Ahlfeld, Friedrich - Cholerapredigten - 4. Sonntag nach Trinitatis 1849

Ahlfeld, Friedrich - Cholerapredigten - 4. Sonntag nach Trinitatis 1849

III. In schweren Zeiten fühlt man erst recht, was für ein Segen darin ruhet, ein Glied der christlichen Kirche zu sein.

Die Gnade unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi, die Liebe Gottes des Vaters und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.

Text: 1 Cor. 12, V. 26 u. 27.
Und so Ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit; und so Ein Glied wird herrlich gehalten, so freuen sich alle Glieder mit. Ihr seid aber der Leib Christi, und Glieder, ein jeglicher nach seinem Teil.

In dem Herrn geliebte Gemeinde. Wenn der Mensch irgend ein Gut lange und sicher besessen hat, so ist ihm der Besitz desselben so zur Gewohnheit geworden, dass er seinen Wert gar nicht mehr fühlt. So steht es z. B. mit dem Vaterlande. Dasselbe hat uns gar vieles gegeben. Wir haben darin Vater und Mutter, Geburtsstätte und Jugend gehabt. Wir sind durch seine Gesetze geschützt herangewachsen. Wir haben unter denselben unsern Beruf erlernt, getrieben und unsern Hausstand gegründet. Treue und fromme Könige haben uns bei unserm Recht und Eigentum geschirmt. Und ob unser Land keins der reichsten und herrlichsten in der Welt ist, so wohnte doch in seinem Volke von Alters her ein fester, gerader, zufriedener Sinn. Auf viele seiner jetzigen Bürger ist er herübergeerbt. Mit diesem alten Vaterlande sind Hunderte und Tausende nicht zufrieden gewesen. Es war ihnen, als ob sie gar nichts daran hätten. Sie wollten seinen Segen wegschütteln, wie man den Staub von den Schuhen schüttelt. Sie schmähten es eine Weile, als ob es eine Stiefmutter gegen sie gewesen wäre. Dann brachen sie auf und suchten eine Wohnung in fernem Lande. Als aber dort fremde Sprache in ihre Ohren klang, als kalte Gesichter und fremde Sitte sie umgaben, als sie erkannten, dass wohl jedes Land Gaben der göttlichen Erbarmung empfangen, aber auch jedes seine Last habe, dass man auch dort nicht ernten könne, ohne gesäet zu haben, da zog mancher Seufzer herüber in die alte Heimat. Viele taten ihr im stillen Herzen Abbitte für alle Schande, die sie über sie geredet hatten. Andere kamen selbst wieder, dankten ihrem Herrn und Gotte, dass er sie wieder heim geleitet hatte, setzten sich wieder fest, aßen ihr Brot im Schweiß ihres Angesichts, und wenn fortan jemand fremde Länder zur Schande des eigenen rühmte, schüttelten sie das Haupt und dachten: „Ich weiß es besser.“

Wie mit dem Vaterlande ist es auch mit der Kirche. Seit 1000 Jahren ist unser deutsches Volk ein christliches. Wir verdanken dem Evangelio gar viel. Alle Ordnung und alle Cultur im Vaterlande ist seine Frucht. Aber die edelsten Früchte fallen in die stillen Tiefen des Herzens. Da schmeckt man die Kindschaft Gottes, die Vergebung der Sünden, die selige Hoffnung des ewigen Lebens, den Trost, dass in Christo dem Tode sein Bitteres genommen ist, dass Christus Leben und unvergängliches Wesen an das Licht gebracht hat. Alle gute Erziehung, allen Unterricht verdanken wir der christlichen Kirche. Ohne eine christliche Kirche stände auch in Halle kein Waisenhaus. Dieses wie alle unsere Schulanstalten ist auf dem heiligen Grunde Jesu Christi erbauet. -

Weil wir aber die Segnungen des Evangeliums so lange genossen haben, fühlen wir oft gar nicht mehr, wo sie herkommen. Viele denken, sie geben nichts damit auf, wenn sie Jesum Christum und ihrer Väter Bekenntnis aufgeben. Viele haben die Lossagung von dem Gekreuzigten für einen Fortschritt geachtet. Sie meinen, alle Ruhe und Sicherheit im Staate, alle brüderliche Hilfe in der Not, alle nützliche Erkenntnis würde auch da sein ohne das Christentum. Sie irren sich. Wenn sie einmal hinausträten aus der Kirche und dem Vaterlande unter Völker, die von Christo nichts wissen, würde es ihnen ergeben wie einem, der im Winter aus dem warmen Zimmer auf die kalte Straße tritt. Sie würden sich auch zurücksehnen und denken, vielleicht auch sprechen: „Ich hatte es nicht gedacht, dass wir Jesu Christo und seiner Kirche so viel verdanken.“ Aber auch mitten in der Kirche muss in unserer Notzeit wohl jeder inne werden, wie viel er in der Kirche Christi hat.

In schweren Zeiten fühlet man, was es für ein Segen ist, ein Glied der christlichen Kirche zu sein.

Da fühlt man

1) dass sie ein allmächtiges treues Haupt hat,
2) dass ihre Glieder aufs innigste mit einander verbunden sind.

Du Haupt und König der Kirche, Herr Jesu Christ, binde uns recht fest an dich. Stärke den Glauben an dich, mehre die Liebe zu dir. Sie sind das Band der Vollkommenheit. Sie binden Haupt und Glieder zusammen. Laß sie uns durch Unglauben und Selbstsucht nicht abschneiden. Herr Jesu Christ, lass das frische warme Leben brüderlicher Liebe durch alle Adern des großen Leibes strömen. Hilf, dass einer den andern fördere im Heil, trage in seiner Schwachheit, ihm helfe in seiner Not, für ihn bitte an deinem Gnadenthrone, und das alles aus und in der Liebe, mit der du uns geliebet hast und noch liebest. Ja Herr, gib das heilige Leben, das in dir wohnet, alle Tage aufs neue hernieder in deinen Leib, die Kirche, auf dass wir in dir bleiben und wandeln wie du gewandelt hast. Amen.

1.

In schweren Zeiten fühlt man den Segen, ein Glied der christlichen Kirche zu sein, denn sie hat ein allmächtiges treues Haupt. Wer ist ihr Haupt? Jesus Christus. St. Paulus schreibet an die Epheser: „Alle Dinge hat Gott unter seine Füße getan und hat ihn gesetzt zum Haupt der Gemeine über alles. Lasset uns rechtschaffen sein in der Liebe, und wachsen in allen Stücken an dem, der das Haupt ist, Christo, aus welchem der ganze Leib zusammengefüget und ein Glied am andern hänget durch alle Gelenke; dadurch eine dem andern Handreichung tut nach dem Werk eines jeglichen Gliedes in seinem Maße, und machet, dass der Leib wächset zu seiner selbst Besserung, und das alles in der Liebe.“ An die Colosser schreibet derselbe Apostel: „Er ist das Haupt des Leibes, nämlich der Gemeine, welcher ist der Anfang und der Erstgeborene von den Toten, auf dass Er in allen Dingen den Vorgang habe.“ Auch aus unserm Text klingt es heraus, dass er das Haupt ist. „Ihr aber seid der Leib Christi, und Glieder ein jeglicher nach seinem Teile.“ Wo ist das Haupt zu diesem Leibe, zu diesen Gliedern? Droben zur Rechten Gottes. Jesus Christus. Wir aber sind die Glieder. Die ganze Kirche zusammen, die triumphierende, die er schon drüben hat, und die kämpfende, die er noch hier hat, ist der Leib. Welche Gnade und Ehre ist uns darin widerfahren, dass uns der Heilige Gottes wert geachtet hat, Glieder seines Leibes zu sein! Schon diese Würde schließt die mächtigste Bußpredigt, die mächtigste Abmahnung von der Sünde in sich. Wir sollten uns bei jeder Sünde zurufen: „Du, du bist ein Glied am Leibe Jesu Christi, dieser Leib soll ohne Flecken und Makel, Warze und Runzel sein, und du bist eben daran, ihn zu beflecken und selbst ein Schandflecken daran zu werden.“

Das Band zwischen dem Haupte und dem Leibe, zwischen dem Haupte und den Gliedern ist die Liebe des Herrn von oben, von Christo, und der Glaube und die dankbare Liebe von unten, von uns. Da strömt das Blut des Lebens herunter, da strömt es wieder hinauf, um in ihm geheiligt wieder herabzukommen. Ihr alle, ihr hier Versammelten, ihr Glieder, brecht den Verkehr mit Eurem Haupte nicht ab. Der du lange umhergeirrt bist in den Dornen und dem Gestrüpp dieser Welt, der du dachtest, ihre Giftbeeren sollten deine Stärke und Erquickung sein, mache dich auf, suche die alte Zionsstraße wieder. Sie ist steil, sie ist schmal; aber sie führt zu ihm, sie führt zu deinem rechten Haupte. Vergiss es nicht, wo das Haupt von den Gliedern getrennt wird, da ist der Leib tot. Wo der Unglaube und die Selbstsucht mit ihrer kalten, feinen oder groben Schere die Glaubensadern zwischen dir und deinem Heilande durchschneiden, da bist du auch ein totes Glied. Ein solches zuckt und regt sich wohl noch ein wenig, aber das ist nur Nachklang und letzter Rest von dem Leben, das drinnen gewesen ist. Es ist tot, und der Tod tritt stündlich sichtbarer hervor.

Aber wir wollten uns ja stärken mit einander an dem Segen, den der Christ in schweren Zeiten als Glied der Kirche Christi habe. Siehe, dein Haupt weiß alles, was in dein ganzen Leibe vorgebet. Es wird alles dahin gemeldet. Du weißt gar nicht, wie die Botschaft hinauf kommt. Und das Haupt droben weiß auch alles. Wenn auch dein Seufzen und dein Gebet die Botschaft nicht hinaufbringt, so geht doch seine Liebe zu allen Stunden hernieder und holt sie sich. Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende. Dein Haupt fühlt alles mit. Und ob dir der kleine Finger und der letzte Zeh wehtue, da oben wird der Schmerz auch mitgetragen. Das Haupt da droben fühlt auch alles mit. und ob es das ärmste und elendeste Glied seiner Kirche sei, das die Erde zum Lager und den Himmel zur Decke hat, sein Schmerz steigt zu ihm hinauf. Der Herr hat ja unsern Schmerz allzumal recht kennengelernt. Vor ihm haben sie gestanden hungrig, blind, lahm, taub, gichtbrüchig und aussätzig. Vor ihm haben die Toten gelegen, die ihre weinende Familie umgab. Vor ihm haben die gestanden, denen ihr Gewissen keine Ruhe ließ, denen die weite Welt zu enge war, die sich und Gott ein Gräuel waren, die nirgends Rat noch Rettung wussten. Wie er sie gesehen hat, da er unter uns wandelte, so sieht er sie noch. -

Dein Haupt, lieber Christ, denkt und sorgt für alles, was den ganzen Leib angehet. Dass die kranken Glieder geheilt werden, ist des Hauptes Sorge. Dass der nackte Leib gekleidet, der hungrige und durstige gespeist und getränkt werde, ist des Hauptes Sorge. Es sinnt auf Mittel und Wege, wie einem jeden Teile Genüge geschehe. Meinest du, dass dein Haupt treuer sei gegen seinen Leib, als der Herr gegen seine Kirche? Das Haupt da droben sorgt für dich, ehe du angefangen hast zu sorgen, es sorgt auch für deine kleinste Not. Es fällt kein Haar von deinem Haupte ohne seinen Willen. An viele Not denkst du selber nicht, weil sie vor deinen Augen noch verborgen liegt. Wer sorgt, wenn er nicht sorgte? Zu seiner Treue hat er ja auch die Macht. Aus des Meeres Tiefen, aus des Hungers Händen, aus der Feinde Gewalt, aus des Todes Rachen reißt er die, so zu ihm rufen gläubig und beharrlich. Das wäre ein schlechtes Haupt, das ruhig zusähe, wie Hand oder Fuß oder ein ander Glied beschädigt würde.

Noch weniger wird dein Herr kalt und ruhig zusehen, wie seinen Gliedern Schade geschieht. Was du für Schaden achtest, das ist alles gegeben zu deinem Heile, du wirst es erkennen, wenn dir das äußere Auge zu, und das innere recht aufgehet. Er hat dich gezüchtiget, zu verleugnen alles ungöttliche Wesen. -

Haben wir schwachen Glieder ein solches Haupt voll Gnade, Treue und Macht, so können wir ihm auch getrost die Sorge um uns anvertrauen. Alle eure Sorge werfet auf ihn, denn er sorgt für euch. Schüttet euer Herz vor ihm aus, lieben Leute, der Herr ist eure Zuversicht. O bittet fleißig, ihr könnt ihn um alles bitten. Lasset keinen Tag vorübergehen, wo ihr nicht bätet für euch und die Euren, für Kranke und Gesunde, für Witwen und Waisen, für unsere Stadt, für unser Vaterland, für unsere treuen Krieger in der Ferne, für unsern teuern König.

Über dem allem vergesset aber eurer Seelen Heil nicht. Das soll die Blüte des Gebets sein. Alle Bitten um zeitliche Güter sind nur die Blätter darunter, über denen die Blüte aufwächst. Bittet gläubig, brünstig und fleißig. Wir haben ein Recht zu ihm zu rufen, er ist unser Haupt. Hört er nicht auf euer erstes Rufen, so rufet öfter und immer wieder. Ein alter deutscher Fürst wollte seine Ehre darein setzen, dass er seinen Gott nicht so oft mit seinen Bitten behelligte. Wir wollen sie darein setzen, dass wir recht oft kommen. Damit bezeugen wir, dass wir die Glieder sind, und er das Haupt, dass wir die Diener sind, und er der Herr. Wenn dir im Tage zehen Mal Hand oder Fuß oder Herz weh tut, so wird es auch zehnmal zum Haupte hinaufgemeldet.

Es erfährts allemal. Und das Haupt wird es nicht überdrüssig, wenn auch die Botschaft noch so oft kommt. Es sucht immer nach Mitteln, das Leiden zu stillen. Solltest du nun nicht Glauben und Treue haben, deine Not immer wieder dem himmlischen Haupte hinaufzumelden? Sollte Christus der Botschaften überdrüssig werden. Die Liebe höret nimmer auf, ob auch die Weissagungen und Sprachen aufhören und das Erkenntnis aufhöre, schreibet Paulus 1 Cor. 13. Da redet er von christlicher Liebe, die erst aus der Liebe Christi geboren ist. Wenn nun das Bächlein nicht einmal vertrocknen soll, das aus dem Strom oder Meer abgeleitet ist, wie soll der Strom, das Meer austrocknen. Siehe Christ, einen solchen Herrn hast du, ein solches Haupt hast du. Das sage dir jetzt recht oft. Das sage dir an unsern Gräbern, das sage dir bei unsern Waisen, bei unserer Krankheit, bei dem Mangel, der auf vielen Familien unserer Stadt liegt.

Das schreib dir in dein Herze,
Du hochbetrübtes Heer,
Bei welchem Angst und Schmerzen,
Sich häufen mehr und mehr.
Hab ich das Haupt zum Freunde,
Bin ich versöhnt mit Gott,
Was fürcht' ich alle Feinde,
Die Krankheit und den Tod!

II.

In schweren Zeiten fühlet man es, was es für ein Segen ist, ein Glied der christlichen Kirche zu sein, weil ihre Glieder aufs innigste untereinander verbunden sind. Teure Gemeinde, es ist schon ein Segen, wenn man einer großen Familie angehört. Ist die Familie nur durch natürliche Liebe verbunden, so muss sich in ihr doch schon das Wort unseres Textes bewähren: „So ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit; und so ein Glied wird herrlich gehalten, so freuen sich alle Glieder mit.“ Trifft eins dieser Glieder große Not, so ruft das Haupt der Familie ihre Glieder zusammen und sagt ihnen: Seht, euer Bruder oder Verwandter liegt krank oder leidet Not. Er ist euer Fleisch und Blut. Die Not geht euch an, greift zu und helft. Und sie helfen, wenn ihnen der Mammon nicht ein lieberer Freund ist, als ihr Bruder oder Vetter. -

Liebe Christen, nun gibt es eine große Familie, die sich bereits über den ganzen Erdkreis hinbreitet. Es ist die große Gottesfamilie, die der Vater sich in Christo erworben, zu der er im Sohne gesprochen hat: Ich will euer Vater und ihr sollt meine Kinder sein. Ihr seid allzumal Gottes Kinder, durch den Glauben an Jesum Christum.“ Er redet ihre Glieder an: Mein Sohn, meine Tochter.“ Z. B.: „Gib mir, mein Sohn, dein Herz, und lass deinen Augen meine Wege wohlgefallen.“ „Meine Tochter, dir sind deine Sünden vergeben.“ Von Anfang an haben die Christen sich unter einander Brüder genannt. Der Herr sagt zu den Jüngern: „Ihr aber seid alle Brüder.“ Paulus in seinen Briefen redet alle Christen so an. Petrus schreibet: „Habt die Brüder Lieb. Fürchtet Gott. Ehret den König.“. Johannes in seinen Briefen nennt die Christen gar oft so. Wenn es heißt: „So jemand dieser Welt Güter hat, und siehet seinen Bruder darben, und schließt sein Herz vor ihm zu, wie bleibt da die Liebe Gottes in ihm?“ meint der Apostel nicht leibliche Brüder, sondern Brüder in Christo. Das sind auch rechte Brüder. Natürliche Brüder sind zusammen von einem Vater, von einer Mutter geboren. Diese sind zusammen aus Gott geboren. Natürliche Brüder haben dasselbe Blut in ihren Adern. Von Brüdern in Christo heißt es: Ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid zu einerlei Hoffnung eures Berufs. Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe. Ein Gott und Vater unser aller, der da ist über euch alle, und durch euch alle und in euch allen. Dieser eine Herr, eine Glaube, diese eine Taufe ist mehr denn das eine natürliche Blut in den Adern.

In Gott und seinem Heilande verbrüdert sein ist mehr, denn in Menschen verbrüdert sein. Unter wirklichen Brüdern kann die Liebe ersterben, unter wirklichen Christen kann sie nicht ersterben. Die Liebe höret nimmer auf. Dieser große Bruderbund der Gotteskinder unter Christo dem erstgeborenen Sohne ist die christliche Kirche. Glieder und Brüder unter einander sind alle Christen. Alle Christen? Es gibt doch so viele Kirchen und Confessionen oder Bekenntnisse unter ihnen? Da haben wir die römische Kirche, die griechische, die verschiedenen Zweige der evangelischen, die lutherische, die reformirte? Wie steht es da mit diesem Bruderbunde? Sehet diese verschiedenen Kirchen an als Söhne eines Vaters. In dem einen Angesicht finden wir die Züge mit dem Vater klarer wieder, als in dem andern, aber Ähnlichkeit mit ihm haben alle. Evangelische Wahrheit ruhet in allen Kirchen. Freilich ist keine so tief in die Wahrheit des göttlichen Wortes eingedrungen, als Luther und seine treuen Mitarbeiter. Der Vollkommenheit kann sich keine rühmen. Alle, als Hütten Gottes bei den Menschen, haben an ihrem Bau zu bessern und immer tiefer in die Schrift einzubringen. Kinder hat Gott in allen. Wer an Christo Jesu glaubet an den eingeborenen Sohn Gottes, in ihm seinen einigen Heiland erkennt, auf ihn getauft ist und sich mit Furcht und Zittern seiner Nachfolge befleißigt, der ist sein Kind. Nun weißt du auch, wo du deine Brüder zu suchen hast. Inniger wäre freilich der große Bruderbund, wenn der tiefe Riss zwischen der katholischen und evangelischen Kirche nicht nöthig gewesen wäre. Luther hat die römische Kirche nicht verlassen, er ist herausgestoßen. Er hat sich alle Mühe gegeben mit dem Bekenntnis der freien Gnade in ihr zu bleiben. Aber es war umsonst, sie hat es nicht gewollt.-

Kommen wir herüber auf das brüderliche Amt der Christen unter einander. So ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit; so ein Glied wird herrlich gehalten, so freuen sich alle Glieder mit. Sind wir denn Brüder in dem Herrn, so ist meine Not deine Not, und deine Not meine Not; so ist meine Freude deine Freude, und deine Freude meine Freude. So ist es von Anfang der Kirche gewesen.

Was Paulo auf seinen Wanderungen an Freude wiederfuhr, des freueten sich alle Gemeinden. Als er aber in Rom gefangen war, da besann er sich auch nicht lange, die Gemeinde zu Philippi zu bitten, ihm in seinem Mangel mit Hilfe beizuspringen. Als im jüdischen Lande eine große Teuerung ausgebrochen war, und auch die Gemeinde Christi schwer darunter litt, da sammelte Paulus in den Städten Griechenlands und Macedoniens, durch die er gerade zog, eine Collecte für die Notleidenden und überbrachte sie selbst nach Jerusalem. Die Pflege der kranken Brüder war bei den alten Christen eine heilige Liebespflicht. Ja wenn ferne christliche Gemeinden große Not betroffen hatte, so war man willig und bereit, derselben nach Kräften abzuhelfen. Das war der christliche Bruderbund. Und dieser Geist darf nicht aus der Kirche weichen, ist auch nicht aus der Kirche gewichen. Wir müssen Brüder in Christo bleiben mit allen, die sich zu seinem hochgelobten Namen bekennen.

In den ersten vierziger Jahren dieses Jahrhunderts überfielen die Franzosen die evangelische Insel Otahiti in der großen Südsee, um sie unter ihre Herrschaft und unter die katholische Kirche zu zwängen. Diese Insel liegt die halbe Erde weit von uns entfernt. Wenn wir hier quer durchgraben könnten, möchten wir ziemlich dahinkommen. Die Trauer, die Fürbitte für diese Insel, die Aufsuchung der Mittel zu ihrem Schutze wurde so ernstlich betrieben, wie wenn sie ganz in unserer Nähe läge. Sie liegt uns auch nahe, denn ihre Bewohner sind unsere engsten Brüder in dem Herrn. Gedenken wir heute noch einmal unserer Not. Auch hier hat sich die brüderliche Liebe nicht verleugnet, Es hat nicht an Herzen gefehlt, die die Kranken aufsuchten in ihren Hütten, die sich hergaben zu Pflegern, die sie leiblich und geistlich erquickten. Möge es der Herr denen, die es getan haben, lohnen in ihrem letzten Stündlein und nach demselben. Hierbei aber fragen wir uns: Wo kommt solche Liebe her? Sie kommt allein von dem, der sich um die arme, kranke Menschheit selbst in den Tod gegeben hat. Sie kommt von dem, der den Besuch und die Erquickung der kranken Brüder ansehen will, als seien sie ihm selbst geschehen. Es sind alles Früchte des Evangeliums, wenn auch Tausende sagen wollten: es quillt aus dem natürlichen Menschen. Meinet ihr, dass die Heidenwelt etwas Ähnliches kenne? Ein alter Schriftsteller aus dem dritten Jahrhundert beschreibet uns eine große Pest in Alexandrien, das damals vielleicht halb christlich und halb heidnisch war. Da heißt es: „Jene Seuche erschien den Heiden als das Allerfurchtbarste, was keine Hoffnung übrig ließ; uns aber nicht so, sondern als eine besondere Prüfung und Übung. Die meisten unserer Brüder schonten ihrer selbst nicht in der Fülle der Bruderliebe. Sie sorgten nur gegenseitig für einander, und da sie, ohne sich zu verwahren, die Kranken pflegten, ihnen bereitwillig um Christi willen dienten, gaben sie freudig mit ihnen das Leben hin. Viele starben, nachdem sie andere durch ihre Fürsorge wiederhergestellt hatten. Die Besten unter den Brüdern bei uns, manche Älteste, Pfleger und Ausgezeichnete unter den Laien endeten ihr Leben auf solche Weise. Bei den Heiden aber war alles ganz anders. Diejenigen, welche krank zu werden anfingen, verstießen sie, flohen von den Teuersten hinweg, die Halbtoten warfen sie auf die Straßen, sie ließen die Toten unbegraben liegen, indem sie der Ansteckung ausweichen wollten, der sie doch durch alle mögliche Kunst nicht entgehen konnten.“ Bei einer ähnlichen Krankheit in Carthago machten es die Heiden ebenso. Den Christen der Stadt ruft ihr Bischof zu: „Der Herr will sehen, ob die Gesunden den Kranken dienen, ob die Verwandten zu einander zärtliche Liebe tragen, ob die Herren sich ihrer kranken Knechte annehmen?“

Solche Zeiten sind die Glorie des Christentums. Wie das Feuer das verborgene Gold und Silber aus den Schlacken zieht, so soll dann der verborgene Glaube und die Liebe geweckt werden. Von Anfang der Kirche an haben sich die christlichen Frauen, wie es auch viele unter euch getan haben, der Krankenpflege angenommen. Von den Heiden sagt ein alter frommer Berichterstatter: „Welcher Heide wird seine Frau zum Besuch der Brüder von Straße zu Straße, und zwar auch in den ärmsten Hütten umhergehen lassen?“ Von solcher Liebe wusste man nichts. Die Heiden wissen noch nichts von ihr. Sie haben kein heiliges aus Gott gebornes Haupt, wie sollen sie denn heilige Glieder werden. Die christliche Kirche hat ihre Armen- und Krankenhäuser, die heidnische Welt, wie auch die muhammedanische, weiß davon nichts. Die christliche Kirche hat ihre Waisen- und Witwenhäuser, die heidnische und muhammedanische Welt weiß davon nichts. Versorgungsanstalten für alte Affen und andere Tiere, die sie für heilig halten, haben die Indier, aber für die Menschen, die nach Gottes Bilde geschaffen sind, haben sie keine. Man sieht seinen Bruder am Wege nach den großen Wallfahrtsstätten sterben und gehet kalt vorüber. Man bringt den Göttern sein Opfer, man hat auch schöne Worte, wie lieb man sich haben soll, aber es sind Worte. Man weiß nichts von der Liebe Christi, auch nichts von dem Bruderbunde in Christo. Sie gehen hin wie Schafe, die keinen Hirten haben, die einzeln vom Wolfe gefressen werden. Wie Tag und Nacht, wie Licht und Finsternis stehen sich Christentum und Heidentum gegenüber. Du nun, der du lebest und übrig geblieben bist, was ist deine erste Aufgabe? Ein Danklied deinem Gotte, dass er dich bewahret hat! Dann aber singe ihm ein Danklied dafür, dass er dich errettet hat von der Obrigkeit der Finsternis und dich versetzt in das Reich seines lieben Sohnes. Danke dem Herrn, dass er dich wert geachtet hat, ein Glied an seinem Leibe unter ihm dem Haupte zu sein. Du hast ein treues Haupt, einen König, dem kein König gleichet. Du hast einen lieben Vater, mit dem du reden kannst, wie die Kinder mit ihrem lieben Vater reden. Ihr, die ihr Witwen und Waisen geworden seid, dankt ihm auch, dass ihr Witwen und Waisen seid in seinem Reiche. Was dünket euch um eine Witwe und Waise, die nichts weiß von dem Versorger der Witwen und dem Vater der Waisen, die nichts weiß von dem großen Witwen- und Waisenhause droben, wohin der Herr alle seine Gläubigen sammelt. Lasset uns dem Herren danken für den großen Bruderbund, in den er uns gepflanzet hat. Wie ist geholfen mit brüderlicher Fürbitte, mit Zusprache, Pflege und Handreichung! Und das alles durch ihn. Das treue, mächtige Haupt der großen Christenfamilie hat seine Familie in unserer Nähe zusammengerufen und gesprochen: „Siehe dort und dort leidet euer Bruder Not, geht und helft.“ Und da müssen Helfer kommen, und wenn dürre Reiser saftig und grün werden sollen, wie einst Aarons Reis in der Stiftshütte. Aber alles dies ist eine Frucht des bethlehemitischen Weinstocks. Die Welt hat solche Liebe nicht. -

Zuletzt, liebe Brüder und Schwestern, wachset immer enger und fester an das Haupt an, so fest, dass ihr auch, wenn der Herr wieder bessere Tage schenkt, nicht davon los könnt. Wenn es regnet, gehn die Wurzeln der Pflanzen tiefer in die Erde. Und wenn die Wasser der Trübsal über uns kommen, sollen die rechten Lebenswurzeln immer tiefer in den heiligen Grund, in Gott, hineingehen. Der Herr soll immer mehr das Haupt werden, nicht allein durch seine Macht und Gottheit, und als Gründer der Kirche, sondern auch dadurch, dass wir ihn je länger je mehr ergreifen und uns gefangen geben in den Gehorsam des Glaubens. Einiget euch immer enger in brüderlicher Liebe als Glieder des einen Leibes. Wie ist es anders geworden seit den Tagen der ersten Christen! Wie wenig ist des brüderlichen Bewusstseins! Wie geht man in guten Tagen so kalt an einander vorüber! Wie hat der Herr das harte Eisen schmieden müssen, ehe es an einander gelöthet werden konnte! - Ihr habt jetzt erfahren, welcher Segen in diesem Bruderbunde ruhet. Geht nicht wieder kalt auseinander, wenn die Hitze der Trübsal nachgelassen hat. Das Haupt der Kirche wird einst fragen: Was hat der Monat Juni 1849 der Stadt Halle für Frucht geschafft? Wohl ihr, wenn sie dann antworten kann: Herr, er hat und fester an dich gebunden. Du weißt es. Er hat uns fester unter einander verbunden. Wir sind lebendige Glieder an deinem Leibe geworden. Herr, du weißt es. Amen.

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