Arndt, Johann Friedrich Wilhelm - 1. Predigt

Arndt, Johann Friedrich Wilhelm - 1. Predigt

Am Bußtage.

Herr, gehe nicht in’s Gericht mit Deinen Knechten; denn vor Dir ist kein Lebendiger gerecht. Amen.

Text: Matth. V., V. 1-3.

Da Jesus aber das Volk sahe, ging er auf einen Berg, und setzte sich, und Seine Jünger traten zu Ihm. Und Er that Seinen Mund auf, lehrete sie und sprach: Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr.

Es ist freilich noch nicht der Trinitatissonntag, mit welchem wir sonst gewöhnlich eine Reihe zusammenhängender Betrachtungen über irgend einen Abschnitt aus der heiligen Schrift zu beginnen pflegen, meine Andächtigen; es sind noch die vierzig Tage der Freude, in denen wir verweilen, und in denselben heute der jährliche Buß- und Bettag des Vaterlandes; aber theils sind die biblischen Textworte, welche uns zunächst beschäftigen werden, der gegenwärtigen Kirchenzeit nicht entgegen, theils ist der Abschnitt, der uns dieses Jahr Stoff zu den mannichfaltigen Erwägungen darbieten soll, so umfassend und reich, daß wir fürchten müssen, ihn nicht zu vollenden, wenn wir nicht bereits einige Wochen früher eure Aufmerksamkeit für denselben in Anspruch nehmen. – Es war das Gebet des Herrn, mit welchem wir uns das vorige Jahr ausschließlich beschäftigten. Dies Gebet ist aber nur ein kleiner Theil der größeren Rede Jesu Christi, welche von dem Berge, auf welchem sie gehalten wurde, gewöhnlich die Bergpredigt genannt wird. Wie nahe liegt es, daß wir vom Theile zum Ganzen übergehen und das Letztere einer gleichen Aufmerksamkeit unterwerfen! Die Bergpredigt beginnt mit acht Seligpreisungen. Die erste derselben ist unser heutiger Text. Wir betrachten demgemäß die geistliche Armuth; lernen sie selbst zuerst näher kennen, und überzeugen uns dann von ihrem Werthe und Segen. Eine Betrachtung, die dem Zwecke und der Bedeutung des heutigen Tages durchaus entspricht, und, wir hoffen es zu Gott, nicht fruchtlos bleiben wird.

I.

Jesus hatte soeben eine Menge der außerordentlichsten Wunder verrichtet, und allerlei Kranke, mit mancherlei Seuchen und Qual Behaftete, Besessene, Mondsüchtige, Gichtbrüchige (4,24.) gesund gemacht. Darauf war ihm viel Volks nachgefolgt aus Galiläa, aus den zehn Städten, von Jerusalem, aus dem jüdischen lande, und von jenseits des Jordans. Groß war der Andrang des Volks, das der Ruf Seiner Lehren und Thaten um Ihn versammelt hatte. Und Jesus, da Er das Volk sahe, ging Er auf einen Berg. Auf welchen Berg? wissen wir nicht. Die kirchliche Ueberlieferung giebt einen Berg in Galiläa an, nicht weit von Kapernaum, welchem sie auch den Namen des Berges der Seligkeiten beilegt, und auf welchem sich noch an der Stelle, wo Jesus gestanden haben soll, der Grund einer kleinen Kirche befindet. War es wirklich jener Berg, so war er allerdings zu einem öffentlichen Vortrage sehr geeignet. Auf seiner Höhe eine mäßige Fläche bildend, und nur sanft abhängig, war er allenthalten wie geschaffen zu einem Orte, auf welchem eine zahlreiche Menge zuhören konnte. Seine freie Lage gewährte überdies dieselbe weite und liebliche Aussicht, wie der Berg Thabor. Nach Osten hin breitete sich aus der unvergleichliche See Genezareth mit dem Kranze seiner fruchtbaren Berge und Waldungen, gegen Norden ragte himmelan der schneebedeckte Hermon, gegen Westen begrenzte den Horizont das weite mittelländische Meer und der Carmel, und gen Süden die reiche blühende Landschaft Galiläa’s. Auf diesen Berg ging der Herr also hinauf, wahrscheinlich in stiller feierlicher Morgenstunde; dicht bei Ihm die Jünger, in weiterem Kreise neben und hinter Ihm das aus der Nähe und Ferne herbeigeströmte, dichtgedrängte Volk, voll Spannung und Erwartung auf die Lehren, die Er ihnen mitteilen würde, und voll Sehnsucht, Ihm so nahe zu kommen, wie möglich, um keines Seiner holdseligen Worte zu überhören oder zu verlieren. So gehen sie miteinander bergan. Endlich sind sie an Ort und Stelle. Jesus setzt sich; denn die Lehrer und Meister in Israel pflegten sitzend zu lehren. Seine Jünger treten näher heran und lagern sich umher mit dem Volke. Und Jesus that Seinen Mund auf – man möchte in Gedanken hinzusetzen: Hörer, thut auch eure Ohren auf! - lehrete sie und sprach… Was wird Er lehren, was wird Er sprechen? wie wird das erste Wort lauten, das nach solchen Vorbereitungen, in solcher Umgebung, den heiligen Lippen entquillt? Die Jünger, das ganze Volk, auch wir hängen an den Lippen des großen Meisters zu reden mit der gelehrten Zunge, und Jesus spricht: Selig sind! Das sind Seine ersten Worte! Das sind die ersten Klänge, mit denen eine ganze Welt neuer Töne sich öffnet und himmlische Harmonien erklingen in den Gemüthern der Tausende, die damals leiblich, der Millionen, die in allen Jahrhunderten im Geiste Ohrenzeugen jener Worte gewesen sind. Selig sind! Nicht beginnt Er mit: „Heilig sind, Gott wohlgefällig sind;“ ach, damit hätte Er nur erschrecken, nur niederschmettern und zermalmen können jedes aufrichtig nach Vollkommenheit ringende und seine große Unvollkommenheit fühlende Herz. Nein, kein neues Gesetz, keine ängstliche Moral, keine beengenden Vorschriften will Er geben; ein Evangelium will Er verkündigen, wie es nie in die Welt gebracht, nie in der Welt gehört worden war. Darum beginnt Er mit dem innersten Wesen, mit dem Hauptinhalte und Zwecke aller frohen Botschaft: Selig sind. Hieß Er doch Jesus, das heißt, der Seligmacher! War Er doch gekommen, selig zu machen, was verloren war! Ging doch die Absicht aller Seiner Lehren, Wunder, Schicksale, Thaten und Offenbarungen darauf hinaus, Verheißungen und Anweisungen zur Seligkeit zu geben, der Mann der Liebe und der Schmerzen, der Arzt der Kranken und das Heil der Verlorenen zu sein! Kannte Er doch das tiefste Bedürfniß aller menschlichen Herzen, die Frage aller Fragen, die Lebensfrage aller Zeiten: Was muß ich thun, daß ich selig werde? Wie hätte Er anders beginnen können, als mit den Worten: Selig sind! Kein ansprechenderes, erwecklicheres Wort gab es in dem ganzen Sprachgebiete, als dieses Wort, und wir erkennen in Ihm sogleich von vornherein Den, der den rechten Fleck zu treffen und die Saite anzuschlagen weiß, bei der Seine Stimme am liebsten gehört wurde. wie mußten sie horchen, die Tausende, welche Ihn umringten! Und wie müssen auch wir, mögen wir in noch so vielen Sorgen, Schmerzen, Zerstreuungen hingegangen sein, bei diesem Worte, an welchem unser Aller Seele hängt, aufhorchen und alles Andere vergessen! Selig sind!

Wen aber preist Jesus selig? Gewiß die Glücklichen, die Reichen, die Hochbegabten, die Fröhlichen, die Vornehmen, die Könige der Erde? So hätten wir es wohl gethan, die wir immer nur auf das sehen, was vor Augen ist; aber nicht Er, der das Herz ansieht. Er spricht: Selig sind, die geistlich arm sind! Die Armen also preist Er selig! Viele Ausleger der heiligen Schrift haben an äußerlich und leiblich Arme gedacht; und allerdings hatte Jesus solche Arme vornämlich lieb, ließ ihnen insbesondere das Wort Gottes verkündigen, besuchte gern die Hütten der Niedrigkeit und Dürftigkeit, wählte Seine Apostel aus Fischern und Zöllnern, und fand zunächst Eingang unter dem Volke, das gesundere Blicke und empfänglichere Herzen hatte, als seine Führer und Obersten. Auch haben die Armen manche Vorzüge vor den Reichen; tausend Versuchungen, Zersplitterungen des Gemüths, Verläumdungen und Gefahren bleiben ihnen fern; Genügsamkeit schließt ihnen die Thore des Glückes auf, und zuletzt müssen auch die Reichen selbst dahin kommen, weltliche Würden und zeitliche Güter zu verachten. Man erklärte dann das Geistlicharmsein als gleichbedeutend mit: dem Herzen nach, freiwillig arm sein; oder: im Innern los sein von allem Besitzthum; oder: auf geistliche Weise, mit Ergebung und Geduld arm sein; ja, unsere katholische Schwesterkirche begründete hierauf zum Theil mit ihre sogenannten drei evangelischen Rathschläge und Gelübde der Keuschheit, des Gehorsams und der freiwilligen Armuth. Indeß von der andern Seite können wir doch das Künstliche dieser Erklärung nicht in Abrede stellen; die eigenthümliche Bezeichnung: „geistlich arm, Armuth des Geistes“, führt uns auf ganz andere Gebiete und Bedeutungen, und die Wahrheit steht doch einmal fest, daß weltliche Armuth dem Menschen ebensowenig wahren Werth giebt, als irdischer Reichthum, und daß die leiblich Armen ebenso unselig sein können, als die Fürsten auf ihrem Throne, wenn ihr Herz nicht reich ist an Gott und göttlichen Gnadengaben. Jesus preist daher selig die geistlich Armen, und diese geistliche Armuth finden wir ebensogut auf dem Throne, wie bei denen, die in der Welt niedrig und verachtet sind; sie äußert sich ebensostark in der Blüthe des Gesunden, wie in dem Herzen des Gepreßten; sie meldet sich unter seidenem Gewande nicht minder, als unter grobem Kittel und der äußersten Entbehrung. Jeder Mensch ist von Natur ein geistlich Armer. Die Welt mag unterscheiden zwischen leiblich Armen und Reichen, sie hat ein Recht dazu; das Reich Gottes kennt solchen Unterschied im Geistlichen nicht, es betrachtet Alle als geistlich arm.

Was heißt das aber: geistlich arm? Arm ist der, der nicht so viel hat, als er bedarf, der Mangel leidet am Nothdürftigsten, an Wohnung, Kleidung, Nahrung, oder dessen Wohnung finster und eng, dessen Kleidung zerrissen und kaum die Blöße bedeckend, dessen Nahrung ungesund und unzureichend ist. Der ist arm, und das ist unser Aller geistliches Bild vor Gott. Oder wie? haben wir, was wir bedürfen? Licht im Geiste, Frieden im Herzen, Kraft zum Guten; Glaube, Liebe, Hoffnung; Wahrheit, Gerechtigkeit, Seligkeit? Leiden wir nicht Mangel, bittern Mangel, am Allernothdürftigsten? Unser Verstand ist verfinstert und im ewigen Suchen begriffen, ohne zu finden; unser Herz ist kalt und leer von Liebe zum Herrn, matt im Gebetsdrang, lau in der Gemeinschaft mit dem Ewigen; unser Wille ist schlaff und ohnmächtig, wenn es gilt, Gottes Willen zu thun; in Verlegenheiten sind wir rathlos, im Leiden trostlos, im Handeln gottlos, im Umgange mit Andern lieblos. Ach, wenn Gott sich unserer nicht erbarmt hätte in unserm Elende, wenn Er uns nicht hätte Seine Offenbarungen gegeben in unsere Nacht und Seine Gnade in unsere Sündhaftigkeit: wir wären allzumal verloren. Unsere Behausung ist finster, unsere Kleidung zerrissen, unsere Nahrung verdorben und vergiftet.

Arm ist der, der, weil er nicht hat, was er bedarf, es sich borgen, leihen, Schulden machen muß bei Anderen. Ach, und was ist das für ein drückendes Gefühl, Schulden zu haben, abhängig zu sein von Andern, einen Theil seiner Freiheit dadurch zu verlieren und einzubüßen. Das ist entsetzlich; und doch ist es wieder unser Aller geistliche Beschaffenheit vor Gott. Wir sind nicht nur von Natur leer an allem Guten, wir haben auch diese Leere auszufüllen gesucht durch Böses, wir sind Gott verschuldet; mit dem Mangel an wahrer Tugend und Gerechtigkeit hat sich verbunden Reichthum an Sünden und Ungerechtigkeit; unser Herz ist von Natur nicht nur fern von Gott und entfremdet von Ihm, es ist auch befreundet der Welt und ihrer Lust, dem Fleische und seinen Begierden, ja, es ist in Feindschaft gegen Ihn getreten; jede Sünde, die es gedacht, gewollt, geredet, gethan, ist eine Empörung und Aufwiegelung gegen den Herrn, und dieser Sünden sind Legion; kein Vermögen unseres Geistes, kein Glied unseres Leibes, kein Zeitraum unseres Lebens ist unbefleckt geblieben; auch an unseren vollkommensten Werken finden sich Mängel, an unseren reinsten Thaten Flecken. Das Schuldbewußtsein ist unser tiefstes und wahrstes Bewußtsein. Wir können uns unserer selbst nicht bewußt werden, ohne uns zugleich unserer Missethaten und Versündigungen gegen Gott bewußt zu werden. Und dieses Schuldbewußtsein ist darum so drückend, weil es uns unsere Abhängigkeit vom Bösen, unsere Dienstbarkeit unter der Sünde, den Verlust unserer Freiheit so furchtbar bekundet.

Arm, recht arm, blutarm ist endlich der, der, nachdem er Schulden gemacht, um seine Blöße zu bedecken oder seinen Hunger zu stillen und sein Leben zu fristen, wenn die Zeit des Abzahlens heranrückt, sich völlig unfähig erkennt, seinem Gläubiger zu genügen, und entweder neue Gelder aufnehmen muß, um alte Lücken zuzustopfen, oder, wenn das nicht mehr geht, sich muß auspfänden, ausstoßen, berauben, bestrafen lassen. Der fühlt seine Armuth recht bitter und schwer; und doch ist das unser Aller geistliches Bild vor Gott! Wir sind Ihm verschuldet und der Sünde verfallen: was thun wir und was könnten wir thun, um uns von ihr zu erlösen? Wir machen es wie der Schuldner; wir treiben einen Teufel aus durch einen andern; wir bessern und ändern uns, werden dann aber hochmütig und voll Einbildung auf uns selbst; wir hören auf, grobe Sünden zu begehen, aber bedecken sie durch feinere und heucheln; wir fliehen die Eitelkeit, aber dienen dem Hochmuth; überwinden die Sinnlichkeit, aber huldigen dem Ehrgeiz. Damit wird die Zahl unserer Sünden nur immer größer, unsere Verantwortlichkeit schwerer, unser Anspruch an die ewige Verdammniß begründeter, unsere Aussicht in die Zukunft und Ewigkeit trüber und herzzerreißender. Was kann endlich bei solchem Leben herauskommen? was muß sein Ziel, was muß unser Loos sein? Völlige Verstoßung von Gott, Hinwegweisung von Seinem Angesichte, ewige Unseligkeit an dem Orte, der wohl einen Eingang hat, aber keinen Ausgang, dessen Schauer wohl einen Anfang nehmen, aber nimmer ein Ende. Denn furchtbar lautet das Wort des Herrn an jenem Tage: Wer nicht hat, dem wird auch genommen werden, was er hat. Jeder Arme, auch der Aermste, hat doch noch einen Rock auf dem Leibe: auch dieser Rock soll ihm vom Leibe gerissen werden. Ohne Bild: Jeder Mensch, auch der größte Sünder, hat hier doch noch etwas Gutes; auch dies geringe Gute soll ihm entzogen werden. Jeder Arme hat doch wenigstens ein unveräußerliches Gut, das weit über Geld und Geldeswerth hinausgeht, seine Freiheit: auch dieser Freiheit soll er dann verlustig gehen. Ohne Bild: Jeder Mensch, auch der größte Sünder, hat hier noch die Fähigkeit, sich zu entscheiden für das Gute oder für das Böse: dort wird er auch dieses Willensvermögen einbüßen müssen und verdammt sein, nur Böses zu thun. Jedem Armen bleibt hier noch die Möglichkeit einer Rettung, und darum die Hoffnung auf Rettung, und das Gebet um ein Ende seiner Noth: dort verschwindet selbst diese Hoffnung, der Verdammte kann nicht mehr beten, der Verdammte kann nur verzweifeln. Ach, wie mögen die Unseligen in der Hölle uns beneiden in unserm Zustande und zu sich selbst, so oft sie an uns auf Erden denken, sprechen: „Ihr habt viel, wir haben aber Alles verloren; ihr habet etwas noch behalten, wir aber nichts mehr. Ihr Hügel, fallet über uns! Ihr Berge, bedecket uns!“

Indeß, Geliebte, mag immerhin unser gegenwärtiger Zustand golden sein gegen den der Verdammten: denken wir an das, was wir hatten im Paradiese und was wir noch immer haben könnten, so müssen auch wir gestehen: wir sind arm, und jene Worte der frommen Katharina von Siena im vierzehnten Jahrhundert sind über alle Maßen bezeichnend für unsern Zustand: Gott ist, der Er ist; der Mensch aber ist, der er nicht ist. Gott ist, der Er ist, das wahre Sein, das Wesen, das vollkommene Leben; so nannte Er sich selbst an Mosen: „Ich bin, der ich bin, dies ist mein Name in Ewigkeit.“ Wir aber sind, was wir nicht sind. Denn was sind wir denn? Sind wir dieser Leib, dieses Auge, dieses Herz? Nein, das ist nur die Außenseite und Hülle unseres Wesens. Oder sind wir unsere Gedanken, Neigungen, Bestrebungen, Worte, Thaten? Nein, denn wir oft sind die untereinander in Widerspruch: wir denken nicht, wie wir reden; wir meinen es nicht so, wie wir handeln; wir sind als Kinder andere Menschen, als Knaben wieder andere, als Jünglinge, Männer, Greise immer Andere. Was also sind wir? was ist eigentlich unser Wesen? Ist es unser Charakter, unser Temperament; jener Charakter, der meistentheils im Grunde nichts ist, als Eigensinn und Selbstsucht; jenes Temperament, das bald die Trägheit, bald die Heftigkeit, bald den Trübsinn, bald den Leichtsinn abspiegelt? Gewiß nicht. Wir sind, was wir nicht sind. Wir sind nichts durch uns selbst, wir haben nichts durch uns selbst; was wir sind und was wir haben, das sind und haben wir von Gott. Ohne Ihn sind wir durch und durch arm.

Doch wenn wir auch Alle von Natur geistlich arm sind, so preist darum nicht Jesus die Menschen selig, denn dann müßte Er Alle von Natur selig preisen; sondern Er preist nur diejenigen unter ihnen selig, die diese ihre geistliche Armuth auch erkennen, und der Sinn der Textesworte ist kein anderer, als: Selig sind, die sich für geistlich arm halten und erkennen! Das ist nämlich der einzige, aber auch unermeßlich große und allentscheidende Unterschied im Reiche Gottes, daß es die Menschen darnach sondert, je nachdem sie entweder bloß geistlich arm sind, oder auch ihren hülfsbedürftigen Zustand einsehen und zugeben. Es giebt ja Unzählige, die da sprechen: Ich bin reich und habe gar satt und bedarf nichts, und wissen nicht, daß sie sind elend und jämmerlich, arm, blind und bloß (Offenb. 3,17.); Selbstzufriedene, die Gefallen an sich haben und von ihren Mängeln und Gebrechen nichts wissen wollen. Diese Selbstzufriedenheit geht bei ihnen entweder aus Leichtsinn hervor, weil sie es zu leicht nehmen mit Gottes Gesetz, mit Seiner Heiligkeit und Gerechtigkeit, und sich einreden: Er werde es wohl so genau nicht nehmen, Er sei die Liebe, Er werde mit dem guten Willen zufrieden sein, Er fordere nicht mehr, als der Mensch gerade leisten könne; oder aus Hochmuth, weil sie ihre äußere Ehrbarkeit und Pflichterfüllung, ihre gute Sitte, ihre bürgerliche Rechtschaffenheit und Unbescholtenheit, ihre Freiheit von groben Vergehungen, zu hoch anschlagen und mit der Gerechtigkeit vor Gott verwechseln. So dachte auch der Pharisäer im Tempel, der da betete: „Ich danke Dir, Gott, daß ich nicht bin wie andere Leute, Räuber, Ehebrecher, Ungerechte, oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von Allem, was ich habe.“ So dachte der reiche Jüngling, als er voll Selbstgefühl dem Herrn antwortete: „Das Alles habe ich gehalten von meiner Jugend auf; was fehlet mir noch?“ Unmöglich kann Jesus solche Menschen, die in tiefster Selbsttäuschung befangen sind, selig preisen. Wie gerade der Mensch äußerlich am übelsten daran ist, der die Zerrüttung seines Vermögens nicht einsieht, sondern in dem Wahne, er besitze noch Alles, in den Tag hineinlebt und seinem Untergang unbewußt entgegen arbeitet: so ist auch geistlich derjenige am übelsten daran, der sich über sich selbst täuscht, sich für reich hält und doch blutarm ist. Denn also spricht der Herr zu den Pharisäern: „Wäret ihr blind, so hättet ihr keine Sünde, nun ihr aber sprechet: wir sind sehend, so bleibt eure Sünde (Joh. 9,41.). Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit, ein Starker rühme sich nicht seiner Stärke, ein Reicher rühme sich nicht seines Reichthums; sondern wer sich rühmen will, der rühme sich deß, daß er mich wisse und kenne, daß ich der Herr bin, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übet auf Erden“ (Jer. 9,23.24.). Zehn Sünden, die man als solche erkennt, sind nicht so schädlich, wie eine einzige, die man nicht dafür erkennt. Es bleibt dabei: der erste Schritt in’s Reich Gottes besteht darin, daß wir uns für geistlich arm erkennen.

II.

Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr. Das Himmelreich! So nannte Jesus die Heilsanstalt, welche Er zu begründen erschienen war und welche in Zeit und Ewigkeit den Menschen beseligen sollte, und Paulus spricht, sie näher beschreibend: „Das Reich Gottes ist Gerechtigkeit und Friede und Freude im heiligen Geist“ (Röm. 14,17.). Gerechtigkeit, d.h. die Vergebung der Sünde, die Aussöhnung der Menschen mit Gott, die Schuldloserklärung des mit Schulden aller Art behafteten Sünders, die gänzliche Straferlassung für immer und ewiglich. Friede, d.h. das Bewußtsein jener Gerechtigkeit oder das Bewußtsein davon, daß Gott uns gnädig sei, die Aneignung der durch Christum erworbenen Gerechtigkeit. Freude im heiligen Geist, d.h. Freude über die Gerechtigkeit vor Gott und über den Frieden in uns selbst, als die Hauptstimmung des gerechtfertigten Menschen. Wahrlich, wo diese Güter des Menschen Eigenthum werden, da ist das Himmelreich gekommen, da hat alle Noth ein Ende, da sind die Armen reich, die Traurigen fröhlich, die Gebundenen frei, die Verbannten wieder aufgenommen, da ist der Himmel zur Erde herniedergestiegen.

Und dies Himmelreich ist ihr, gehört den geistlich Armen, sagt der Herr, d.h. ihnen ist es bestimmt vom Herrn und sie sind dafür empfänglich. Keine einzige Stelle giebt es in der ganzen heiligen Schrift, in welcher den geistlich Reichen, den Stolzen, den Selbstgenügsamen und Sichern eine Verheißung von der Ewigkeit gegeben worden wäre; immer heißt es: „Die sich selbst erniedrigen, sollen erhöhet werden; die sich selbst aber erhöhen, sollen erniedrigt werden; die Ersten sollen die Letzten, und die Letzten sollen die Ersten sein; die Hungrigen füllt Er mit Gütern und die Reichen läßt Er leer; den Hoffährtigen widerstehet Er, aber den Demüthigen giebt Er Gnade.“ (Vgl. Matth. 9,13. 11, 28. 29. Jes. 57,15. 66,2. Matth. 22,12.13.) So ist es Gottes ewige, allweise und unverrückliche Ordnung, und Niemand bilde sich ein, außerhalb dieser Ordnung des Heils theilhaftig zu werden. Der Herr aber hat darum diese Ordnung aufgestellt und den geistlich Armen das Himmelreich versprochen und zugesagt, weil sie dafür empfänglich sind. Von Natur ist jeder Mensch so weit abgekommen von dem Leben, da aus Gott ist, daß ihm nur die Fähigkeit geblieben ist, wieder in dasselbe aufgenommen werden zu können; diese Fähigkeit wird erst Empfänglichkeit, wenn der Mensch seinen Mangel an wahren Gütern wahrnimmt und einsieht. Denn wer sich als arm erkennt, nimmt gern und dankbar die Gabe an, die ihm geboten wird; der Stolze nur verschmäht sie, er mag sie nicht, er weist sie zurück, es dünkt ihm eine Entehrung und Herabwürdigung zu sein, wenn er sie annehmen wollte. Sind wir zum Bewußtsein unserer geistlichen Armuth gekommen: wie willkommen ist uns da jede Gnade, die der Herr uns widerfahren läßt! Das Widerstreben ist weg, das Streiten hat aufgehört, das Schönthun mit falscher Demuth ist verschwunden, jede Ziererei und Eitelkeit ist abgelegt: wir nehmen aus der Fülle des Herrn Gnade um Gnade. Wir nehmen; denn es ist keine Schande mehr für uns, zu nehmen, sondern eine Ehre, die größte Ehre, die uns auf Erden widerfahren kann. Wir nehmen; denn der Herr giebt uns gern, was wir bedürfen, mit vollen Händen und mit warmem Herzen. Wir nehmen; denn es wäre die größte Thorheit, nicht nehmen zu wollen Gerechtigkeit, Friede und Freude im heiligen Geist; Keiner käme dabei zu kurz, als wir selbst, die wir es ausschlügen. – Wer sich als arm erkennt, nimmt indeß nicht nur, er bittet auch gern den Geber um seine Gaben und schämt sich nicht, zu bitten; das Bitten steht ihm besser an, als das Fordern; es ist ihm das Natürlichste von der Welt und trägt wahrhaft beglückende Kraft schon in sich. Sind wir zum Bewußtsein unserer geistlichen Armuth gekommen: wie freudig eilen wir hin zu dem Herrn, der da reich ist über Alle, die Ihn anrufen, Ihm zu sagen und zu klagen, was uns drückt, jede Noth des Herzens und des Lebens, jede Entbehrung und Versagung, jeden wahren Schmerz und jede Sorge, die uns nicht frei athmen läßt. An Bedürfnissen ist unser Herz nie leer: so ist es denn auch an Wünschen nie leer, und jeder Wunsch wird zum Gebet. Die Gebote des Herrn, wie Seine Verheißungen, schallen uns unaufhörlich in die Seele; sie erscheinen uns so groß, so schwer; jedes neue Vernehmen derselben wird zum Gebet. Was wir sind und was wir haben, verdanken wir dem Herrn; je lebhafter dies Dankgefühl wird, desto dringender wird auch das Verlangen, mit Ihm immer noch mehr in Gemeinschaft zu treten und Ihn vollkommen und ganz zu genießen. Je mehr wir empfangen, desto mehr wir bitten, und je mehr wir bitten, desto mehr wird uns gegeben. Von Natur arm an geistlichen Gütern und himmlischen Segnungen, werden wir nun reich an denselbigen gemacht durch Christum; haben in uns selbst nichts und doch Alles in Ihm; sind arm und machen doch Viele reich; besitzen Gott und in Ihm Reichthum die Fülle und liebliches Wesen zu Seiner Rechten immer und ewiglich. Solches Nehmen und Bitten ist etwas unaussprechlich Seliges, und erfährt das Verheißungswort des Herrn an den Bischof der Gemeinde zu Smyrna: „Ich weiß deine Armuth, du aber bist reich.“ (Offb. 2,9.) O seliges Armuthsgefühl! Durch dich werden wir, was wir nicht sind, Bürger, Genossen, Erben des Himmelreichs.

„Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr!“ Diese Seligpreisung steht an der Spitze aller andern, Andächtige, weil sie die Grundlage bildet des ganzen Gottesreichs und alle spätern Gemüthszustände aus derselben hervorgehen, wie aus dem Keime die Pflanze und der Baum; weil kein Christenthum möglich ist ohne Geistesarmuth, und sie nicht blos den Anfang, sondern zugleich die fortgehende Gemüthsstimmung des wahren, lebendigen Christen ausmacht. Nur so viel Christenthum ist in uns, als geistliche Armuth vorhanden ist. Ein wahrer Christ ist nie zufrieden mit sich selbst. Wenn auch alle Menschen seine Pflichterfüllung, seine Gaben und Leistungen, seine Tugenden und Verdienste hoch anschlügen: er weiß allezeit, daß er nichts gethan hat, so lange noch etwas zu thun übrig bleibt (schon Worte Julius Cäsar’s); er vergißt gern alle sein Gutes, was hinter ihm liegt, um sich nur nach dem zu strecken, was vor ihm liegt; er wünscht nichts angelegentlicher, als daß der Herr Gefallen an ihm habe, aber er will nicht Gefallen an sich haben; Gott hat ihm seine Verschuldungen vergeben, aber er kann sie sich selbst nicht vergeben. Er verlernt nie, von Gnade und aus Gnade zu leben; nicht bloß einmal im Jahre, alle Tage feiert er Bußtag; denn jeden Tag ist er zurückgeblieben, jeden Tag giebt es etwas zu bereuen, jeden Tag muß er von vorn wieder anfangen, jeden Tag muß es heißen: „Vergieb uns unsere Schulden!“ O so werdet denn geistlich arm, Geliebte, und bleibet geistlich arm. Verlieret nie das Gefühl, daß ihr Sünder seid, die der Gnade und Erbarmung bedürfen; denn nur durch dieses Gefühl wird euch geholfen. Lebt euch immer mehr zusammen mit der Erkenntniß eurer Unwürdigkeit, eurer Unfähigkeit, die Schuldenlast zu tragen und zu bezahlen. Klagt euch täglich an vor Gott, damit Er euch losspreche von aller Schuld und eure Strafen in Christi Tode gutmache und bezahle.

Selig sind, die Demuth haben
Und sich fühlen arm im Geist,
Rühmen sich gar keiner Gaben,
Daß Gott wird’ allein gepreist;
Danken Dem auch für und für,
Denn das Himmelreich ist ihr.
Gott wird dort zu Ehren setzen,
Die sich selbst gering hier schätzen.

Amen.

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