Arndt, Johann Friedrich Wilhelm - Abschiedspredigt am Pfingstmontage den 27. Mai 1833

Arndt, Johann Friedrich Wilhelm - Abschiedspredigt am Pfingstmontage den 27. Mai 1833

im Dome zu Magdeburg gehalten und zum Besten des Missionsvereins dem Drucke überlassen

Text: 1 Sam. XX, v. 42.

Gehe hin mit Frieden; was wir Beide geschworen haben im Namen des Herrn und gesagt: der Herr sei zwischen mir und dir, das bleibe ewiglich.

Wovon die verlesenen Worte handeln, das wird uns klar, geliebte Zuhörer, wenn wir auf den Zusammenhang sehen, in welchem sie stehen. Sie schildern uns nämlich den Moment, wo Jonathan am Steine Asel seinem Freunde David von der fortwährenden Feindschaft seines Vaters gegen ihn das verabredete Zeichen gibt, und dann nach Entfernung des waffentragenden Knaben von seinem Unglücksgefährten Abschied nimmt. Eine Trennungsstunde wird uns also dargestellt, und zwar eine Trennungsstunde, wie sie von gläubigen Kindern Gottes allein gefeiert werden kann. Wie angemessen daher dem Zwecke unsers heutigen Beisammenseins, daß wir das Textbild uns näher vergegenwärtigen, um an demselben die rechte, gesegnete Feier unserer Trennungsstunden zu lernen. Lasst uns denn betrachten die Trennungsstunden im Leben 1) von ihrer äußeren, und 2) von ihrer innern Seite.

I.

Wer da sagen wollte: das menschliche Leben sei arm an Trennungsstunden,- der verriethe eine gar geringe Bekanntschaft mit demselben. Treten sie uns doch von allen Seiten entgegen in den mannichfachsten Gestaltungen. Dort reißt sich der Sohn los von dem Herzen des Vaters und der Mutter und aus den Armen der Geschwister und Freunde, weil er hinaus muß in die Fremde, um seine Kenntnisse noch mehr auszubilden und die Ausbildung zu vollenden; die Eltern wissen nicht, was dem Kinde ihrer Liebe begegnen wird im gefahrvollen Leben, aber ihr Herz blutet und ist voller Besorgnisse, ob das unerfahrene Gemüth auch ihre Ermahnungen allezeit beherzigen, ob es die Wege des Lasters und der Sünde und die Versuchungen zum Bösen meiden, ob es unversehrt an Leib und Seele und reicher geworden an Weisheit und Gnade bei Gott und den Menschen einst an ihre Brust zurückkehren wird. Jetzt verlangt das Vaterland in der Stunde großer Gefahr ungewöhnliche Opfer, und wo ein Arm nur irgend entbehrlich ist zur Vertheidigung des gemeinsamen Herdes, da muß er zu den Waffen greifen, wie auch die Zurückbleibenden weinen und die Beweinten vermissen und die Vermißten in Noth und Tod besorgen mögen. Da thut sich ein Sterbebett auf, ein geliebter Mensch, vielleicht die Stütze und die Hoffnung der Seinigen, liegt in den letzten Zügen, und umher stehen die gebeugten Angehörigen, und möchten gern helfen, heilen, halten, tragen an des geliebten Stelle; aber umsonst, sie fühlen ihre Raths und Hülflosigkeit, und müssen wider Willen sich fügen lernen in das unvermeidliche Schicksal. Ein Andermal ist es das Amt und die Pflicht und der Ruf des Herrn, der an den Einzelnen oder an ganze Familien ergeht, wie einst an Abraham: „Gehe aus aus deinem Vaterlande und deiner Freundschaft in ein Land, das ich dir zeigen werde.“

David muß sich von Jonathan, Abraham von Lot, Laban von Jacob, Moses von Jethro, Naemi von Arpa, der Kämmerer aus Mohrenland von Philippus trennen. Kurz, das Leben ist reich an Trennungen, es wimmelt von Trennungen; früh beginnen sie schon in den ersten Jahren, und sie hören noch nicht auf im Greisesalter, und man sollte meinen, der Mensch mußte auf diese Weise allmählig an Abschiede und Auflösungen geliebter Verhältnisse gewöhnt werden, es mußte nichts natürlicher und nichts leichter für ihn sein, als sich loszureißen. Können wir doch keinen Tag und kein Jahr beginnen, ohne dem alten Lebewohl zu sagen; haben wir doch nichts auf dieser Erde, was wir unser Eigenthum nennen dürften, es ist ja Alles nur geliehenes Gut, das wir einst zurückzugeben haben; verschwindet doch die Herrlichkeit dieser Zeit und die Lust der Welt wie ein Morgentraum, wie ein Schattengebilde, und ist doch jede Minute, die da kommt, das Grab der vorhergehenden „Gehe hin mit Frieden“: so tönt es überall und entgegen, so ruft jeder Ort, den wir betreten, jedes Geschäft, das wir treiben, jedes Gut, das wir besitzen, jedes Buch, das wir lesen, jede Erfahrung, die wir machen, uns zu; man findet sich nur, um sich wieder zu trennen, man kommt nur, um zu geben, man wird nur geboren, um zu sterben; die Losung heißt: trenne dich! Bei dem Reichthum dieser Thatsachen sollte man, wie gesagt, meinen, sei nichts leichter und stehe uns nichts näher, als Scheiden und Gehen.

Und doch werden uns die Trennungsstunden, wenn sie wirklich eintreten, so schwer. Ach, die Herzen hatten sich gefunden, sie waren an einander gewachsen im Laufe der Monden, sie hatten sich kennen und lieben gelernt, und waren Eins geworden in ihren Ansichten, Überzeugungen, Neigungen und Grundsätzen - und eine einzige Stunde will das Alles vernichten, will die engsten Verhältnisse lösen und uns glauben machen, das Alles sei nicht da und sei nie da gewesen: ist das nicht schwer? In der Vergangenheit liegt eine Reihe von Erfahrungen, von Freuden und Leiden, von Kämpfen und Siegen, von Gebeten und Durchhülfen; gesegnete Erinnerungen haften an der gemeinsam durchlebten Zeit, Wunden wurden geschlagen, aber auch geheilt; Stürme tobten herbei, aber sie gingen vorüber; lange, schwere Passionswochen kamen, aber ein Ostermorgen folgte fröhlich nach; es fehlt sogar nicht an Stellen, die als Denkmäler sich aufrichten an diese großartigen Thatsachen, - und eine einzige Stunde will diese Vergangenheit Lügen strafen und die Erinnerungen aus dem Gedächtnis wegwischen und Denkmäler zerstören: ist das nicht drückend und schwer? Endlich thut sich eine dunkle, fremde Zukunft mit ganz neuen Schicksalen und Verhältnissen auf; was man hatte, weiß man; was man finden wird, weiß man nicht; und die Besorgnisse regen sich eben so mächtig wie die Hoffnungen, die Furcht macht sich nicht minder geltend wie die Freudigkeit, - und eine einzige Stunde bringt diese ungeheure Umwandlung hervor, und wie sie einst sprach: „komm her,“ so spricht sie jetzt: „gehe hin mit Frieden“: ist das nicht beengend und schwer? und muß dem Herzen in solchen Stunden nicht zu Muthe sein, als sollte es vor Wehmuth und Schmerz zerfließen? Ein Paar Augenblicke nur, und jahrelange liebe Verhältnisse sind gelöst, und die Freundesblicke begegnen sich nicht mehr, und die Gedanken und Gefühle suchen vergebens den gemeinsamen Austausch, und die Hände dürfen sich nicht weiter drücken, die Arme sich nicht umfassen, in den Leiden sollen wir von dem Geliebten keine tröstende Zusprache weiter empfangen und in unserer Sterbestunde soll er uns das brechende Auge nicht zudrücken! Ja, die Trennung ist so gut wie ein halber Tod, und das Wort: „zum letzten Male,“ das dann laut wird, hat einen eignen Klang wie Todtenglocken und Grabgeläut, übersetzt in die gewöhnliche Sprache, klingt es, als hieße es: „auf ewig“, und der Gruß: „gehe hin mit Frieden“, als wollte er sagen: „Gott verleihe dir eine selige Heimfahrt“. Man kann nicht behaupten, daß man solche Stunden durchlebt, man durchstirbt sie. Gewiß, auch Jonathan ward es nicht leicht, als David sich von ihm losriß; es war freilich nicht das letzte Mal, daß sie sich sahen, denn noch einmal begegneten sich ihre Schritte im spätern Leben, aber es hätte doch das letzte Mal sein können, und es heißt: „Sie küßten sich mit einander, und weinten mit einander, David aber am allermeisten“. Und was lesen wir von den Jüngern, als Jesus ihnen seinen nahe bevorstehenden Abschied aus dieser Welt und aus ihrer Mitte verkündete, und alle Anstalten getroffen waren, sein Wort zu erfüllen? Ihre Herzen wurden voll Trauerns, und Jesus selbst sprach: „Ihr werdet weinen und heulen, aber die Welt wird sich freuen, ihr aber werdet traurig sein“. Und von Paulus, als er Abschied nahm von den Ältesten der Gemeinde zu Ephesus? „Es ward aber viel Weinens unter ihnen Allen, und fielen Paulo um den Hals und küsseten ihn, am allermeisten betrübt über dem Wort, das er sagte: sie würden sein Angesicht nicht mehr sehen“.

Indes, wie schwer solche Trennungsstunden auch sein mögen für unser Fleisch und Blut, sie sind in einem Leben, das hienieden keine bleibende Statt hat, sondern die zukünftige suchen muß, und wo alle Wanderer Pilgrimme und Fremdlinge sind, unumgänglich nothwendig, und rechte Übungs- und Vorbereitungsmittel für die beiden größten Trennungen, welche wir Alle durchzumachen haben, wenn wir einst selig werden wollen, für die Trennung sowohl von unserm sündlichen, als von unserm sterblichen Ich. Ihr wißt ja Alle, wie der Mensch mit Millionen Ketten an sich selbst gebunden, wie die Selbstsucht die Quelle alles Elends und Verderbens in der Welt, und wie daher die erste und die letzte Bedingung zur Heiligung und Seligkeit keine andere ist als Selbstverleugnung, Kreuzigung seines Fleisches samt den Lüsten und Begierden, Losreißung und Trennung von sich selbst. Ihr wißt alle, daß Jesus erklärt: Wer sich nicht selbst verleugnet und nimmt sein Kreuz auf sich und folgt mir nach, der ist mein nicht werth. Und wer Vater oder Mutter, Sohn oder Tochter mehr liebt denn mich, der ist mein nicht werth. Und wer nicht absagt Allem, was er hat, der kann nicht mein Jünger sein. Wer die Hand an den Pflug legt und schauet zurück, der ist nicht geschickt zum Reiche Gottes. Die sich freuen, sollen sein, als freuten sie sich nicht; und die da weinen, als weinten sie nicht; und die da kaufen, als besäßen sie es nicht; und die dieser Welt brauchen, daß sie derselbigen nicht mißbrauchen“. Wie sollte je dies große Werk der Heiligung in uns zu Stande kommen ohne äußere Trennungen? Da muß der Mensch lernen willenlos werden, auf eigne Wünsche verzichten, sich selbst drangeben, auch den Freund und jede Creatur drangeben und Gottes Willen sich unterwerfen, und gibt es etwas Seligeres, als willenlos sein und gehorchen? Aber auch von unserm sterblichen Ich sollen wir loskommen, eine Trennung steht uns Allen bevor, die Scheidung der Seele vom Leibe, oder die Todesstunde. Da kommt es darauf an, daß man willig und freudig der Welt und ihren Gütern und Genüssen entsagen lerne, damit die letzte Stunde leicht werde; da muß jeder Wunsch von der Seele abfallen, wie das Laub von den Bäumen abfällt zur Herbstzeit; da verliert selbst die Verbindung mit den liebsten und nächsten Menschen auf Erden ihren Werth, weil alles Sichtbare den Augen entschwindet. Wie will man das aber können, wie will man selig sterben und in Frieden dahinfahren, wenn man nicht lebend sich ans Scheiden gewöhnt, wenn man nicht jeden Tag und jedes Verhältnis, in welchem man steht, so betrachten gelernt hat, als könnte es das letzte Mal sein, daß man sich desselben erfreut? Und wo lernt man das besser, wo wird man wenigstens an dieses Lernen mächtiger und eindringlicher erinnert, als in den Augenblicken, wo wir mit Wehmuth einem Abschied nehmenden Brüder zurufen: gehe hin mit Frieden?

II.

Doch genug von der äußern herben Seite der Trennungsstunden, laßt uns die Schale zerbrechen, um des lieblichen Kerns ansichtig zu werden und die innere, segensreiche Seite uns näher zu führen. Sie strahlt uns entgegen aus den Worten: „Was wir Beide geschworen haben im Namen des Herrn und gesagt: der Herr sei zwischen mir und dir, das bleibe ewiglich“. Zerlegen wir diese Worte in ihre einzelnen Bestandtheile, so ergibt sich aus ihnen kein geringerer Segen unserer Trennungsstunden als der, daß wir in ihnen mit ganz andern Augen unsere Verbindungen anschauen und mit ganz anderm Geiste sie fortsetzen lernen.

Wir werden nämlich in solchen Momenten, wo es heißt: „gebe hin mit Frieden“ inne, was wir an den Menschen, mit denen Gott uns zusammenführte, eigentlich gehabt, wie theuer und wie werth sie uns waren, welche Perlen und Kleinodien, welche Segnungen für unser Leben wir an ihnen besaßen, und wie wir Gott nicht genug danken können für das viele Gute, was er durch sie uns erwiesen. So lange wir bei ihnen waren und der Gedanke an eine nur mögliche Trennung ferne lag, trat uns ihr Werth auch wohl oft zu unserer Beschämung und Rührung entgegen, mir hätten ja undankbar sein müssen und gefühllos, wenn wir dafür unempfänglich gewesen waren! - aber neben ihrem Werth fielen uns zuweilen auch die Fehler und Schwachheiten in die Augen, welche jeder Mensch an sich hat, und trübten einigermaßen ihr liebes Bild; in der Trennungsstunde wissen wir von ihren Fehlern nichts mehr, sie sind vergessen, sie sind nie da gewesen; nur das Gute, was wir ihnen zu danken haben, nur der himmlische Segen, der auf ihrem Umgange lag, erfüllt mit Wonne und Entzücken unsere ganze Seele, und der einzige Schmerz, der beim Blicke auf sie uns ergreift, ist der, daß wir sie nicht genug geliebt und ihnen nicht genug gedankt haben. Indem wir aber so zum Bewußtsein ihres vollen Werths gelangen, thut sich uns zugleich ein neuer lieblicher Blick auf in die hohe Bedeutung der Liebe für's menschliche Leben; wir erkennen, daß es keine köstlichere Tugend, keine himmlischere Gesinnung, keine gottverwandtere Stimmung, kein bleibenderes Band gibt, als die Liebe, daß sie das schönste Gut der Erde ist und die Grundlage jedes äußern und innern Glücks, und daß wir nicht besser für uns und Andere sorgen können, als indem wir sie uns in recht reichem Maße vom Herrn erbitten. Aber die rechte Liebe wurzelt nur in der Gemeinschaft mit dem Herrn und in dem Glauben an ihn; von diesem Glauben losgerissen, ist sie nichts als verdeckte Selbstsucht, Wollust oder Ehrgeiz; man liebt dann den Andern nicht um des Andern, sondern um sein selbst willen, und sucht im Grunde nur sich in ihm. Die wahre Freundschaft wird im Glauben gestiftet und mehrt den Glauben; im christlichen Bunde ist Christus der Dritte, und das Band, was wahrhaft gottgefällig ist und allen Wechsel des Erdenlebens überdauert, besteht darin, daß man einander Werkzeug zur gegenseitigen Vervollkommnung und Besserung zu werden sucht, und nicht nur an des Andern Ergehen und Schicksal herzlichen Antheil nimmt, nicht nur ihn auf seine Fehler in Schonung aufmerksam macht, sondern vor Allem in der Glaubens- und Gebetgemeinschaft mit ihm steht und ihn zum Herrn hinführt und mit allen göttlichen Führungen zufriedener, gegen die Menschen liebreicher und im eigenen Herzen leichter und wohler macht. So war der Freundschaftsbund, den Jonathan mit David geschlossen; darum gedachten sie jetzt an jene heiligsten Stunden ihres Lebens zurück, darum sprach der Eine zum Andern: „was wir beide geschworen haben im Namen des Herrn und gesagt: der Herr sei zwischen mir und dir: das bleibe ewiglich“, und indem sie nun auseinander gingen für unbestimmte Zeiten, fühlten sie noch einmal recht tief, was sie an einander hatten in dem Herrn, und weinten mit einander; David aber am allermeisten. Saget selbst, ist solch ein Segen unserer Verbindungen nicht herrlich? und solche Frucht unserer Trennungsstunden nicht über alle Maßen lieblich und kostbar?

Doch nicht nur mit andern Augen schauen wir unsere Verbindungen an in solchen Trennungsstunden, in einem ganz andern Geiste auch setzen wir sie fort. Denn gelöset kann eine Verbindung, die im Herrn geschlossen ist, nimmer werden; äußerlich mag's geschehen, innerlich nie. „Was wir Beide geschworen haben im Namen des Herrn und gesagt: der Herr sei zwischen mir und dir, das bleibe ewiglich“, sagen die Scheidenden zu einander. Mag auch Berg und Thal, Meer und Land, Tausende von Meilen sie trennen: im Herrn bleiben sie bei einander. Mag auch die Zeit mit ihren wechselvollen Veränderungen und Ansprüchen sich an ihnen geltend machen: sie hebt nimmer auf, was in der Ewigkeit und für die Ewigkeit verbunden ist. Selbst der Tod, der alle Bande löset und jeglichem Dinge ein Ende macht, muß ohnmächtig zurücktreten; denn Liebe ist stärker, als der Tod. Wahre Christen sehen sich nie zum letzten Male, nie, nie!! und wenn diejenigen zittern und zagen, denen durch räumliche Nähe und Ferne Alles gegeben und alles genommen wird, wissen sie, daß nichts sie zu scheiden vermag von dem Grunde ihrer Seelen, es gibt für sie kein Hier und kein Dort, kein Jetzt und kein Einst, denn auf ewige Weise sind sie verbunden im Glauben und in der Liebe. Daher leben sie als die Getrennten und doch nicht Getrennten; denn ihr Leben ist Christus. Was sie verbindet, kann in keiner Trennung untergehen und ist vielmehr von der Art, daß es in der Trennung nur wachsen und zunehmen muß. O seliger, tröstlicher Gedanke! So seid ihr denn wahrhaft nicht von uns getrennt, ihr theuern Freunde, die ihr äußerlich von uns geschieden in weiter, weiter Ferne lebt: wir sehen freilich euer Angesicht nicht, wir hören freilich eure Stimme nicht, wir vernehmen höchstens auf todtem Blatte die Worte eures Glaubens und Vertrauens; aber das wissen wir: getrennt sind wir doch nicht, ihr betet für uns, wir beten für euch, auf Golgatha fühlen wir uns selig, und wäret ihr selbst schon heimgegangen und ständet vor dem Throne des Heilandes, auch dort gedenkt ihr unser in Liebe, und segnet und tröstet und erquicket uns mit himmlischem Segen, und einst vielleicht bald! sehen wir uns wieder vor seinem Throne von Angesicht zu Angesicht, um uns dann nimmer zu verlieren. Auch David und Jonathan blieben für immer vereint. Was sie im Texte einander zuriefen: „Was wir geschworen haben im Namen des Herrn und gesagt: der Herr sei zwischen mir und dir, das bleibe ewiglich“ - das blieb auch ewiglich. Nicht lange nachher sahen sie sich noch einmal wieder in der Wüste Siph und stärkten ihre Hand in Gott; das war denn freilich das letzte Mal ihres Zusammenseins; aber wie weit auch David auf der Flucht vor Saul umherirren und wie schwere Prüfungen Jonathan am Hofe bestehen mochte: die äußern drückenden Schicksale banden sie nur noch enger an den Herrn, der ihr Trost, ihre Stärke, ihre Zuversicht war für und für. Selige Frucht unserer Trennungsstunden, wenn sie dazu dienen, uns auf's Allerengste mit dem Herrn in Verbindung zu setzen, der der ewige Urfreund unserer Seelen, unser Fels und Hort, unser Anker und unsere Burg, unser Eins und Alles ist und bleibet immerdar! Dann sind sie gesegnete Stunden, und wie schwer sie auch unserm Fleisch und Blut werden mögen, in der That und Wahrheit führen sie uns dem Himmel näher, und in der Ewigkeit gewiß, vielleicht aber auch schon in der Zeit, werden wir Gott danken, daß er uns den Schmerz auferlegt und die Wunden geschlagen hat, die im Leben zu den schwersten und schmerzhaftesten gehören.

So wäre sie denn auch für uns gekommen, die entscheidende Trennungsstunde, geliebte, theure Domgemeinde! Glaubt es, sie wird mir schwer, sehr schwer, und auch euch - ich weiß es aus euren eigenen Bekenntnissen und habe der Beweise so viele in den Händen vor Allem euch, die wir uns näher gestanden, wird sie nicht leicht. Ach, es war ein schönes Band, was uns zusammenknüpfte; darum so schön, weil es ein heiliges Band war, weil es ein Band in dem Herrn Jesu Christo gewesen ist. Vier reiche, unvergeßliche Jahre liegen hinter uns, mit seltenen Begegnissen und Erfahrungen ausgestattet; Manches haben sie uns gebracht, Manches genommen; Wunden haben sie uns geschlagen, aber auch Wunden verbunden und geheilt; Veränderungen haben sie herbeigeführt, aber die Veränderungen waren gut und ein Segen für unser Leben; und die Stunden alle, die wir gemeinsam an heiliger Stätte verlebten während dieser Zeit, in den engern gemüthlichern Räumen des hohen Chores, als eure beiden vollendeten Lehrer noch unter euch das göttliche Wort verkündigten, wie hier in den weitern Streifen, als die Cholera wüthete, als die erledigten Stellen so unvergleichlich herrlich wieder besetzt wurden, als der geliebte König in unserer Mitte weilte, gehören zu den gesegnetsten Stunden unseres Lebens. Insbesondere kann ich Gott nicht inbrünstig genug auf meinen Knien dafür danken, daß er zu euch mich geführt hat; denn er hat wir nicht bloß durch euch so viel liebes und Gutes erwiesen, daß ich dessen zeitlebens eingedenk bleiben werde und mich völlig unwerth halte aller Barmherzigkeit und Treue, die er an mir gethan bat; er hat mich auch an euch, wenigstens an vielen unter euch, die herrlichsten Früchte des Predigtamtes erleben lassen. Ich meinte, es sollte der Aufenthalt in eurer Mitte nur eine Schule der weitern Fortbildung für mich sein, und stehe, der Herr hat mich zugleich als Werkzeug zur Ausbreitung seines Reiches gebraucht und das schwache Wort gesegnet, und ihr habt euch aus der Nähe und aus der Ferne immer wieder um den heiligen Lehrstuhl gesammelt und habt euch durch Nichts irre machen lassen, und habt euch gefreut, daß hier in unserer Domkirche Gottes Wort allezeit rein und lauter verkündigt wurde, und seine beglückenden Wirkungen an eurem Herzen reichlich erfahren. Ja, ich darf es auch euch zum Ruhme bekennen: ich war ein gesegneter Prediger unter euch, und Gott hat überschwänglich mehr an mir gethan, als ich bitten und verstehen konnte. War es da nicht verzeihlich, wenn wir bisweilen gegenseitig den süßen Wunsch nährten: es möchte unsere Verbindung eine bleibende, eine unauflösliche sein können, und wenn auch ich mich hineinlebte in den Gedanken: daß der Umgang mit euch eine schlechthin nothwendige Bedingung meines Daseins und meines Glücks wäre? Indes der Herr hat nach seinen weisen und gnädigen Rathschlüssen anders entschieden, er spricht: „Gehe hin mit Frieden,“ und nicht wahr, ihr Lieben? ihr rufet es in alter treuer Liebe heute, wo wir zum letzten Male an dieser Stätte uns begrüßen, mir auch zu: „Gehe hin mit Frieden“? Nun, ich will mit Frieden ziehen, wohin der Herr ruft und weil Er ruft; aber Euch drängt mich mein Herz zuvor noch einmal im Namen des Herrn zu segnen um der unfaßbaren Liebe willen, die ihr mit erwiesen, und euch öffentlich zu danken für das Vertrauen, das ihr mir geschenkt, für die Anhänglichkeit und Treue, die ihr mir bewahrt, für die Geduld, die ihr mit meinen Schwächen gehabt, für die Nachsicht und Milde, die ihr mir widerfahren lassen, für die Stärkungen des Glaubens alle, die ich bei euch erfahren habe, und euch zu versichern, daß eure Stadt, und diese Kirche, und du, liebe Gemeinde, mit unauslöschlichen Zügen in meinem Herzen eingegraben stehest, und meine Blicke und Gebete oft wehmuths- und sehnsuchtsvoll zu dir zurückkehren werden. Und wie soll ich Euch meinen Dank zu erkennen geben, ihr theuern geliebten Amtsbrüder und Hirten an dieser Gemeinde, die Ihr durch Euren erbaulichen Umgang, durch Eure Anleitung in der Verwaltung des Amtes, durch Euer Vorbild in Lehre und Wandel, durch die Übereinstimmung im Glauben und in der Liebe, in welcher wir unter einander standen, mich reich gemacht habt in allen Stücken, und mir nie Vorgesetzte, sondern allezeit Freunde, Brüder, Väter in Christo waret? Ach, mehr als je fühle ich heute, was ich an Euch verliere, und wie Euer Verlust in vieler Hinsicht mir völlig unersetzbar ist, und nie, nie kann die Dankbarkeit für Alles, was Ihr mir gewesen seid, in meiner Herzen erlöschen. Möge Gott Euch segnen und lohnen, - ich vermag es nicht - Euch segnen an Euren Herzen, in Euren Häusern, in Eurem Amte, in Eurer Gemeinde, und noch lange, lange Euch zur Leuchte hinstellen für Stadt und Provinz und durch Euch das evangelisch-christliche Leben in der Kirche fördern und erhalten! Und so wollen wir denn heute zum letzten Male einander die Hand reichen und uns ins Auge schauen und uns Lebewohl sagen, und dann gehen, wohin der Herr ruft. Was wir aber beide geschworen haben, im Namen des Herrn und gesagt: der Herr sei zwischen mir und dir, das bleibe ewiglich. In Christo wollen wir verbunden bleiben, und es einander zugeloben vor dem Angesichte des Herrn: aus der Gemeinschaft mit ihm, dem treuesten Freunde unserer Seelen, der da gestern und heute und derselbe ist in Ewigkeit, und der uns überall bleibt and uns nimmer verlaßt, soll uns Nichts reißen; Wir wollen nur immer fester zu werden suchen in dieser seiner Gemeinschaft, wir wollen nur immer eifriger forschen in der Schrift, und immer treuer anhalten im Gebet, damit Christus uns recht tief ins Herz dringe und recht lebendig und wahr werde das höchste und alleinige Gut unserer Seele, auf das wir leben und auf das wir sterben wollen. Dann werden wir heute nicht von einander getrennt, es ist nur eine Scheintrennung, dem Wesen nach sind und bleiben wir verbunden, und unsere Verbindung ist für die Ewigkeit geschlossen; dann werden wir uns freuen, wenn wir uns noch einmal begegnen und uns wiedersehen sollten, und wir werden uns begegnen und wiedersehen, sei es unter dem Himmel, sei es in dem Himmel; dann werden wir nicht zittern vor dem großen Tage, an welchem Jesus Christus uns einander gegenüberstellen und uns fragen wird: ob und wie wir die verflossenen vier Jahre benutzt haben? denn wir werden von heute an gewissenhafter denken an unser Seelenheil und mit Furcht und Zittern schaffen, daß wir selig werden; dann werden endlich nach den Ostertagen der Erde die Pfingsttage des Himmels uns aufgehen, an denen wir reden werden mit neuen Zungen und die großen Thaten Gottes verkündigen. Mag auch schauerlich und wehe in unsern Ohren klingen das Abschiedswort: „Gehe hin mit Frieden“, der Trost wird uns erquicken und himmlisch wohlthun: „Was wir geschworen haben im Namen des Herrn und gesagt: Der Herr sei zwischen mir und dir, das bleibe ewiglich.“

Und nun, lieben Brüder, befehle ich euch Gott und dem Worte seiner Gnade, der da mächtig ist, euch zu erbauen und zu geben das Erbe unter Allen, die geheiliget werden, und rufe euch mit tiefbewegtem, dankbaren, und euch ewig angehörendem Herzen zu: Lebet wohl, lebet Alle wohl! Die Gnade unsers Herrn Jesu Christi, und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit Euch Allen. Amen.

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