Ahlfeld, Johann Friedrich - Verscherze nicht den Ruf Gottes in seinen Weinberg.

Ahlfeld, Johann Friedrich - Verscherze nicht den Ruf Gottes in seinen Weinberg.

(Septuagesimae 1848.)

Die Gnade unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi, die Liebe Gottes des Vaters, und die Gemeinschaft des heiligen Geistes sei mit euch Allen. Amen.

Text: Matth. 20. 1-16.
Das Himmelreich ist gleich einem Hausvater, der am Morgen ausging, Arbeiter zu mieten in seinen Weinberg. Und da er mit den Arbeitern eins ward um einen Groschen zum Tagelohn, sandte er sie in seinen Weinberg, Und ging aus um die dritte Stunde und sah andere an dem Markt müßig stehen und sprach zu ihnen: Gehet ihr auch hin in den Weinberg, ich will euch geben, was recht ist. Und sie gingen hin, Abermals ging er aus um die sechste und neunte Stunde und tat gleich also. Um die elfte Stunde aber ging er aus und fand andere müßig stehen und sprach zu ihnen: Was stehet ihr hier den ganzen Tag müßig? Sie sprachen zu ihm: Es hat uns niemand gedingt. Er sprach zu ihnen: Gehet ihr auch hin in den Weinberg; und was recht sein wird, soll euch werden. Da es nun Abend ward, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Schaffner: Rufe die Arbeiter und gib ihnen den Lohn; und hebe an an den Letzten, bis zu den Ersten. Da kamen, die um die elfte Stunde gedingt waren, und empfing ein jeglicher seinen Groschen, Da aber die Ersten kamen, meinten sie. sie würden mehr empfangen; und sie empfingen auch ein jeglicher seinen Groschen, Und da sie den empfingen, murrten sie wider den Hausvater und sprachen: Diese Letzten haben nur Eine Stunde gearbeitet, und du hast sie uns gleich gemacht, die wir des Tages Last und Hitze getragen haben. Er antwortete aber und sagte zu Einem unter ihnen: Mein Freund, ich tue dir nicht unrecht. Bist du nicht mit mir eins geworden um einen Groschen? Nimm, was dein ist, und gehe hin. Ich will aber diesen Letzten geben, gleich wie dir. Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem Meinen? Siehst du darum scheel, dass Ich so gütig bin? Also werden die Letzten die Ersten, und die Ersten die Letzten sein. Denn viele sind berufen, aber wenige sind auserwählet.

Wenn, in dem Herrn geliebte Gemeinde, zwei Schiffe durch einen Sturm und durch ein aufgeregtes Meer segeln, dann kann eins untergehen und eins kann bewahret werden. Geschieht es also, so schwillt dem Steuermann des geretteten Schiffs leicht das Herz in Hochmut auf. Er rühmet sich: „Ich habe es getan, meine Kunst hat Schiff und Mannschaft gerettet!“ Einem solchen tut es not, dass ihm ein Dämpfer aufgesetzt, dass sein Hochmut niedergedrückt, dass er an den erinnert werde, der aus Feuer und Wasser, aus dem Tode und aus der Hölle errettet. Wohl ihm. wenn er dann stille wird und Gott die Ehre gibt. Er ist ja noch nicht am Ziele. Sein Schiff kann noch im Angesicht der Küste scheitern. -

Vor dem Herrn hatte ein reicher Jüngling gestanden. Er hatte gefragt: „Guter Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben möge ererben?“ Christus hatte ihm geantwortet: „Willst du zum Leben eingehen, so halte die Gebote.“ Jener sprach: „Das habe ich Alles gehalten von meiner Jugend auf. Was fehlt mir noch?“ Jesus fuhr fort: „Willst du vollkommen sein, so gehe hin, verkaufe Alles, was du hast, und gib es den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm und folge mir nach.“ Da der Jüngling das Wort hörte, ging er betrübt von ihm, denn er hatte viele Güter. Als Petrus den gehen sah, schaute er ihm nicht mit Betrübnis und Fürbitte nach, sondern er schaute gleich in sich und fing an, sich mit dem zu vergleichen. Der Vergleich fiel zu seinem eignen Vorteil aus. Sein Herz weitete und breitete sich, wie wenn ein Pfau sein Rad schlägt; und alle die Opfer, die er um des Herrn willen gebracht hatte, standen wie Augen darin. Wenn wir ihn sehen könnten, wie er vor Christum trat, so würde er uns erscheinen in stolzem Gange mit aufgerecktem Nacken. Er richtete die Frage an ihn: „Siehe, Wir haben Alles verlassen und sind dir nachgefolgt, was wird uns dafür?“ Jesus gibt ihm eine Antwort, die schon ihren niederschlagenden Teil in sich hat: „Wahrlich, ich sage euch, dass ihr, die ihr mir seid nachgefolgt, in der Wiedergeburt, da des Menschen Sohn wird sitzen auf dem Stuhl seiner Herrlichkeit, werdet Ihr auch sitzen auf zwölf Stühlen und richten die zwölf Geschlechter Israels.“ Schon dass der Herr an die Nachfolge die Wiedergeburt anknüpft, war ein Wink für Petrus. Damit er ihn aber gründlich heile, fügt er hinzu: „Aber Viele, die da sind die Ersten, werden die Letzten, und die Letzten werden die Ersten sein.“ Und dann erzählt er ihm, noch unser Gleichnis. -

Entnehmen wir demselben für unsere heutige Andacht den Hauptgedanken:

Verscherze nicht den Ruf Gottes in seinen Weinberg.

Betrachten wir

  1. Den Weinberg und die Arbeiter darin.
  2. Die Berufung des Herrn in die Arbeit.
  3. Den Abend und den Lohn.

O du lieber Hausvater, wir wissen, dass du auch zu dieser Stunde ausgehst Arbeiter zu mieten in deinen Weinberg. Ja, gerade in dieser Sonntagsstunde lässt du von allen Kanzeln rufen: „Gehe du auch in meinen Weinberg!“ Herr, gib heute rechte Ohren in deiner ganzen Christenheit, auch unter den Heiden, die bisher noch nicht haben kommen wollen. Und auch uns, alle hier Versammelte, lass hören und fragen, wo die Tür sei in deinen Weinberg. Hilf, dass wir uns willig bücken, um zu derselben einzugehen. Amen.

Der Weinberg und die Arbeiter darin.

„Mein Freund hatte einen Weinberg an einem festen Abhange,“ predigt Jesaias. Der Weinberg ist das Reich Gottes auf Erden, Er liegt an Gottes Gnadenberge. Er reicht mit seinem Gipfel hinauf in das Reich der Herrlichkeit. Er steht mit seinem Fuße in den Ebenen dieser Welt, damit immerdar ein Zugang in denselben sei. Unter ihm stehet ein Grund, der nie kalt wird. Dieser Grund ist Jesus Christus. Auf ihn scheint die Sonne, auf ihn fallen die fruchtbaren Regen zur Zeit, wenn Regen Not tut. Regen und Sonnenschein, das sind die Züge und Weckstimmen des heiligen Geistes, die nie aufhören werden in der Kirche. Der Weinberg soll so weit werden, wie die Erde ist. Auch dort im Norden, wo keine Rebe gedeihen will, da man hinstirbt ohne eine Traube zu sehen, soll er gepflanzt werden. Auch dort im Süden, unter jenen Völkern, denen verboten ist zu trinken von dem Gewächs des Weinstockes, soll er gedeihen. Die ganze Erde soll der Weinberg Gottes werden. Wo das Wort Gottes lauter und rein gepredigt wird, und die heiligen Sakramente nach der Einsetzung des Herrn verwaltet werden, da ist der Weinberg des Herrn. Und jeder Christ, dem es Ernst ist um seine Seligkeit, der Jesum Christum durch den heiligen Geist seinen Herrn nennt, der ist eine Rebe, der ist ein Weinstock darin. -

Wer sind aber die Arbeiter? Es sind zunächst die, welche der Herr berufen hat, evangelisches Lehr- und Predigtamt in der Kirche zu führen. In der Stadtkirche zu Wittenberg ist ein Bild, das den Weinberg in diesem Sinne darstellet. Philipp Melanchthon und ein anderer Geistlicher jener Zeit ziehen das Wasser aus dem Brunnen. Luther führt die Hacke, er hackt das Unkraut weg und lockert die Weinstöcke. Bugenhagen, der so treffliche Kirchenordnungen verfasst hat, und Cruciger stoßen die Pfähle ein. Ein Anderer bindet die Reben an die Pfähle, noch ein Anderer schneidet die Trauben ab, und der Letzte trägt sie in einem Korbe in die Kelter. Paul Eber aber, der dies Bild zum Andenken der Reformatoren hat stiften lassen, steht mit seiner ganzen Familie vor der Tür des Weinbergs und will hinein. Da hast du die ganze Arbeit der Arbeiter im Weinberge. Fort und fort sollen sie mit Gebet und Studieren das Wasser herauswinden aus dem unerschöpflichen Brunnen des göttlichen Wortes. Fort und fort sollen sie das Unkraut weghacken, das den Weinberg verderben, das den Weinstöcken die Kraft nehmen will, sollen sie mit Gebet und Ermahnung den Boden locker halten, dass das Wasser des Lebens an die Wurzeln dringe. Gute christliche Kirchen-, Gemeinde- und Hausordnungen sind die Stützen, die die schwankenden Reben aufrecht erhalten. Und wo eine Seele von denselben losgerissen wird, soll sie wieder angebunden werden mit der Bitte und Ermahnung und christlicher Strafe. Das aber Alles in herzlicher Liebe um ihre Seligkeit. Wenn endlich die Trauben reif sind, wenn sie der Herr zur letzten Reinigung in die Todeskelter legen will, dann sollen sie nicht abgerissen werden in wildem Sturme. Mit fester Hand sollen sie abgelöst werden. Wenn des Christen letzte Stunde gekommen ist, sollen die Diener am Wort bei ihm stehen, und in ihm stärken die fröhliche Zuversicht, dass er in die Hand des Herrn falle, dass der Herr ihn von den Toten auferwecken, ihm aus Gnaden alle Sünden vergeben und ihm samt allen Gläubigen ein ewiges Leben geben wird. -

Wiederum verstehet aber der Herr unter den Arbeitern im Weinberge jeden einzelnen Christen, der mit Glauben und Geduld in guten Werken trachtet nach dem ewigen Leben. Wer nicht viele Weinstöcke zu begießen, zu behacken, von Unkraut zu reinigen und an die Stützen anzubinden hat, der hat doch einen. Dieser eine ist deine eigene Seele. An ihr gibt es Arbeit genug. Einst will der Herr an diesem Weinstocke nach Trauben suchen. Die Trauben sind die rechtschaffenen Früchte der Buße. Was soll er finden? Saure Trauben, Herlinge? Was der natürliche Mensch aus seinen eigenen Kräften treibet, sind arme Herlinge. Was aus Angst und Furcht vor dem Gesetze herausgepresst wird, ist sauer. Nur wo wir in Christo gepflanzt und gewurzelt sind, füllet sich das Herz mit dem himmlischen Most. Nur da dringet der rechte Saft auch hinein in jedes Werk. Nur da gibt es ein Leben, das Gnade findet vor den Augen Gottes. Was nicht aus dem Glauben kommt, das ist Sünde. Wenn mm die Schrift schon saget von dem natürlichen Weine - „Der Wein erfreut des Menschen Herz, dass seine Gestalt schön werde wie vom Öl;“ so muss der Saft aus der Fülle der Kraft des Herrn den Menschen erst recht erfreuen. Ja, es kann in der Welt Niemand fröhlicher und seliger sein, denn ein Christ, der zuerst an sich, und dann auch an Andern das Amt des Weingärtners mit rechtem Ernst treibt. Und wir sollen es allzumal treiben. Der Vater hat uns allzumal in den Weinberg berufen, und er beruft uns noch.

Die Berufung in den Weinberg des Herrn.

Horch wie oft der Hausvater ausgehet, Arbeiter zu mieten in seinen Weinberg. Er gehet früh um die erste Stunde, er gehet um die dritte Stunde. Er gehet zu Mittag um die sechste Stunde. Er gehet um die neunte Stunde. Er kommt noch einmal in der Abenddämmerung um die elfte Stunde. Was sollen diese verschiedenen Rufe und Rufzeiten bedeuten? Vielfach ist diese Reihe und Ordnung gedeutet worden. Der Herr hat berufen in der großen Morgenstunde der Welt, da er Himmel und Erde und das erste Menschenpaar gemacht hatte. Er hat berufen in den Tagen der Sündflut, da die Arche der ganze Weinberg Gottes war. Er hat berufen, da er mit großen Wundern das Gesetz auf dem Sinai gab. Er hat durch die Propheten berufen. Und noch einmal in der letzten Stunde der alten Zeit, in der letzten Stunde der hoffenden Jahrtausende kam Johannes der Täufer und rief: „Tut Buße und bekehret euch, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen.“ -

Man hat unser Gleichnis gedeutet auf die verschiedenen Völker. Zuerst ist Israel in den Weinberg gerufen. Dann ist ein Stamm der Heiden nach dem andern gefolgt. Der Herr wird weiter laden lassen bis an das Ende der Tage. In jedem treuen Missionar spricht er zu denen, die müßig am Markt des Lebens stehen: „Gehet ihr auch in meinen Weinberg!“ Aber lassen wir diese Deutungen. Wir haben eine andere, die uns näher liegt, die gewaltiger in unser Leben hereinruft. Der Hausvater teilt dort den Tag in vier Teile. Und aus besonderer Gnade geht er noch einmal vor Tagesschluss aus um die elfte Stunde. Dein Leben zerfällt auch in vier Teile. Du bist Kind, Jüngling, Mann oder Greis. Der Herr kommt zu dir frühe am Morgen in der ersten Lebensstunde. Am Taufsteine steht er bei dir und bittet dich: „Gehe in meinen Weinberg.“ Am Morgen blühen die Blumen am lieblichsten. Am Morgen da sind die Kräfte des Leibes so frisch. Wie geht es da so fröhlich in die Arbeit! Und in den lieben Kinderjahren sollten die Kräfte des Glaubens eben so frisch sein. Noch ist der Zweifel nicht aufgewacht, euch irre zu machen an dem treuen Herrn, der euch in seine Arbeit gerufen hat. Noch hat die Welt, ihre gottlose Freude und ihr ungläubiges Sorgen eure Herzen nicht geteilt. Ihr Kinder, die ihr hier mit versammelt seid, geht, eilt in den Weinberg des Herrn! Seine Stimme am Taufsteine habt ihr zwar selbst noch nicht verstanden, aber die Euren haben euch hernach seinen Ruf wiederholt. Die Kirche wiederholt ihn euch alle Sonntage, die Schule alle Tage, wenn sie eine rechte Schule ist. Ob ihr auch jung, ob ihr auch klein seid, ihr könnt ihm doch dienen. In dem Weinberge des Herrn gibt es auch Kinderarbeit. Auch ihr könnt den Weinstock, den neuen Menschen in euch, begießen mit dem Worte Gottes, Auch ihr könnt den Boden eures Herzens locker halten mit fleißigem Gebet, Habt auch wilde Rauken genug abzuschneiden an demselben: die Lüge, den Ungehorsam, den Trotz und noch andere. Wenn ihr denkt, sie sind heute abgeschnitten, so wachsen sie morgen aufs Neue. Geht, liebe Kinder, gebt dem Herrn euer ganzes Herz. Ihr könnt ihm auch schon dienen an Andern. Ein Kind, das bei seinen kleinen Geschwistern am Bett sitzet und ihnen ihr Morgen- und Abendgebet vorbetet, ist auch ein Arbeiter in des Herrn Weinberge. Ein Kind, das dem Großvater und der Großmutter, denen die Augen blöde geworden sind, ihre Morgen und Abendlieder oder die christlichen Sieges- und Ruhelieder vorliest, ist auch ein Arbeiter im Weinberge des Herrn. -

Aber der Herr lässt es bei dem einmaligen Kommen nicht bewenden. Er geht aus um die dritte Stunde und findet Andere am Markt müßig stehen. Wer sind denn die? Es sind Solche, die in ihrer Kindheit nur mit äußerem Ohre gehört haben. Sie wissen von Christo und haben ihn doch nicht. Sie führen seinen Namen, und sind doch nicht erneuert, sind doch nicht lebendig geworden in ihm. Die ruft er dann bei angehendem Jünglingsalter. Das ist die dritte Stunde, wenn sie am Altare stehen zur Konfirmation. Ihr Jünglinge und Jungfrauen, die ihr hier versammelt seid, in jener dritten Stunde hat er euch gebeten: „Gehet ihr auch in meinen Weinberg!“ Habt ihr denn gehört? Seid ihr gekommen? Seid ihr drinnen? Ist denn euer Leben ein Leben der Kinder Gottes? Ist eure Arbeit Weinbergarbeit? Umgibt euch überall das Gefühl: „Ich stehe im Dienst Jesu Christi?“ Fraget euch, wem euer Wille, wem eure Kraft, wem euer Denken, wem euer Studieren gehört. Teilt einmal Alles in rechte Teile. Es werden ihrer drei werden. Der größte gehört euch, eurer Freude, eurer Eitelkeit, eurem Berufe. Der zweite, und der ist schon viel kleiner, gehört euren Eltern und Freunden. Der dritte, und der ist der kleinste, es ist auch bei Vielen gar keiner, gehört Jesu Christo. Und dessen Teil sollte doch der Hauptteil, dein ganzes Herz sein. Dann hättest du selbst an dir auch etwas Rechtes, und deine Eltern und Freunde auch. O kehret zurück, lasset die Stunde des selbstständigen Christengelübdes wiederkehren!

Es ist noch nicht zu spät, den Bund mit Christo zu erneuern. Der Herr kommt ja um die sechste Stunde wieder und rufet die am Markt müßig stehen: „Gehet ihr auch in meinen Weinberg!“ Wo möchten wir diese sechste Stunde, diese Mittagszeit im Leben suchen? Am Traualtare, Mancher hat lange Nichts von Gottes Ruf gehöret. Er wusste kaum noch, wie es in einer Kirche aussah. Die Altarstätte, wo der Herr seine höchsten Gaben und Gnaden spendet, war ihm besonders fremd geworden. Ja, es gibt Christen, die von ihrer Konfirmation ab bis zur Trauung nicht wieder am Altare des Herrn gestanden haben. Ob es auch in dieser Gemeinde solche gibt, ob etwa ein solcher unter uns ist, ich weiß es nicht. Woran soll man bei ihnen noch erkennen, dass sie zur Gemeinde des Herrn gehören wollen? Ich weiß es auch nicht. Nun erscheinen sie am Traualtare, Sie wollen Liebe mit in ihren Ehebund nehmen. Friede soll in ihrem Hause wohnen. Das tägliche Brot wollen sie haben. Wo soll das Alles herkommen? Sie müssen einmal an den lebendigen Gott denken. Diese stille Minute benutzt er denn und ruft in die Seele hinein: „Gehe du auch in meinen Weinberg!“ Ja, wir haben es von Vielen gehört: „Bis zu seiner Verheiratung war er ein wilder Christe, aber seit der Zeit ist er ein anderer Mensch geworden.“ Doch auch dieser Ruf schlägt noch nicht bei Allen an. Welches ist doch die Stätte, an der die meisten Versprechen gegeben sind? Das ist der Altar. Und von welchen Versprechen sind die meisten gebrochen? Von denen am Altar. Wenn der Gekreuzigte, der darauf stehet, redete, wenn er, so oft wir wiederkommen, uns die Sünden vorhielte, mit denen wir inzwischen unser Gelübde gebrochen haben, es würde sich kein Mensch mehr an den Altar trauen. Auch das Gelübde in der Trauungsstunde, ihm und dem erwählten andern Teil getreu zu sein bis in den Tod, wie oft ist es gebrochen! Darum kommt Christus wieder um die neunte Stunde. Aber, werdet ihr sagen, wo willst du denn mit dieser Stunde hin, was soll denn diese bedeuten?

Die neunte Stunde ist nach unserer Rechnung die dritte am Nachmittage. Da fängt die Sonne an sich zu neigen, da eilt sie dem Abend entgegen. Solche Zeit gibt es in deinem Leben auch. Wenn das Leben hinaus ist über seinen Höhepunkt, wenn im gewöhnlichen Laufe die vierziger Jahre vorbei sind, dann fangen wir an zu klagen: „Das erste halbe Jahrhundert ist hin. Es ist nicht mehr so wie sonst. Ich kann nicht mehr so angreifen. Ich kann nicht mehr so fort. Ich habe die alte Dauer nicht mehr. Es geht bergab mit mir.“ Weißt du, wer dir in dieser Abnahme deiner Lebenskraft predigt? Es ist der Hausvater. Er rufet dir damit zu: „Komm in meinen Weinberg, ehe die Nacht hereinbricht, ehe die Tür verschlossen wird. Siehe, ich nehme dich noch an, wenn auch der beste Teil deiner Kräfte dahin ist.“ Viermal hat der Herr den Knaben Samuel gerufen, der da schlief in der Stiftshütte. Dreimal verstand er nicht, wer ihn rief. Aber das vierte Mal verstand er's. Da antwortete er: „Herr rede, denn dein Knecht höret.“ O wenn wir doch Alle noch auf diese vierte Stimme hörten! -

Doch die Liebe wird nimmer müde; Gottes Erbarmung ruhet auch jetzt noch nicht. Es dämmert der Abend, die Sonne steht am Rande, die Schatten werden lang, die Kräfte der Arbeiter gehen ganz zu Ende, es ist die elfte Stunde. Da kommt er noch einmal. Du Menschenkind, seine Erbarmung kann dich nicht lassen. Dein Abend ist da, die Dämmerung bricht herein, Auge und Ohr werden dunkel. Deine Sonne steht am Rande, ein kühler Hauch aus Abend weht über das Feld deines Lebens - die Todeskälte weht dich in deinen Gebeinen immer schärfer an. Die Schatten werden lang: dein Register von Altersplagen und Altersklagen wird immer länger. Das Leben schenkt dir seine Hefen ein, damit es dir den Abschied erleichtere. Alle diese Leiden sind Stimmen des Hausvaters. Alle rufen aus einem Munde: „Komm in meinen Weinberg. Wenn du auch schwach bist, wenn du auch nur noch ein Stümpflein von dem abgebrannten Lichte bist, ich nehme dich doch an. Komm nur!“ O sieh diese Liebe des suchenden Herrn! Sie lässt sich um deinetwillen keinen Gang verdrießen. Geht sie doch an alle Kranken- und Sterbebetten hin und bittet noch einmal: „Komm in meinen Weinberg.“ Und um den sichern Sünder zu erschrecken, hat sie das Strafwort dazu: „Was steht ihr hier den ganzen Tag müßig?“ Nun, wer nimmer gehöret hat, der höre dann, denn es wird die Zeit des Hörens bald aus sein. Wer nimmer hinein gewollt hat, der gehe doch dann, denn der Hausvater kommt nicht wieder, und die Tür wird bald verschlossen werden. -

Schiebe es aber, der du noch in jungen Jahren stehst, nicht auf. Denke nicht, er kommt ja in der Dämmerung noch. Wer ihn viermal überhört hat, kann ihn auch das fünfte Mal überhören. Ja, er wird ihn um so leichter überhören, denn auch das innere Ohr wird immer stumpfer. Dazu bedenke, dass er dein rechtmäßiger und gnädiger Herr ist. Soll die Welt und ihr Fürst, sollen deine Verderber die Blüte deines Lebens hinnehmen, und er sich hernach mit den dürren Blättern begnügen? Das sei ferne.

Der Abend und der Lohn.

Es läuten die Feierabendglocken. Es ist die zwölfte, oder nach unserer Rechnung die sechste Stunde. Die Arbeiter ziehen heim und Empfangen ihren Lohn. Auch deine Feierabendglocken werden einst läuten, auch du wirst heimziehen. Auch du sollst deinen Lohn empfangen. Der Feierabend und der große Lohntag der Welt ist das Gericht. Doch als ein frommer und gnädiger Hausvater zahlet Gott seinen Arbeitern auch schon im Leben. Aller selige Friede, alle Freude der Kinder Gottes ist ein Angeld auf die Seligkeit. Er zahlet aber nicht auf Abschlag. Er gibt doch endlich Jedem seinen vollen Groschen. Der Schaffner Jesus Christus, lässt zuerst die Letzten kommen. „Ich will euch geben, was recht ist“ hat ihnen der Hausvater gesagt. Es empfängt aber Jeder das volle unverkürzte Tagelohn. Und so geht es rückwärts weiter bis zu den Ersten, die der Hausvater um einen Groschen gedingt hatte. Sie empfangen auch Jeder seinen Groschen. Da murren sie wider den Hausvater und sprechen: „Diese Letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, und du hast sie uns gleich gemacht, die wir des Tages Last und Hitze getragen haben!“ Sie wollten eine höhere Stufe der Seligkeit und der Herrlichkeit, einen besonderen Himmel für sich haben. Aber der Hausvater weist sie zur Ruhe. Er spricht zu einem unter ihnen: „Mein Freund, ich tue dir nicht unrecht. Bist du nicht mit mir eins geworden um einen Groschen? Nimm, was dein ist, und gehe hin. Ich will aber diesen Letzten geben, gleichwie dir. Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem Meinen? Siehst du darum scheel, dass Ich so gütig bin? Also werden die Letzten die Ersten, und die Ersten die Letzten sein. Denn Viele sind berufen, aber Wenige sind auserwählet.“

Geliebte Freunde, fällt denn dies Murren auch wohl in unser Leben? Ja wohl, ja wohl. Der du von Jugend auf dem Herrn gedient, oder der du dich noch in den besten Jahren des Lebens ihm zugewendet hast, du hast dich besonders davor zu hüten. Die Erquickungsstunden kommen. Er gibt dir das Angeld der Seligkeit. Friede ruht in deinem Herzen. Nun hast du einen Nachbar oder einen Bekannten, der in Sünden alt geworden ist. Er ist etwa in jungen Jahren ein Spötter gewesen. Er hat auch über deinen Glauben, über deinen gerechten Wandel gespottet. Er hat am Markt müßig gestanden bis um die neunte oder gar bis um die elfte Stunde. Da hat ihn der Hausvater noch einmal angerufen, und es war eine gute Stunde für den Alten, er hörte und ging mit in den Weinberg. Mit der schweren Bußhacke hackte er den alten harten Boden um, und in dem alten Lande, das so lange brach gelegen hatte, fing es an zu grünen; in der alten Wüste sprosste die Rebe des Glaubens mit den Früchten der Gerechtigkeit. Nach tiefem Trauern ward er fröhlich, die Sonne der Gnade lag auf dem alten Angesichte und vergoldete seine Furchen mit Abendrot. Wenn du das gesehen hast, oder wenn du es jetzt siehst, solltest du dich freuen und fröhlich sein wie ein Gärtner, bei dem ein dürrer Baum noch einmal recht frisch ausschlägt. Es ist aber nicht immer so. Es will dir in deinem Herzen vorkommen, als ob dein Christentum ein besseres sei, denn jenes. Ja, es fährt in schlechten Stunden die törichte Einbildung durch deine Seele, als ob Gott für dich einen bessern Gnadenlohn, eine ganz aparte Seligkeit haben müsse. Und doch ist es Gnadenlohn. Wohl redet unser Evangelium im Gleichnisse von einem Vertrage zwischen dem Hausvater und den ersten Arbeitern. Aber du brichst selbst den Vertrag, Mit deiner Lieblosigkeit, mit deiner Hoffart zeigest du, dass du eigentlich ein unnützer Knecht im Weinberge gewesen bist. Du kommst als ein eitler Dränger unter die Lohnempfänger. Beherzige das Wort: „Nimm was dein ist.“ Dasselbe hat zwei Seiten: Nimm in stiller Demut, was ich dir aus Gnaden versprochen habe, kümmre dich nicht um deine Gnade gegen die andern. Oder: „Nimm was dein ist.“ was du verdient hast. Und so uns Gott lohnet nach Verdienst, haben wir Nichts verdient, denn eitel Zorn und Strafe. -

Die Väter unsrer protestantischen Kirche erzählen bei diesem Evangelio gern eine Geschichte von einem Einsiedler und einem Räuber: Vor Zeiten war ein Einsiedler, der starb mit großem Ruhme über sein heiliges Leben. Ein Räuber hörte ihn und schlug in sich. Er wollte eilig vor Gott seine Sünde beichten an heiliger Stätte. Er suchte den kürzesten Weg, wenn er auch mühsam war. Auf diesem Wege brach er den Hals. Dies beides sah ein kluger frommer Mann. Und bei dem Absterben des Einsiedlers weinte er, als aber der Räuber den Hals brach, ward er fröhlich. Als man ihn darüber zur Rede setzte, sprach er: „Als der Einsiedler starb, fuhr er zur Höllen um seiner Hoffart willen, darum habe ich geweint. Als aber der Räuber den Hals brach, trugen die Engel seine Seele in den Himmel um seiner Demut und um seiner Buße willen. Darum habe ich mich gefreut.“ Geliebte Gemeinde, mag der Herr uns behüten, dass wir uns nicht so und ähnlich von Gott verirren wie der Räuber; aber noch mehr, dass wir nicht ein Ende nehmen wie der Einsiedler, Amen.

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