Ahlfeld, Friedrich - Das Alter des Christen - XVI. Der Tod des Christen.

Ahlfeld, Friedrich - Das Alter des Christen - XVI. Der Tod des Christen.

Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg? Gott sei Dank, der uns den Sieg gegeben hat durch unsern Herrn Jesum Christum.
(1 Kor.15,55 und 57).

Nur wenige fast ganz um das Paradieseserbteil gekommene Völker leben der Meinung, dass mit dem Tode Alles aus sei. Diese versunkensten Heiden, als die Kaffern, Buschmänner, Papuas etc. haben in unsern Tagen Glaubensbrüder bekommen an vielen gelehrten und ungelehrten Materialisten. Die da sprechen: „Es ist kein Gott,“ die müssen auch fortfahren: „Mit dem Tode ist Alles aus.“ Hält und trägt kein ewiger Geist die Welt, walten in ihr nur ihrer selbst unbewusste Kräfte, dann wohnt auch im Menschen kein ewiger Geist, dann walten auch in ihm nur die von irdischen Stoffen erzeugten und genährten Kräfte. Dann blühet und verwelkt er wie eine Blume, dann lebt und stirbt er wie ein Tier. Nur ist sein Todesschmerz schwerer, weil sein Bau ein feinerer und sein Gefühl ein tieferes ist. Unbarmherzig zerdrückt ihn der Tod für immer wie die Sohle des Wanderers den Wurm. Wenn solches Sterben nicht in völliger Stumpfheit geschieht, schließt es einen unermesslichen Schmerz in sich, und dazu noch den größten Selbstbetrug. Wenn gewisse asiatische Völker und gewisse Gelehrte unseres Volkes bei solchem Glauben noch stolze Worte reden vom Aufgehen und von der Versenkung in das All und von der Süßigkeit und Seligkeit dieses Fortlebens im Ganzen, so ist dies nur ein Rausch. Wo keine Persönlichkeit und kein Selbstbewusstsein bleibt, da kann auch keine Freude und Seligkeit sein. In der Regel schlagen schon das Alter und die Krankheiten, diese Vorarbeiter des Todes, solchen Rausch gründlich nieder.

Die meisten Heidenvölker glauben an ein Fortleben nach dem Tode, und die Freude auf ihren Tod oder die Furcht vor demselben gestaltet sich nach dem Bilde, welches sie sich von dem Jenseits machen. Vielen Völkern ist das Leben droben nur eine Fortsetzung von dem irdischen. Der amerikanische Indianer jagt in der andern Welt wieder, wie er hier am Susquehannah oder am Colorado gejagt hat. Stirbt er als ein Kind, das mit dem Bogen oder der Büchse noch nicht umgehen kann, so muss er dort Not leiden. Ist er hier ein schlechter Schütze gewesen, so trifft er dort auch nicht; hungrig und mager wandert er in den neuen Gefilden umher. Die Mohammedaner wollen ihr träges Leben in Wollust und anderer Fleischesfreude auch droben fortsetzen, ja es soll sich dort erst zur vollen Üppigkeit und Blüte entfalten. Nach dem Glauben der `Hindus muss die Seele der Verstorbenen so und so oft in Tier- oder Menschenleiber zurückkehren. Sie hat einen fast unendlichen Reinigungsprozess durchzumachen, bis sie endlich nach Millionen von Jahren in die volle Seligkeit eingeht. Aber irgend eine kleine Übertretung der Braminensatzungen in einem neuen Menschenleibe kann sie wieder auf Jahrtausende zurückwerfen. Die alten Kulturvölker, die Griechen und Römer, hatten in ihrem Jenseits eine Dreiteilung. An der Strafstätte wurden die, welche sich an Göttern und Menschen gröblich versündigt, ewig gepeinigt. Die große Masse, die weder im Guten noch im Bösen Sonderliches getan hatte, führte in ihrem Totenreiche ein Schattenleben ohne Erinnerung, ohne Freude und ohne Schmerz. Nur den hervorragenden Helden und Wohltätern der Völker war eine Art Himmel im Elysium bereitet. Unsere deutschen Vorfahren hatten in ihrem Heidentum ähnliche Vorstellungen von dem Jenseits. Die Gottlosesten, die Vater- oder Muttermörder, die Eid- und Bund- und Treubrüchigen gingen im Tode nach Nastrand, dem Hause des Schreckens, dessen Dach mit Schlangen gedeckt war, die ihr Gift in den dunkeln Raum spien. In diesem Gifte mussten die Verdammten waten. Die große Masse des Volkes, namentlich Alle, welche an Krankheit und Alter gestorben waren, wanderten hinunter zu der halb schwarzen und halb menschenfarbigen Göttin Hel, deren düsteres Haus tief unter der Erde gedacht wurde. Bei ihr führten die Gestorbenen ein kümmerliches Leben; ihre Schüssel hieß Hunger, ihr Messer Mangel. Nur die auf der Walstatt gefallenen Tapferen führten Odins Wunschjungfrauen (die Walküren, die auf der Walstatt Odins Teil führen oder auswählen) nach Walhalla (der Halle der auf der Walstatt gefallenen Tapferen). Dort bewirtete sie ihr Gott mit Met und Eberfleisch, dort lebten sie in den drei Hauptfreuden ihres Erdenlebens: Kampf, Trunk und Spiel weiter. So stieg denn der im Alter oder an Krankheit Sterbende traurig hinunter zu seiner düstern Hel, und der Krieger mit seinen Todeswunden zog stolz und jubelnd hinüber in Odins Halle, die 540 Türen hatte, zu deren jeder 800 Helden zugleich eintreten konnten. Abgesehen von diesen Helden, deren Seelen doch auch, wenn sie den Leib verlassen, umsonst nach ihrem Walhalla suchten, kam der Tod allen als ein König der Schrecken. Alle Vorstellungen von ihm drücken Trauer aus. Er kommt als Schnitter mit der Sichel; die Menschen sind das Gras und die Blumen, die er abschneidet. Er kommt als Schütze und richtet seinen Pfeil auf das Leben der Menschen. Er löscht das Licht aus und kreuzt seine Hände über den toten Stumpf. Oder er kommt als Bote eines Gottes, und Niemand heißt ihn willkommen. Alle Heiden mussten aus Furcht des Todes im ganzen Leben Knechte sein.

Wie anders schauen die Christen den Tod an! Was hat Jesus Christus an uns getan! Er, und er allein, hat dem Leben, dem Tode und der Ewigkeit eine neue Gestalt gegeben. Er erlöste die, so durch Furcht des Todes im ganzen Leben Knechte sein mussten (Hebr. 2,15). Vom Ostermorgen, von dem offenen Grabe des Herrn geht ein heller Schein aus, der deine Sterbestunde, dein Grab und die ganze Ewigkeit erleuchtet. Er hat dem Tode die Macht genommen, und das Leben und ein unvergänglich Wesen an das Licht gebracht (2 Tim. 1,10). Er ist die Auferstehung und das Leben. Wer an ihn glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe (Joh. 11,25). Er führt nicht allein die Seelen seiner Getreuen nach dem Sterben durch seine Engel in das selige Freudenleben, sondern erweckt und verklärt auch an dem großen Tage der Heilsvollendung den toten Leib zu einem herrlichen und unvergänglichen. - Die heilige Schrift hat fünf große Kapitel, die uns wie fünf Finger an einer Hand den ganzen Heilsweg zeigen. 1 Mose 3 erzählt uns, wie der Mensch aus eigner Wahl und Schuld in die Sünde und in den Tod gegangen ist. Ev. Johannis 3 tröstet uns mit der Botschaft, dass Christus in die Welt gekommen ist, damit der dem zeitlichen und ewigen Tode verfallene Mensch zu einem neuen göttlichen Leben wieder geboren werde. Paulus unterweist uns Römer 3, wie wir die Gerechtigkeit aus dem Verdienste Christi und mit ihr das neue Leben im Glauben ergreifen müssen. Derselbe Apostel malt uns 1 Kor. 13 vor, wie sich aus dem Glauben, aus dem verborgenen Leben mit Christo, das Leben mit den Brüdern gestalten soll. Und endlich lässt er 1 Kor. 15 das selige Osterlicht hinscheinen über Tod und Grab. Was sind das für warme und helle Strahlen! - Lieber Alter, du hoffst nicht allein in diesem Leben auf Christum; er birgt gleich in deiner Sterbestunde deine Seele in sein heiliges Zelt. Auch deine Seele tragen die Engel in Abrahams Schoß. Und was geschieht mit deinem Leibe? Wenn du draußen auf deinem Felde im Herbst Roggen oder Weizen gesät hast, dann deckst du ihn zu, faltest die Hände über deiner Aussaat und betest, dass sie der Herr aufgehen und gedeihen lassen wolle. Dann gehst du heim und sorgest nicht. Ob es auch im Winter friert und stürmt und schneit, du weißt doch, dass im Frühjahr die junge Saat dastehen und der Ernte entgegen wachsen wird. So ist auch der Gottesacker ein Saatfeld Gottes, dein Grab ist die Furche und dein Leib das Samenkorn. Wenn es in seine Furche gesät ist, decken sie es auch zu und beten darüber und denken an Pauli Wort: „Es wird gesät verweslich, und wird auferstehen unverweslich; es wird gesät in Unehre, und wird auferstehen in Herrlichkeit; es wird gesät in Schwachheit, und wird auferstehen in Kraft; es wird gesät ein natürlicher Leib, und wird auferstehen ein geistlicher Leib.“ - Der Tod ist zwar der Sünden Sold; aber Gottes unergründliche Barmherzigkeit und das Wunderwerk der Liebe, welches dein Heiland vollbracht, hat ihn umgewandelt in einen Boten Gottes, der deine Seele und deinen Leib zur herrlichen Vollendung und Seligkeit führen muss. Darum kannst du fragen: „Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?“ Und du kannst jubelnd antworten: „Gott aber sei Dank, der mir den Sieg gegeben hat durch meinen Herrn Jesum Christum!“

Wenn nun der Tod kommt, so erschrick nicht vor seinem rauen Angesicht und vor der harten Hand, mit welcher er dich anfasst. Die hat und behält er einmal von seinem Ursprunge und von seinem ersten Beruf her. Er ist von Gott zur Strafe der Sünde geordnet, und Sünder sind wir Alle. Denke aber gleich daran: „Er ist doch ein lieber Bote, der mich in die Heimat und zu meinem Vater und Heiland holen soll! Er ist doch ein lieber Bote; denn er macht mit einem Weh allem Weh ein Ende! Er ist doch ein lieber Bote; denn er bringt mich aus der Wüste nach dem wahren Kanaan, wo Milch und Honig fließt! Und seine Arbeit währt nicht lange, es ist ein schneller Übergang. Den Abend lang währet das Weinen, aber des Morgens die Freude (Psalm 30,6). Er ist mir doch ein lieber Bote; denn er bringt mich zu meinen entschlafenen Freunden, über die ich so lange getrauert habe! Ich traure nicht mehr, sie sind mir jetzt so nahe wie die Lebenden. Ja sie sind mir gewisser denn diese; keine Versuchung kann sie mehr von ihrem Herrn und, wie ich hoffe, von mir trennen.“

Jesajas Wort (Kap. 26,29 u. 30), wird in Erfüllung gehen: „Deine Toten werden leben und mit dem Leichnam auferstehen. Wachet auf und rühmet, die ihr lieget unter der Erde; denn dein Tau ist ein Tau des grünen Feldes. Gehe hin, mein Volk, in deine Kammer, und schließe die Tür nach dir zu; verbirg dich einen kleinen Augenblick, bis der Zorn vorübergehe.“

Und so kann es geschehen, dass du fröhlich und gewiss in deinem Glauben ohne alle Anfechtung hinüberwanderst in das neue Eden. Du gehst den Weg so fest, wie wenn du ihn schon zehnmal gewandert wärest.

O wie bald kann Gott es machen,
Dass mit Lachen
Unser Mund erfüllet sei.
Er kann durch des Todes Türen
Träumend führen:
Dann sind wir auf einmal frei.

So kann es geschehen - es geschieht aber nicht immer so. Auch noch in der letzten Stunde kannst du in Anfechtung fallen. Der Feind will das Schiff noch dicht vor dem Hafen zum Scheitern bringen. Du kannst schwanken im Glauben und fragen, ob es denn wahr sei mit dem Heil in Christo Jesu, und ob es überhaupt ein ewiges Leben gebe. Oder der Feind malt dir deine Sünden in den schwärzesten Farben vor und sucht dir einzureden, dass du an der Gnade in Christo keinen Teil habest. Oder er verdächtigt dir deinen Glauben und flüstert dir zu: „Das ist noch lange nicht der Glaube, durch welchen man in den Himmel eingeht!“

Wenn solche Wetter über deine Seele kommen, dann versuche es nur nicht mit vielen feinen Künsten. Mit Kindeseinfalt entgehst du den Stricken des Bösewichts zuerst. Bekenne immer und immer wieder deinen apostolischen Glauben. Betone seine letzten Abschnitte recht: „Ich glaube an die Vergebung der Sünden, Auferstehung des Fleisches und ein ewiges Leben.“ Denke an deine Taufe, wie du in ihr, errettet von der Obrigkeit der Finsternis, ein Kind Gottes und ein Eigentum Jesu Christi geworden bist. Rufe dir die mächtigen Sprüche aus der Schrift, die dich durch dein Leben begleitet haben und deine lieben Vertrauten geworden sind, ins Gedächtnis, z. B.: „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingebornen Sohn gab, auf dass Alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben (Evang. Joh. 3,16). Das ist je gewisslich wahr und ein teuer wertes Wort, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, unter welchen ich der vornehmste bin“ (1 Tim. 1,15). Denke an deine letzte Beichte, Absolution und das heilige Abendmahl. Sage dir: „Da habe ich Vergebung der Sünden mit Brief und Siegel empfangen; und wo Vergebung der Sünden ist; da ist auch Leben und Seligkeit - Feind, rede was du willst, ich glaube meinem Herrn Christus mehr als dir. Wo die Sünde mächtig worden ist, ist die Gnade viel mächtiger worden (Röm. 5,20).“

Dazu bitte deine Freunde, dass sie treulich mit dir und für dich beten und dir den Feind überwinden helfen.

Glaube es, in einem solchen Kämpfer wird die Kraft des Herrn in dem Schwachen mächtig, die Wolke geht vorüber, die Sonne der Gnade scheint hell in das alte Herz, das Auge sieht wieder fest, dir schwindelt nicht mehr auf dem schmalen Steige, und du sprichst mit jenem Abt Hilarion: „Geh aus, meine Seele, was zögerst du? Du hast einen barmherzigen Heiland und Vergelter. Fünf und siebenzig Jahre dienst du Christo, und du wolltest den Tod fürchten!?“ Die richtig vor sich gewandelt haben, kommen zum Frieden und ruhen in ihren Kammern (Jes. 57,2).

Wie stirbt aber ein Mensch, der sich um seinen Heiland und um sein Heil nicht gekümmert hat, der leben, nur leben möchte, und doch sterben muss? Kein Maler kann die Angst und das Wogen in einem solchen Herzen zeichnen. Schwer ist der Augenblick, wo einen Wanderer, der auf einem schmalen Stege über einen Abgrund geht, der Schwindel erfasst. Es ist nicht zu sagen, was sich Alles in diesem Moment in der Seele zusammendrängt. Das enge Gefäß ist so voll und so gespannt, wie wenn es zerspringen sollte. Aber schwerer ist die Sterbestunde des Gottlosen; denn der Abgrund vor ihm ist der tiefste und ein ewiger. Einen alten französischen Diplomaten, dem die Eide in seinem Leben Rechenpfennige gewesen waren, und dessen Gewissen zerlumpter aussah als der Rock des elendesten Bettlers, besuchte auf seinem letzten Krankenlager der König Louis Philipp und fragte ihn, wie es ihm gehe. „Wie in der Hölle!“ lautete die Antwort. . „Jetzt schon?“ fragte der König. Ja - jetzt schon - in den letzten Stunden schon. - Doch weg von diesem Bilde! - Wenn dies Büchlein etwa Einem in die Hände käme, der sterben soll und doch noch nicht sterben kann, dem sich Sünde und Schuld wie Mauer und Wall zwischen Leben und Tod stellen, der denke daran, dass sein Heiland jetzt auch noch für ihn lebt und seine Hand nach ihm ausstreckt. Und in einem Aufrichtigen, der im Sterben noch sich selbst zu sterben und dem Herrn zu leben anfängt, kann die Gnade noch Alles tun. Sie kann wunderbar schnell arbeiten. Schnell geben die Träume. Es will uns oft scheinen, als ob in ihnen die Zeit gar nicht vorhanden wäre. Ohne Zwischenräume der Entwicklung folgt eine Tatsache auf die andere, folgt die Ernte auf die Aussaat. Aber die Gnade kann in dem Herzen des Aufrichtigen schneller sein als jeder Traum. Ein annähernd Beispiel davon gibt uns der Schächer am Kreuz. Schlag auf Schlag folgen bei ihm tiefe Reue und Sündenbekenntnis, Glaube und Bekenntnis zu dem Herrn, feste Hoffnung auf gnädige Annahme, und ernste Ermahnung an seinen Sündengenossen. Und das Alles ist wahr und tief und lauter. Der Himmelsweg wird im Sturme durchmessen. du allmächtige und unergründliche Liebe, die du solche Taten tun kannst und tust! Sie wird sie auch an dir tun, du armer Spätling, wenn deine Buße und dein Glaube aufrichtig sind wie die des Schächers. Du wirst noch wie ein Brand aus dem Feuer gerettet werden. Aber es brennt auch wie Feuer! Der Herr Jesus steht am Rande des Abgrundes, in den du eben fallen wolltest, und erfasst dich mit seinen Armen. Du bist gerettet, aber mit wie viel Angst!

Doch wer will darauf hinsündigen? Wer will sein ewiges Heil auf eine einzige Stunde setzen? Du weißt nicht, ob du in dieser Stunde deines Herzens und Verstandes noch mächtig bist. Du weißt nicht, ob dein Herz dann dem Zuge des Herrn noch zugänglich ist, oder ob es sich ganz verstockt hat. Du weißt nicht, ob in solcher Bekehrung noch ein wirklicher Glaube und ein wahres Sehnen nach dem Herrn ruhen, oder ob sie nur eine Tat der Verzweiflung und der Todesangst sein wird. Und gesetzt auch, du wirst noch in Gnaden angenommen: wie viel reine Freude ist dir verloren gegangen, die du im Leben hättest haben können! Auch um die Freude der seligen Sterbestunde hast du dich gebracht. Sie ist dir eine Angst geworden mit der zentnerschweren Frage: „Ob - oder ob nicht?“ - Darum schaffet beizeiten eure Seligkeit mit Furcht und Zittern.

Wir beschließen dies Büchlein mit einem Bilde vom Heimgange eines alten frommen Bürgers und Kaufmanns. Seine Familie bestand aus einem Sohne, der Schwiegertochter, einem Enkel Otto, der als Commis arbeitete, und drei halb und ganz erwachsenen Enkelinnen, Helene, Elisabeth und Therese. Der Großvater hatte es sich im Leben als redlicher Mann sauer werden lassen. Gott hatte die Arbeit seiner Hände gesegnet, er selbst litt keinen Mangel, und die Seinen hatten ein auskömmliches Brot. - Seinen Gott und Herrn hatte er auch in den Jahren der Kraft und Arbeit nicht vergessen. Gottes Wort hatte in seinem Hause gewohnt, und die Tage in den Vorhöfen des Herrn waren ihm gar lieb gewesen. Aber mit dem kommenden Alter hatte er sich immer mehr in das Heiligtum zurückgezogen. Sein Umgang mit dem Herrn war immer fester und die Gemeinschaft mit ihm immer inniger geworden. Er war ein lieber Vater und Großvater, ernst und freundlich, und die Familie wusste alle Tage, wie sie zu ihm stand. Des Sohnes gar nicht zu gedenken, erwähne ich nur, dass das Buch Ruth für die Schwiegertochter nicht umsonst in der Bibel stand. Sie wollte ihm eine rechte Ruth sein; sie ehrte und liebte ihn wie einen zweiten eigenen Vater; und eine eigene Tochter hätte für seine Wünsche kein helleres Auge und willigeres Herz haben können. - Das Geschäft hatte er in der Mitte der sechziger Jahre dem Sohne übergeben; er aber half noch mit Rat und Tat, so gut er konnte. Sein Stübchen hatte er nach dem Garten hinaus. Da war es teils am Stillsten, und teils hatte er, der nicht mehr bei allem Wetter ausgehen konnte, die Natur in ihrem Werden, Blühen und Verwelken stets vor Augen. Die Enkelinnen wetteiferten mit einander, ihm sein Stübchen in der saubersten Ordnung zu halten. Von Woche zu Woche wechselte dies Amt, und die jüngste hatte die Zeit kaum erwarten können, wo auch sie in diesen Ehrendienst eintreten durfte. Die Mutter aber ließ es sich nicht nehmen, jeden Tag ihre Revision zu halten. Am Abend, wo die Familie beisammen war, lasen Otto und die Mädchen abwechselnd vor oder sie spielten dem Großvater seine Lieblingschoräle, und diese wurden dabei auch die ihrigen. Ein gutes Volkslied lief auch mit unter, und wenn das junge Volk im getragensten Tone einmal aufspielte: „Und als der Großvater die Großmutter nahm“ die freilich lange im Grabe ruhte hatte der liebe Alte auch Nichts dagegen.

Ihm war so wohl in seinem Hause und unter den Bäumen, die er gepflanzt hatte. Seine Familie und etliche befreundete Familien waren sein Umgang; in den Garten, um die Stadt herum, in die Kirche und zu den Freunden ging sein Ausgang. Von größeren Gesellschaften war er kein Freund mehr. Wurde er von Bekannten zur Teilnahme an einer Festlichkeit außer dem Gebiete der ihm befreundeten Familien aufgefordert, so lautete seine Antwort in der Regel: „Das stört mir den Grundton meines Stilllebens, das brummt und summt und saust mir noch viele Tage im Kopfe herum. Für den Alten ist sein Haus und seine herkömmliche Ordnung das Beste.“ Zuweilen fügte er noch hinzu: „Viele Alte haben sich von Festessen oder von ihrem eigenen Jubiläum den Tod geholt. In England lebte im 17. Jahrhundert ein Greis, Namens Thomas Parre, der es weit über 100 Jahr gebracht hatte und dabei nach allen Seiten hin noch gesund und rüstig war. König Carl I. hörte von ihm und wünschte ihn zu sehen. Er ward an den Hof gebracht und dort reichlich traktiert. In Folge dessen starb er in den nächsten Tagen. Ich möchte, wenn mich der Herr nach meiner letzten Stunde fragt: „Wo kommst du her?“ nicht antworten: „Herr, ich komme von einem lustigen Gelage.“ Ich habe Feste genug. Jeder Tag in meiner Familie ist mir ein Festtag, und dazu kommen die Sonn- und Festtage noch mit ihrem besonderen Festglanze. Aber meine schönsten Feiertage erwarte ich droben.“ - So ging Jahr auf Jahr hin, er war zu hohem Alter gelangt. In der Adventszeit des Jahres 186.. ward er sichtbar schwächer. Anfangs stand er täglich noch etliche Stunden auf; bald aber ward er völlig bettlägerig ohne eigentlich krank zu sein. Fröhlich und freundlich lag er da mit dem Morgenglanze der Seligkeit auf dem Angesicht. Am Tag waren die Schwiegertochter und die Enkelinnen seine Pflegerinnen. Die letzteren trieb ein doppelter Grund in sein Stübchen. Eines Teils waren sie gern bei ihm, andern Teils konnten sie dort ungesehen ihre Christarbeiten für die Eltern fertigen. Da hieß es denn: „Großvater, bei Dir sind wir sicher, Du verrätst uns nicht!“ Doch bekamen sie auch andere Arbeit. Er unterbrach sie in ihrem Nähen oder Sticken und bat: „Helene, lies mir den 130. Psalm.“ Und eine Stunde später hieß es wieder: „Lies mir Luthers Lied: „Aus tiefer Not schrei ich zu dir etc.““ Am folgenden Tage bat er Elisabeth: „Lies mir Römer 8 vom 31. Verse an.“ Etliche Stunden später kam Paul Gerhardts Lied: „Warum sollt ich mich denn grämen?“ an die Reihe. Wieder an einem andern Tage sprach er zur jüngsten: „Therese, Kind, lies mir Philipper 1 von Vers 20 an.“ Das ging noch. Als sie ihm aber das Lied lesen sollte: „Christus der ist mein Leben“, brachte sie es nur bis zum zweiten Verse. Da brach sie in helle Tränen aus und rief: „Großvater, warum denn das? Warum willst Du denn fort? Wir behalten Dich noch so gern hier!“ Und der Alte: „Mein Töchterchen, ich bliebe auch gern noch bei Euch; aber das kommt weder auf mich noch auf Dich an. Das liegt in der Hand des Herrn, und ich fühle deutlich, dass sein Bote vor der Tür steht.“

Dann ward es eine Weile stille, Therese nähte wieder. Plötzlich hob der Großvater an: „Therese, ich bekomme doch das schönste Christgeschenk!“ Und sie fragte: „Großvater, weißt Du denn etwas?“ - „Ja, ich weiß es!“ „Wer hat es Dir denn verraten?“ „Die Mutter nicht, und Deine Geschwister auch nicht, aber ich habe Dir so meine geheimen Boten.“ Großvater, das ist doch nur Scherz; es ist ja Niemand zu Dir gekommen! Das Kind verstand ihn nicht. Er sagte lächelnd: „Es bleibt dabei, ich bekomme doch das schönste Christgeschenk,“ und schwieg dann. Beiläufig gesagt hatte ihm die Schwiegertochter gemeinsam mit dem Mädchen einen Fußsack gefertigt. Zu andern Zeiten hörten ihn die Kinder leise beten: „Herr, gedenke nicht der Sünden meiner Jugend und meiner Übertretung; gedenke aber meiner nach deiner Barmherzigkeit um deiner Güte willen“ (Psalm 25, 7). Oder er tröstete sich mit der Verheißung (Jesaias 46, 4), Ich, Ich will euch tragen bis in das Alter und bis ihr grau werdet. Ich will es tun, Ich will heben und tragen und erretten.„ Und noch zu andern Zeiten fasste er die Kinder mit kurzer ernster Ermahnung an, ja dem Herrn treu zu bleiben und in einem gottseligen Leben dem ewigen entgegen zu gehen. Wie für die Töchter so fand er auch für die drei andern Glieder der Familie günstige Minuten, sie hinzuweisen auf das Eine, das Not ist.

Das Christfest kam, die Bescherung fand in der Stube des Großvaters Statt. Von den Lichtern des Christbaums waren auch die bereiften Bäume draußen im Garten hell erleuchtet. Der Vater las die Geburtsgeschichte des Herrn Lucas 2 vor, die kleine Hausgemeinde sang: „Gelobet seist du, Jesus Christ“. Dem Großvater wurde sein Fußsack auf das Bett gelegt. Als sie fertig waren, hob der Großvater an: „Meine lieben Kinder, ich fühle mich körperlich recht schwach, ob ich gleich keine Schmerzen fühle. Aber innerlich ist mir unaussprechlich wohl. Der Herr hat etwas Besonderes mit mir vor. Mir ist, als ob ich singen sollte:

Auf! Flügel her, wir müssen eilen
Und uns nicht länger hier verweilen;
Dort wartet schon die frohe Schar!

Ich feiere kein Christfest mehr mit Euch, es ist jedenfalls das letzte. Mein Odem ist schwach, meine Tage sind abgekürzt, das Grab ist da (Hiob 17,1). Kommt her, kniet nieder, damit ich Euch segne.“

Alle Sechs knieten am Bette nieder. Leise aber gemessen nach Sinn und Ton richtete er an jedes noch ein kurzes Wort. Dann bat er sie Alle, bei dem Herrn zu bleiben und in seinem Lichte fortzuwandeln. Endlich segnete er die ganze kleine Hausgemeinde. Darauf ward es stille Jeder hatte in sich zu tun. Jeder trocknete ab und zu eine Träne vom Auge.

Nach einer Weile hob der Alte lächelnd an: „Otto, zieh mir einmal meinen neuen Fußsack an die Füße, sie sind mir so kalt. Ich will ihn wenigstens einmal brauchen, damit Deine Mutter und die Schwestern nicht umsonst gearbeitet haben.“ Otto tat es; es war sein letzter Liebesdienst gegen den Großvater. Dieser schlief die Nacht abwechselnd, klagte aber dabei wiederholt über Frost in den Händen und Füßen. Am Christmorgen hatte sich sein Gesicht sehr verändert, es trug schon die Züge eines Sterbenden. Nur mühsam konnte er noch reden. Als die Glocken zur Kirche läuteten, verstanden die Seinen noch, wie er stammelte:

Er ist auf Erden kommen arm,
Dass er unser sich erbarm'
und in dem Himmel mache reich
Und seinen lieben Engeln gleich.“

Und damit entschlief er. Unser Ende sei wie das seine. Auf ein im Glauben gefeiertes Christfest folgt ein gesegnetes neues Jahr, und auf einen hellen Abend ein schöner Tag.

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