Arndt, Johann - Erbauliche Psalter-Erklärung - Psalm 22, Vers 13-22.
Euch sage ich allen, die ihr vorübergeht, schaut doch und seht, ob irgend ein Schmerz sei wie mein Schmerz, der mich getroffen hat; denn der HErr hat mich voll Jammers gemacht am Tag seines grimmigen Zornes. Dieses Wort des Propheten Jeremias (Klagel. 1,12) mögen wir auch wohl heute sagen von dem gekreuzigten HErrn JEsu Christe, dessen Schmerzen alle Schmerzen der Welt übertreffen, dergleichen Jammer und Elend die Sonne nie gesehen. Denn weil Christus der Welt Sünde getragen und die Strafe aller Sünden, weil er den ganzen und vollkommenen Zorn Gottes und Fluch auf sich genommen, darum sind auch seine Schmerzen gewesen die Schmerzen der ganzen Welt; und weil in Christo die edelste, reinste, heiligste Menschennatur war, darum empfand er auch die Schmerzen am allerheftigsten. Von dem äußern Leiden Christi weissagt nun der folgende Text.
V. 13. 14. Große Farren haben mich umgeben, fette Ochsen haben mich umringt; ihren Rachen sperren sie auf wider mich wie ein brüllender und reißender Löwe. Hier klagt der HErr über die Gewalt, die Grausamkeit und den Grimm seiner Feinde. Große Farren haben mich umgeben; damit deutet der HErr die Gewalt seiner Feinde an. Fette Ochsen haben mich umringt; damit weist er auf die Grausamkeit und Frechheit seiner Feinde hin; denn ein starker, grimmiger Ochse ist ein mörderisches Tier. Das waren die geistlichen Obersten im Volke. Ihren Rachen sperren sie auf wider mich, wie ein brüllender und reißender Löwe. Ein Löwe, wenn er hungrig ist, brüllt nach dem Raube, dass alle Tiere vor seiner Stimme erschrecken. Damit bezeichnet der HErr die große Unsinnigkeit und Blutgier der Feinde, dass sie so hungrig und durstig gewesen sind nach seinem Blut, als immer ein hungriger Löwe nach dem Raub sein kann.
Dieses erste äußerliche Leiden des HErrn war eine Strafe unserer Sünden und nichts anderes, denn der Grimm und die Grausamkeit des leidigen Satans, welcher in den Feinden Christi gewütet und getobt hat. Denn also ist der leidige Satan gegen uns alle gesinnt und hat solchen grimmigen Zorn gegen uns, dass er uns alle mit Leib und Seele gerne verschlingen wollte, und hätte uns auch ewig verschlungen, wenn uns nicht Christus durch sein bitteres Leiden davon erlöst hätte, indem er diesen Grimm auf sich nahm. So sagt ja auch St. Petrus (1 Br. 5,8) vom Teufel, er gehe umher wie ein brüllender Löwe und suche, welchen er verschlinge.
Das zweite äußerliche Leiden des HErrn sind seine unsäglichen Leibesschmerzen.
V. 15. 16. Ich bin ausgeschüttet wie Wasser, alle meine Gebeine haben sich zertrennt, mein Herz ist in meinem Leib wie zerschmolzenes Wachs. Meine Kräfte sind vertrocknet wie ein Scherben, und meine Zunge klebt an meinem Gaumen, und du legst mich in des Todes Staub. Gleichwie man unreines Wasser ausschüttet und weggießt, weil es Niemand achtet, so geht es mir auch, klagt der HErr; mein Blut ist aus meinem Leib alles ausgeschüttet wie Wasser und so unwert geachtet wie unreines Wasser, und ist doch die höchste Reinigung der Sünden. Die großen Schmerzen haben mir die Gelenke zerrissen, und der natürliche Lebensgeist, der im Herzen wohnt, leidet solche Not, dass mir das Herz im Leib zittert, pocht und wallt vor Angst wie Wachs im Feuer. Und wie die Hitze einen Scherben austrocknet, so hat die große Traurigkeit meinen Leib ausgedorrt und ausgemattet. Vor Ohnmacht kann ich nicht mehr reden, noch die Zunge aufheben; die Sprache vergeht mir, und ich erwarte nun nichts anderes als den Tod.
Es sind die Schläge des Zornes Gottes gewesen, die ihn also zerschlagen, unsere Missetaten, die ihn also verwundet haben. Wenn sich im alten Testament ein Knecht an seinem Herren versündigte, so wurde er geschlagen und gestäupt bis aufs Blut. Dieser gerechte Knecht Gottes hat unsere Schläge und Striemen auf sich genommen, dass wir davon befreit würden. Nicht er hat es verdient, sondern wir, und eben darum, weil er unschuldig für uns gelitten, darum sind seine Schläge unser Friede und seine Wunden unsere Heilung. Und wie wir alle unsere Glieder gebraucht haben zu Waffen der Ungerechtigkeit, so mussten Christi Glieder Waffen der Gerechtigkeit werden und durch ihre Schmerzen unsere Sünden büßen. Und weil das Herz des Menschen die Brunnquelle ist alles Bösen, so hat der HErr am meisten an seinem heiligen Herzen gelitten.
V. 17. Denn Hunde haben mich umgeben, und der bösen Rotte hat sich um mich gemacht; sie haben meine Hände und Füße durchgraben. Hier klagt der HErr, seine Feinde seien, nachdem sie es so weit mit ihm gebracht, dass sie ihn an's Kreuz schlagen wollten, mit ihm umgegangen nicht wie Menschen, sondern wie unbarmherzige Hunde; er sei einer Rotte preisgegeben, bei denen gar keine Gottesfurcht, keine Barmherzigkeit, kein Mitleiden zu finden sei. Weil Gott all seinen Zorn über ihn ausgegossen, so waren auf ihn alle Feinde so ergrimmt und trachteten nach seinem Blut; aber eben dadurch hat er den Zorn Gottes von uns abgewandt und uns mit Gott versöhnt, dass der gerechte Zorn Gottes an ihm erfüllt wurde. Sie haben meine Hände und Füße durchgraben. Da bedenkt nun, wie der HErr mit Händen und Füßen an's Kreuz genagelt am Holze hängt als ein Fluch, was die höchste Schmach ist, ja das höchste Leiden auf Erden. Es ist eine tiefe Klage, wenn er sagt: sie haben meine Hände und Füße durchgraben, damit ich doch Jedermann gedient habe: meine Hände, das mit ich der Blinden Augen aufgetan, Aussätzige angerührt und gereinigt, Tote erweckt, damit ich gesegnet habe; meine Füße, darauf ich gekommen bin als ein Bote Gottes, sein Heil zu verkündigen und der Schlange den Kopf zu zertreten! Er hat aber seine Hände und Füße durchgraben lassen, auf dass er uns in seine Hände zeichnete und bezahlte, das er nicht geraubt hat (Jes. 40,16. Ps. 69,6); er hat seine Füße durchgraben lassen, auf dass er unsere Füße richte auf den Weg des Friedens (Luk. 1,79. Jes. 52,7). Da der HErr also am Holz hing, da ist er die edelste Frucht geworden, so je ein Holz oder Baum getragen. Adam hat von der Frucht des verbotenen Baumes den Tod gegessen; wer von der Frucht dieses Baumes isst, der wird das Leben essen.
V. 18. Ich möchte alle meine Beine zählen. Sie aber schauen und sehen ihre Luft an mir. Meine Gestalt ist verfallen und ist alt worden, denn ich allenthalben geängstigt werde (Ps. 6,8). Ach der Schönste unter den Menschenkindern, wie ist nun seine Gestalt hässlicher geworden denn andrer Leute, und sein Ansehen, denn der Menschenkinder (Ps. 45,3. Jes. 52,14). So haben ihn unsere Sünden zugerichtet; er hat unsere Augenlust und Fleischeslust und hoffärtiges Leben büßen müssen mit so vielen peinlichen Schmerzen; und weil in unserem Fleisch nichts Gutes wohnt, so hat Gott die Sünde im Fleisch durchs Fleisch verdammt, nämlich durch Christi Fleisch, dadurch er uns das Leben gegeben.
Sie aber schauen und sehen ihre Lust an mir. Das ist eine schreckliche Strafe unserer Sünde, dass der HErr der Allerverachtetste und Elendeste sein musste unter allen Menschenkindern; damit hat er unsere Eigenliebe und Ehrsucht, die uns angeboren ist, büßen müssen. Wenn sonst arme Sünder um ihrer Missetat willen hingerichtet werden, so hat man doch Mitleid mit ihnen und tröstet sie; aber an des HErrn Christi unschuldigem Leiden und schrecklichen Elend sehen sie ihre Freude. Das ist aber ein Zeichen, dass in diesen Leuten der grimmige Teufel ist. Denn sonst ist es wider alle menschliche Natur, mit so großem Elend kein Mitleid und Erbarmen haben.
V. 19. Sie teilen meine Kleider unter sich und werfen das Los um mein Gewand. Das ist in Joseph vorgebildet, da seine Brüder ihm seinen bunten Rock auszogen und denselben seinem Vater Jakob zuschickten und ihm sagen ließen: siehe ist das deines Sohnes Josephs Rock? Da antwortete Jakob: ach ein wildes Tier hat meinen Sohn Joseph zerrissen (1 Mos. 37,32.33). So möchten wir auch wohl sagen von dem HErrn Christo: ach, ein wildes Tier, die grausame Sünde, und grimmige Feinde haben Joseph zerrissen. Die Strafe unserer Sünden, die Blöße, hat der Sohn Gottes leiden müssen; denn weil der erste Adam das Kleid der Unschuld verloren hat, musste es der andere Adam mit bloßem Leibe büßen. Er hat mit blutigem Leibe am Kreuze sterben müssen und mit offenen, unverbundenen Wunden, auf dass er das rechte Opfer würde, dadurch Gott versöhnt wird.
Dies äußere Leiden beschließt der HErr mit dem Gebet:
V. 20. Aber du, HErr, sei nicht fern; meine Stärke, eile mir zu helfen. So nah mir die Feinde sind und der Tod, so nah musst du mir auch sein. Ich bin schwach und habe keine Kraft mehr, du musst meine Stärke sein.
V. 21. Errette meine Seele vom Schwert, meine Einsame von den Hunden, von den Mördern, die mir das Leben nehmen wollen, dass ich ihnen nicht zu Teil werde.
V. 22. Hilf mir aus dem Rachen des Löwen und errette mich von den Einhörnern; denn ich bin ein Raub geworden der grimmigen Löwen und bin unter die zornigen Einhörner geraten.
Da lernen wir, wie sich der HErr in großen Nöten verhalten, und wie er seinen Trost auf Gottes Hilfe gesetzt hat, um damit anzudeuten, dass keine Not so groß ist, daraus nicht Gott helfen könne. Darum sollen wir fest an Gott halten in den äußersten, größten Nöten und mitten im Tod auf ihn hoffen. Denn wie Christus errettet ist aus seinem großen Elend, so werden alle seine Glieder gewisslich errettet werden um seines Leidens und Sterbens willen. Wir sehen aber auch welch große Anfechtung unser Erlöser leidet, welche Schrecken des Herzens, welch große Angst. Dennoch aber betet er und hält sich fest an Gottes Verheißung und versprochene Hilfe, ob er gleich mitten im Tod ist. Solcher kämpfende und ringende Glaube hat zum Grund die wunderbare Vereinigung der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit in Gott. Gott ist gerecht und tut Niemand unrecht, wenn er straft; er ist aber auch barmherzig und ist mitten im Zorn eingedenk der Barmherzigkeit: HErr, wenn Trübsal da ist, so denkst du der Barmherzigkeit und lässt Niemanden versucht werden über Vermögen (Hab. 4,2. 1 Kor. 10,13). Ob nun wohl die Gerechtigkeit Gottes uns züchtigt und uns erschreckt, so denkt doch der Glaube an Gottes Barmherzigkeit, und daher kommt es denn, dass die Gläubigen bald klagen, weinen und heulen, bald wieder sich mit Gottes Barmherzigkeit trösten und mit aller Zuversicht beten. Es gründet sich aber der Glaube auch auf Gottes Allmacht; Gott ist ja stärker denn alle unsere Feinde, Sünde, Tod, Teufel, Hölle und Welt, und diese alle hat Christus überwunden, und siegt und überwindet sie noch in uns. Nur müssen wir Gott bitten in unserer Schwachheit, dass unser Glaube nicht aufhöre, sondern ritterlich kämpfe, siege und überwinde durch Christum. Endlich aber sieht der Glaube auch auf den Ausgang des Kreuzes, dass es nach Gottes Verheißung sich schließlich in Freuden enden muss und einen fröhlichen Ausgang haben wird, also dass dieser Zeit Leiden nicht wert sind der Herrlichkeit, die an uns soll offenbart werden (Röm. 8,18).
Wir haben hier aber auch zu betrachten die unaussprechliche Liebe Christi gegen das menschliche Geschlecht. Diese bezeugt uns die Größe und Schwere seines Leidens, die große Seelenangst, die Leibesschmerzen, sein schmachvoller Tod. Wer kann diese Liebe ausdenken oder ergründen? Darum wünscht uns St. Paulus (Eph. 3,18), dass wir möchten erkennen die Höhe, die Tiefe, die Länge und die Breite der Liebe Christi: sie reicht bis in den Himmel hinauf, sie reicht bis in die Hölle hinab; sie reicht bis an den Morgen und bis an den Abend und breitet sich aus über den ganzen Erdenkreis. Und Alles tut der HErr so freiwillig und ungezwungen, so ganz geduldig und sanftmütig ohne alle Widerrede. Darum preist Gott seine Liebe gegen uns, dass Christus für uns gestorben ist, da wir noch Sünder waren (Röm. 5,8).
Wir sollen hier ferner bedenken, was es doch um die Sünde sei, die so gering geachtet wird. Der Sohn Gottes hat nicht mit bloßer Fürbitte für uns den Zorn Gottes stillen und die Sünde hinwegnehmen können, wie Moses oft den ungehorsamen Israeliten durch seine Fürsprache Vergebung erbat, sondern Gott hat die Sünde so schrecklich strafen wollen an seinem lieben Sohn, dergleichen Strafe die Sonne nicht gesehen, und hat der Sohn Gottes mit so schrecklichem Tod unsere Sünde bezahlen und büßen müssen. Dadurch sollen wir nicht allein zu herzlicher Danksagung gegen den Sohn bewogen werden, sondern sollen auch der Sünde feind werden, welche der HErr so schwer hat büßen müssen. So sollen wir denn vor jeder Sünde erschrecken, so oft wir an Christi Leiden denken.
Die Früchte aber des Leidens Christi bestehen darin, dass Christus unsere Sünde vollkommen bezahlt, uns davon befreit und erlöst, und uns mit seinem Blut also gereinigt hat, als ob wir nie eine Sünde gehabt hätten. Denn die Reinigung durch das Blut Christi ist vollkommen, viel größer als die Befleckung und Vergiftung in Adam, und hat uns vollkommen gerecht gemacht. Durch Christum sind wir vom Zorn Gottes vollkommen erlöst und aufs Allerhöchste mit Gott versöhnt, so dass Gott keinem Gläubigen zürnen kann. Durch ihn sind wir vom ewigen Fluch erlöst und mit ewigem Segen begnadigt, vom Satan erlöst und in die Zahl der heiligen Engel aufgenommen, von Tod und Hölle erlöst und beschenkt mit dem ewigen Leben und Seligkeit und allen himmlischen Gütern. Amen.