könnten, wir wollten uns selbst vergeben? Und womit soll das geschehen? Mit Almosen, mit guten Thaten, mit Aufopferungen der Liebe, mit Leiden und Nutzungen - das fühlen wir wohl - kann es nicht geschehen; das Alles zusammengenommen ist unvermögend, eine einzige, geschweige alle Sünden wegzunehmen. Womit soll es also geschehen? Mit Nichts! Eigenmächtig wollen wir uns vergeben, ohne die geringste Sühnung, mit dem bloßen Leichtsinn unseres Herzens, mit dem bloßen Gedanken unseres Verstandes; wollen darüber stillschweigend hinweggehen, als verstände sich das bei Gottes allumfassender Liebe und Barmherzigkeit von selbst. O wir leichtsinnigen Menschen, die wir mit dem Allmächtigen spielen! David, als ihm Nathan Vergebung im Namen Gottes angekündigt, konnte sich selbst nicht vergeben, was er gethan hatte; er warf sich nieder und schrie: „Gott, sei mir gnädig nach Deiner Güte und tilge meine Sünden nach Deiner großen Barmherzigkeit, denn ich erkenne meine Missethat, und meine Sünde ist immer vor mir; an Dir allein habe ich gesündigt, und Uebel vor Dir gethan“ (Ps. 51.); Johannes schreibt: „So uns unser Herz schon verdammt, so ist Gott doch noch größer als unser Herz und erkennt alle Dinge“ (l. Joh. 3, 20.), sagt also zugleich, daß damit, daß wir selbstzufrieden geworden sind, Gott noch nicht zufrieden mit uns geworden ist und hunderte von Menschen, die ihr ganzes Leben in Sicherheit zugebracht hatten, bestätigten die Wahrheit seiner Aussage durch ihre letzten Augenblicke, in denen aller jener selbstgemachte Trost nicht Stich halten wollte und ihr Herz nicht mehr im Stande war, sich den Trost der Gnade Gottes zuzueignen, sondern unter den entsetzlichsten Schmerzen der Verzweiflung brach: und wir wollten im Angesicht aller dieser Zeugen bei der Behauptung bleiben, der Mensch könne sich selbst seine Schulden erlassen ohne Bezahlung? Was würden wir von denjenigen eurer Brüder denken, die uns Geld schuldig wären, sobald sie diesen Grundsatz gegen uns geltend machen und uns nimmer bezahlen wollten, unter dem Vorwande, sie hätten sich selbst schon die Schulden gegen uns erlassen? Was würden wir von unsern Kindern halten, die sich schwer gegen uns vergangen haben und uns nicht um Verzeihung bitten wollten, in der Meinung, sie könnten sich selbst vergeben, so etwas verstände sich von selbst? Nicht wahr, wir würden schaudern, wir würden die Hände zusammenschlagen über solche Frechheit und Verwegenheit? und gegen Gott wagten wir nichts desto weniger, dasselbe Unrecht als Recht geltend machen zu wollen? - Doch die Menschen wissen ein Auskunftsmittel zu ihrer Rechtfertigung, sie entgegnen; „Ja, mit Gott ist's aber auch etwas anderes, denn Gott kann nie beleidigt werden durch unsere Sünden; Er ist viel zu erhaben, als daß wir durch unsere Vergehungen seine Ehre beeinträchtigen, und viel zu groß und gütig, als daß Er uns so etwas zurechnen und nachtragen sollte.“ Allerdings verliert Gott nichts an seiner Ehre durch unsere Sünden, so wenig wie ein König der Erde verliert, wenn irgend ein niedrig gesinnter Mensch unter seinen Unterthanen sich erfrecht, seine von Gott ihm gegebene Majestät zu lästern und zu verunglimpfen; der König bleibt darum König, und Gott bleibt darum Gott. Aber ist von der andern Seite nicht doch immer das rechte Verhältniß gestört, welches zwischen dem Könige und seinem Unterthanen Statt finden konnte? kann letzterer die Wohlthaten genießen, die ihm sein König unter andern Umständen gern gewähren möchte? Und wenn nun ein Mensch gegen Goll durch seine Sünden sich auflehnt, wenn er Ihm Ehrfurcht und Gehorsam versagt, wenn er Gottes Liebesherrschaft über sich so viel wie möglich beeinträchtigt, hindert, aufhebt, vernichtet: so wird freilich dadurch die Ohre und die Seligkeit Gottes nicht im mindesten verkürzt, weil Er die Seligkeit in und durch sich selbst ist; aber nichts desto weniger bleibt die Sünde immer eine Empörung gegen Gott, ein Widerspruch gegen seine Wahrheit, Würde und Liebe, und solchen Widerspruch kann unmöglich der unwandelbare heilige Wille Gottes als etwas Gleichgültiges dahin gehen lassen. Denn Gottes Nichtkenntnißnahme von der Sünde der Menschen wäre eine Bestätigung der Sünde; im Gegentheil, Er muß diesem Widerspruch widersprechen, und dieser Widerspruch Gottes gegen den Widerspruch des Menschen ist eben der Zorn Gottes, und das Gefühl, das Bewußtsein dieses Zorns im Herzen ist eben das Gefühl unserer Schuld. Es kann daher die sündhafte That der Zeit nach längst vorüber sein: die Schuld bleibt, und die Strafe auch, so lange bis Gott sie vergeben und aufgehoben, bis Gott seinen Widerspruch eingestellt und durch Versöhnung das rechte Verhältnis) zwischen Schöpfer und Geschöpf wieder hergestellt hat. Mithin hilft alles Vernünfteln und Klügeln nichts, wir kommen nicht hinweg über die Bitte: „Vergieb uns unsere Schulden.“ Sowohl das Bewußtsein unserer tiefen Verschuldung, als die Unmöglichkeit, uns selbst aus eignen Kräften davon zu befreien, fordert uns auf zu dieser Bitte.

So laßt uns denn täglich beten: „Vergieb uns unsere Schulden;“ denn jeder Tag unseres Lebens ist ein Bußtag; jeder Tag kann die letzte Frist der schonenden Güte Gottes sein, durch welche Er uns zur Buße leiten will. Laßt uns beten: „Vergieb uns unsere Schulden“ im Glauben, daß uns Gott erhören werde, nicht um unseres Gebetes, sondern um des Verdienstes Jesu Christi willen, ohne welchen ist kein Leben, keine Gnade, kein Vergeben. Laßt uns beten: „Vergieb uns unsere Schulden“ nicht im eignen Namen, sondern im Namen des ganzen, sündebeladenen Menschengeschlechts; damit Keiner verloren gehe, sondern alle Gnade finden vor Gottes Richterthron. Laßt uns beten: „Vergieb uns unsere Schulden,“ und nicht eher aufstehen von unserm Gebet, als bis es uns innerlich gewiß geworden, Gott hat unsere Sünden vollkommen zugedeckt. Er hat unsere Schulden gestrichen in den Büchern des Gerichts, Er hat die Hölle und die Verdammniß zugeschlossen ewiglich und uns den Himmel wieder geöffnet, Er sieht uns setzt an als solche, die nie eine Sünde begangen, nie ein böses Wort gesprochen, nie einen verwerflichen Gedanken gehegt haben.

2.

Die zweite Frage lautete: wozu fordert uns wiederum das Gebet auf: „Vergieb uns unsere Schulden, wie wir vergeben unsern Schuldigern,“ sagt unser Text. Die erhaltene Vergebung von Gott fordert uns auf zur zu ertheilenden Vergebung gegen Andere; letztere ist sowohl Kennzeichen als Bewahrungsmittel der ersteren.

Der Herr sagt: „wie wir vergeben,“ nicht, „weil wir vergeben;“ Er erklärt unsere Vergebung nicht für eine Bedingung seiner Vergebung, sondern nur für eine Folge derselben für die sicherste Bürgschaft und den Beweis, daß wir jene erlangt haben. Ach, wollte Er nur unter der Bedingung uns vergeben, daß wir vergeben, oder auch nur nach dem Maße uns vergeben, wie wir Andern vergeben; Keiner von uns erhielte dann je Verzeihung von Gott; denn von Natur vergiebt kein Mensch gern dem Andern; je geringer er seine eignen Vergehungen ansieht, als bedürfe er ihrethalben keine Begnadigung, für desto größer betrachtet er die von Andern empfangenen Molchen Beleidigungen, und ist deshalb um so weniger zu Nachsicht geneigt. Und allerdings, es thut weh, wenn man beleidigt, gekränkt, verletzt, verläumdet wird; man möchte lieber Geld und Gut einbüßen, als das tragen; der Gedanke taucht immer wieder auf gegen den Andern: „er hätte doch recht gut anders handeln können, wenn er nur gewollt hätte, und daß er es nicht that, ist Mangel an Liebe,“ und die Rache ist dem Menschen süß. Ja, selbst wenn wir vergeben, wie ist unser Vergeben beschaffen? Es geschieht in der Regel so langsam und schrittweise, nicht ohne Widerwillen und Kampf; es geschieht so unvollkommen und oberflächlich, daß die erduldete Beleidigung im Strome unserer Gedanken immer oben schwimmt und kaum jemals rein vergessen wird, daß in solchen Dingen unser Gedächtniß unverwüstlich ist und wir nur zu oft die Redensart hören müssen: Vergeben ist noch nicht vergessen; ja, daß auch bei der bestimmt erklärten Bereitwilligkeit zur Versöhnlichkeit doch etwas im Herzen immer zurückbleibt, ist es auch nicht heimlicher Groll und Bitterkeit, doch Mißtrauen und Kälte, die bei jeder neuen Verletzung gleich wieder das ganze alte Sündenregister des Beleidigers auffrischt und festhält. Wohl uns daher, daß der Herr nicht sagt: weil, sondern wie wir vergeben unsern Schuldigern, und daß er auch unter dem Wie nicht den gleichen Grad und die gleiche Beschaffenheit seines göttlichen Vergebens, sondern nur das herzliche Bestreben meint, wider den Schmerz, den die Beleidigung in unserm schwachen Herzen zurückläßt, anzukämpfen und den Vorsatz zu erringen, uns nie zu rächen; nicht wieder zu schelten, wenn wir gescholten werden; nicht zu drohen, wenn wir leiden, sondern alles Dem anheimzustellen, der da recht richtet; Böses mit Gutem zu vergelten und selbst unsere Feinde lieb zu haben. Das ist aber auch durchaus nothwendig, und Keiner täusche sich damit, daß ihm Gott schon vergeben habe, wenn er selbst noch nicht bereitwillig ist, Andern zu vergeben. Wer wahrhaft durch Gottes Gnade innerlich Frieden hat, muß auch wünschen, ihn äußerlich zu haben mit Andern; wer Gottes Geduld achtet für seine Seligkeit und Tag für Tag nur von Gnade lebt, muß auch Geduld und Nachsicht üben gegen Andere; wer da singen kann:

„Barmherzig, gnädig, geduldig sein,
uns täglich reichlich die Schuld verzeih'n,
heilen, stillen, trösten, erfreu'n und segnen,
und unserer Seele als Freund begegnen,
ist Deine Lust“

und seine zehntausend Pfund von Gott erlassen erhalten hat, wäre ein Unmensch, wenn er nun nicht auch es seine Lust sein ließe, seinem Bruder von Herzen seine Fehler zu vergeben und ihm gern die hundert Groschen, die er ihm schuldet, zu erlassen. Das Bewußtsein der Versöhnung mit Gott macht versöhnlich gegen Menschen. Die wahre Liebe deckt auch der Sünden Menge; sie vergiebt nicht siebenmal, sondern siebenzig mal sieben mal; sie läßt sich nicht erbittern; sie trachtet nicht nach Schaden; sie freuet sich nicht, wenn's unrecht zugeht, sie freuet sich aber, wenn's recht zugeht; sie verträgt alles, sie glaubet alles, sie hoffet alles, sie duldet alles. (1. Cor. 13, 6-8.); sie gewahrt an Andern immer nur kleine Splitter, während sie im eignen Auge große Balken sieht; und hat immer die Empfindung, daß bei so viel Vorzüglichem, das sie bei Andern findet, ihre Fehler nur unbedeutend seien. Wird auch die Gesinnung jenes Erzbischofs, von dem es zum Sprichwort wurde, zu sagen: „Spiele ihm einen bösen Streich, und er wird dein Freund sein, so lange du lebst“ immer eine seltene bleiben unter uns armen, gebrechlichen Menschenkindern; fehlen kann und darf doch nie die Geneigtheit, Andere zu tragen, ihnen zu verzeihen, sie zu lieben, weil Gott uns geliebt hat und alle Tage trägt mit himmlischer Geduld.

Unsere Vergebung gegen Andere ist das Wahr- und Kennzeichen, an dem wir Gottes Vergebung gegen uns inne werden können allewege. Aber nicht blos das Kennzeichen, sondern auch das Bewahrungsmittel. Wir sichern uns die erhaltene Vergebung nur zu, wir bewahren sie uns nur, wenn wir auch vergeben, und wir gehen sofort ihrer verlustig, wenn wir die Hand und das Herz von Andern zurückziehen. Denn also schreibt die Schrift: „So ihr den Menschen ihre Fehler vergebet, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. (Matth. 6, 14. 18. 34. 35. 5, 23. 24.) Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. (Luc. 6, 36.) Vertragt einer den andern, und vergebet euch unter einander, so jemand Klage hat wider den andern, gleichwie Christus euch vergeben hat, also auch ihr.“ (Col. 3, 13.) Es geht mit der Vergebung, wie mit dem neuen Leben überhaupt und den guten Werken desselben. Letztere bewähren nicht nur den Glauben, sie bewahren ihn auch, und mit Recht sagt die Schrift: „der Glaube, der nicht Werke hat, ist todt an ihm selber.“ So ist auch die göttliche Vergebung, wenn sie nicht in der Frucht der menschlichen Vergebung sich offenbart, todt an sich selber, und wird null und nichtig, wird aufgehoben jeden Augenblick, wo wir unversöhnlich sind. Ja, wir müssen sogar noch einen Schritt weiter gehen und sagen: sintemal die Versöhnlichkeit Maßstab und Bewahrungsmittel unserer Begnadigung ist, ist sie somit zugleich auch Maßstab unseres Seelenzustandes und unseres Christenthums überhaupt. Sind wir es uns ohne Täuschung bewußt, daß keine Spur von Groll und Kälte gegen ehemalige Beleidiger und Feinde in unserm Herzen zu finden ist, haben wir vielmehr Böses mit Gutem vergolten, für Leides ihnen Liebes erwiesen und uns gefreut, wenn ihnen Gutes widerfuhr: so ist das ein untrügliches Kennzeichen unseres Gnadenstandes; denn solche Gesinnungen, die gegen alle Natur angehen, wirkt allein und kann allein wirken der Geist Gottes in unserm Herzen. Müssen wir uns dagegen anklagen, daß wir dem Beleidiger noch nicht vergeben haben, so wollen wir uns ja nicht über unsere vermeinte christliche Gemüthsverfassung in Selbstzufriedenheit täuschen. Wer dem Beleidiger nicht verzeihen kann, kann auch sich selbst nicht beherrschen und wer sein Selbstsclave bleibt, bleibt auch der Sünden Knecht. Wer aber verzeihen kann, ist fähig, nach allem zu trachten, was ehrbar, gerecht, lieblich, irgend eine Tugend ist und wohllautet. Darum ist es auch eine alte christliche Sitte geworden, nicht eher zum Tisch des Herrn zu gehen, als bis wir mit unsern Beleidigern auf's reine gekommen sind. Darum beginnen wir jeden Gottesdienst mit dem Sündenbekenntniß, mit Beschämung denkend an die innere Befleckung, an die Erdenkruste, die sich in der letzten Woche wieder an uns gehängt hat. Darum können wir kein Vater Unser beten, ohne die fünfte Bitte mit besonderm Nachdruck auszusprechen: „Vergieb uns unsere Schulden,“ und ohne das Gelübde daran zu knüpfen: Wir wollen von nun an auch gern, mit Hand, Angesicht, Wort und Herzen, unseren Schuldigern Alles und immer vergeben, und wäre jedes Vater Unser ohne die Gesinnung und That der Versöhnlichkeit eine verwegene Lüge, ja, eine Herausforderung an Gott, uns ebenfalls nickt zu vergeben, sondern uns zu strafen, wie wir es verdient haben. So oft wir es beten, das Gebet des Herrn, muß es uns leichter und wichtiger werden, auch wirklich unsern Brüdern zu vergeben; wir können ja nicht Vergebung erstehen und geloben, ohne uns mächtig angetrieben, ja, gezwungen zu fühlen, gegen unsere Abneigung und jeden wurzelnden Groll anzukämpfen, und unser Herz kann nicht eher Ruhe finden, bis wir sagen dürfen: ich habe vergeben, wie ich auch Vergebung hoffe. Die Liebe ist der Himmel im Himmel; denn Gott ist die Liebe. Die Liebe ist auch der Himmel auf Erden. Heil uns, wenn wir leben, um lieben zu lernen! Heil uns auch, wenn wir beten, um lieben zu lernen!

Wir wären zu Ende, wenn nicht ein Wörtlein noch uns einen Augenblick festhielte, die Verbindung nämlich dieser fünften Bitte mit der vierten durch und: „Unser täglich Brod gieb uns heute, und vergieb uns unsere Schulden, wie wir vergeben unsern Schuldigern.“ Was soll das „Und“ an dieser Stelle? Es läßt eine zwiefache Beziehung zu, und jede ist beherzigungswerth. Zuerst die: gieb uns Brod und spende uns die Gaben, deren wir zur Nahrung, Kleidung und Wohnung bedürfen, und vergieb uns unsere Schulden, die wir durch Undank gegen Gabe und Geber uns aufgebürdet; und dieser Undank ist groß! Zweitens die: wenn uns Gott Sünde und Schuld nicht vergiebt, so sind wir unwürdig, von Ihm durch Speise und Trank erhalten zu werden, wir sind des Hungertodes werth; da wir aber der göttlichen Vergebung nur gewiß sein können, wenn wir Andern auch vergeben, so ist ein unversöhnlicher, feindseliger Mensch keines Bissen Brodes werth. Zwei Wahrheiten, die eben so gewiß als anklagend sind, und uns nur noch dringender hineintreiben in das Gebet aller Tage, aller Stunden, aller Augenblicke: „Vergieb uns unsere Schulden, wie wir vergeben unsern Schuldigern.“ Ach, gerade je ernster wir es meinen, je reiner wir sind, desto mehr fühlen wir auch, daß wir es noch nicht ergriffen haben, und desto mehr Anlaß ist zu seufzen und immer zu seufzen: „Herr, Herr Gott, barmherzig und gnädig, geduldig und von großer Güte und Treue, handle nicht mit uns nach unsern Sünden, und vergilt uns nicht nach unserer Missethat. So hoch der Himmel über der Erde ist, laß Deine Gnade walten über die, so Dich fürchten. So fern der Morgen ist vom Abend, laß unsere Uebertretung von uns sein. Wie sich ein Vater über seine Kinder erbarmet, so erbarme Dich, Herr, über uns.“ Amen.

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