Ahlfeld, Johann Friedrich - Die doppelte Auslegung der Gebote Gottes.

Ahlfeld, Johann Friedrich - Die doppelte Auslegung der Gebote Gottes.

(6. Sonnt, nach Tr. 1848.)

Die Gnade unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi, die Liebe Gottes des Vaters, und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch Allen. Amen.

Text: Matth. 5, V. 20-26.
Denn ich sage euch: Es sei denn eure Gerechtigkeit besser, denn der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen. Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist: Du sollst nicht töten; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein. Ich aber sage euch: Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer aber zu seinem Bruder sagt: Racha, der ist des Rats schuldig; wer aber sagt: Du Narr, der ist des höllischen Feuers schuldig. Darum, wenn du deine Gabe auf dem Altare opferst und wirst allda eindenken, dass dein Bruder etwas wider dich habe; so lass allda vor dem Altar deine Gabe und gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder; und alsdann komm und opfre deine Gabe. Sei willfährig deinem Widersacher bald, dieweil du noch bei ihm auf dem Wege bist, auf dass dich der Widersacher nicht dermaleinst überantworte dem Richter, und der Richter überantworte dich dem Diener und werdest in den Kerker geworfen. Ich sage dir: Wahrlich, du wirst nicht von dannen heraus kommen, bis du auch den letzten Heller bezahlst.

An drei Stätten, in Christo Jesu geliebte Gemeinde, kann der Mensch seine Hütte bauen. Er baut sie entweder unten im Tal, oder am Abhang, oder auf Bergeshöhen. Wenn sie unten im Tal steht, wo die Wasser ihr Reich und Getriebe haben, kann sie weggerissen werden, sobald diese nur etwas über ihre gewöhnliche Höhe steigen, oder versinken, sobald es aus den Tiefen quillt. Wenn sie am Abhang steht, kann sie fortgerissen werden, sobald die Wasser von den Bergen herniederstürzen. Wenn sie oben auf der Höhe steht, kann ihr keine Flut etwas anhaben. - An drei verschiedenen Ställen baut sich der Mensch mit seinem inwendigen Leben an. Entweder schlägt er sein Zelt auf in der Tiefe, mitten in der Sünde, im Unglauben, im Lug und Trug, in der Empörung, in Wollust und Hurerei, in den Tiefen der Gottvergessenheit. Die Furcht vor Gott ist dahin, Scham und Schande vor den Leuten ist auch verglommen, wie zuletzt an der Lampe, der das Öl fehlt, auch die leuchtende Schnuppe verglimmt, wenn die Flamme schon tot war. Über einen Solchen gehen die Fluten des Gerichts, auch des Menschengerichts, alle Tage weg. Das Urteil der Leute richtet ihn, die Verachtung und Schande liegt auf seinem Haupt. Das Urteil der Gerichte richtet ihn, Strafen und Gefängnis sind sein Teil. Seine Hütte steht im Morast der Welt, es quillt aus den Tiefen, er sinkt von einer Sünde in die andere. Das sind die, so mit Gott und Jesu Christo, mit dem Gesetz und Evangelio fertig sind. - Und doch wollen diese auch noch eine eigene Gerechtigkeit haben. In der Sterbestunde laufen sie im Geist hinaus auf den Acker ihres Lebens und wollen zusehen, ob nicht auf dem Dornen- und Distelfeld eine Hand voll Blumen und Ähren zusammenzulesen sei. Um sie voll zu bekommen, brechen sie den Dornen und Disteln die Stacheln ab, treten vor ihren Richter und sagen: „Sieh doch, lieber Herrgott, es hat zwar oft geschienen, als ob ich mich von dir gänzlich losgesagt hätte, aber eigentlich ist es doch nicht wahr gewesen. Schau her, was ich dir bringe!“ - Ein tiefes Weh durchschneidet dabei unsere Seelen. Auch du willst noch mit deinen Werken gerecht werden! Du willst das Blei, aus dem Kugeln zum Tode gegossen werden, in Gold verwandeln, und dir dafür den Eingang zum Himmel erkaufen! Auch du bist noch nicht so arm und zerschlagen, dass du mit der Maria Magdalena hinliefst zu dem Auferstandenen, seine Knie umklammertest und schriest: „Gnade! Gnade! und noch einmal Gnade! um deinetwillen, um der Dornen willen, die du auf deinem Haupt getragen, und nicht um derer willen, die auf dem Acker meines Lebens gewachsen sind.“ Auch du willst noch nicht einmal umsonst kaufen Wein und Milch, sondern die staubigen Winkel des Herzens durchsuchen, ob nicht ein verrosteter Heller darinnen liege! - - -

Da spricht der größte Teil der christlichen Gemeinde, und ihr, liebe Zuhörer, sprecht es allzumal mit: „Gott sei tausend Dank, dass meine Seele nicht ist an seiner Statt!“ Ja, Gott sei tausend Dank! Aber man soll den Tag nicht vor dem Abend loben. Es waren uns noch zwei Teile der Gemeinde übrig geblieben: die, welche die Hütte ihres Heils an den Abhang des Berges, und die, welche sie auf den Berg gebaut hatten. Beide Teile gehen uns nach unserem Evangelio recht nahe an. Von jenen Kindern der Tiefe sehen wir ganz ab und halten uns bei denen, die schon im Leben an eine Gerechtigkeit vor Gott denken. Die Gerechtigkeit vor Gott wird gemessen nach dem Gesetze, das Gott gegeben hat. Hüten wir uns, dass wir dieses nicht falsch auslegen und vor ihm gerecht zu sein wähnen, wo wir es nicht sind! Wir legen zu dieser Warnung unserer Andacht das Wort zu Grunde:

Die doppelte Auslegung der Gebote Gottes.

  1. Nach dem Buchstaben,
  2. Nach dem Geist.

Herr mein Gott und Heiland, behüte mich, dass ich deine Gebote nicht fasse nach armer menschlicher Sprachlehre, die sich begnügt bei dem äußeren wörtlichen Sinn. Du hast uns deinen heiligen Geist verheißen und gesandt. Er soll uns in alle Weisheit leiten. Lass ihn uns auch leiten in die Tiefen des Gesetzes, dass wir sehen seine Wahrheit und seine Wunder. Herr Jesu Christ, lege uns durch ihn selbst das Gesetz aus. Lege es uns aber auch ein in unser Herz, damit wir nicht bleiben bei dem Wissen, das aufbläht, sondern zu der Liebe kommen, die aufbaut. Segne uns, Herr, dazu diese Stunde. Nimm uns hin, dass wir im Geist vor dir stehen und durch den Geist, der die Tiefen der Gottheit erforscht, in die Tiefen deines Willens, unserer Sünde und deiner Gnade geführt werden. Herr, gib uns dies um deines heiligen Verdienstes willen auf deiner Barmherzigkeit. Amen.

I. Nach dem Buchstaben.

Unser Herr und Heiland hebt an mit der Gerechtigkeit der Schriftgelehrten und Pharisäer: „Ich sage euch, es sei denn eure Gerechtigkeit besser, denn der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.“ Gerecht kann ich nur sein, wenn ich dem göttlichen Gesetz genügt habe, wenn mein Leben auf das Gesetz passt wie eine Hand auf die andere. Es kommt aber dabei gewaltig auf die Auslegung des Gesetzes an. Du kannst auf der Oberfläche bleiben, du kannst in die Tiefe gehen. Du kannst es nach dem Buchstaben und nach dem Geist auffassen. Der Herr führt uns zunächst arme, oberflächliche Buchstabenmenschen entgegen, Schriftgelehrte und Pharisäer. Dass es auch unter ihnen tiefer suchende Naturen gab, dafür zeugen uns ein Nikodemus, Joseph von Arimathia und Gamaliel. Aber sie waren Ausnahmen unter der Masse, Goldkörner unter dem Sand. Wir denken fast nicht an sie, wenn wir von Schriftgelehrten und Pharisäern reden. So sehr kann die Sünde einen ganzen Stand beflecken, dass selbst die Unschuldigen an der Schmach desselben mitzutragen haben. Aber nehmen wir den großen Haufen der Pharisäer. Wie behandelten sie in der Auslegung Gottes Gebot? Wir sehen es zunächst am fünften. Das heißt: „Du sollst nicht töten.“

Luther legt es aus: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unserem Nächsten an seinem Leib keinen Schaden noch Leid tun, sondern sollen ihm helfen, ihn fördern in allen Leibesnöten.“ Solche Auslegung lasse ich mir gefallen. Denn wenn uns der Doktor in dem kurzen Wort, das ja auch die Kinder behalten sollen, nicht Alles gesagt hat, was in dem Gebot ruht, so wird es denen, die den Eingang, die Furcht und die Liebe Gottes ehrlich treiben, aus dieser schon von selbst klar werden, was im Einzelnen zu dem Gebot gehört. Wie legen sich aber die Schriftgelehrten Israels das Gebot aus? Lediglich wie ein Kriminalgesetz, wie ein Stück aus dem preußischen Landrecht. Sie finden nichts darin, als was der arme Buchstabe sagt: Du sollst nicht töten, du sollst Keinen totschlagen. Wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein, der soll unter das Urteil und Schwert des Gerichts fallen. Damit sind sie fertig. Nach ihrer Auslegung hatte Gott der Herr das Gebot bloß für die Hände gegeben. Die durften nicht töten. Was im Innern vorging, daraus sollte es keinen Bezug haben. Im Innern, in den Gedanken konnte einer ein zehnfacher Totschläger sein, das schadete Nichts. Ob das Herz springen wollte vor Groll, ob die Augen Funken sprühten, und die Worte spitz und scharf wie Dolche dem Anderen in die Seele fuhren, das war ihnen einerlei. Sie hatten Gottes Gebot gehalten, sie waren gerecht vor Gott. -

Diese Pharisäer waren fleißig im Gebet. Sie versäumten kein Morgen- und Abendgebet, kein Tischgebet. Die Meisten beteten des Tages siebenmal. Die rechte Länge hatten ihre Gebete auch, eine strenge Miene machten sie auch. Aber die liebe Demut, diese Seele alles Gebets, fehlte wiederum. Es kann Niemand recht beten, als der in eigener Armut hungert und dürstet nach der Gnade. Sie aber waren satt und voll. Sie hatten eigentlich in der Hauptsache nichts mehr zu bitten; sie beteten, nur um Gottes Gebot zu erfüllen, und ganz gerecht zu sein. Sie waren gerecht. -

Diese Pharisäer bringen ihren Zehnten, ihre Opfer. Diese Opfer waren die ausgesuchtesten Tiere. Sie hätten sich geschämt, ein lahmes oder krankes zu opfern. Aber Paul Gerhards schöne Verse: „Mein Weihrauch, Farr‘n und Widder Sind mein Gebet und Lieder“ hätten für sie keinen Sinn gehabt. Es war ihnen genug, auf dem äußern Altare zu opfern. Der innere blieb kalt. Da stieg keine Flamme auf außer der des eigenen Ruhmes, wie wir sie bei jenem Pharisäer im Tempel so hell aufflackern sehen. Sie schämen sich nicht unter dem Vorwande der Fürbitte und des Opfers der Witwen Häuser zu fressen. -

Die Sabbattage und Feste hielten sie. Es sollte an ihnen nicht einmal ein Kranker geheilt werden, nicht einmal ihr Todfeind Christus am Kreuz hängen. Doch den reinen, unbefleckten Gottesdienst vor Gott dem Vater, das Besuchen der Witwen in ihrer Trübsal, ließen sie dahingestellt. Es war im Sabbatsgesetz nicht befohlen, sie waren doch gerecht. -

Wie kommen euch diese Pharisäer vor, geliebte Gemeinde? Wie Würmer, die an der Schale nagen. Den Kern im Gebote, die Liebe, mit der uns Gott geliebt hat, die Liebe, mit der wir ihn und den Bruder lieben sollen, fanden sie nicht. Es graut uns vor diesen langen Staatskleidern mit den Denkzetteln, vor diesen gemessenen Mienen, vor diesen stolzen Gesetzesmaschinen. Ja, noch kälter sind sie als Maschinen. Diese können nicht lieben, also auch keine Liebe versäumen, also auch keiner kalten Selbstsucht frönen. -

Und doch - und doch müssen wir, wenn wir in unser Geschlecht, in unsere Christen hineinsehen, an diesen Pharisäern noch mit gewaltigem Respekt in die Höhe blicken. Es ist wahr, Hochmut und Habgier hatten in ihnen ihre Wohnungen aufgeschlagen, wie Geier und Uhu's auf und in hohen faulen Eichen. Aber ein Ernst war doch noch in den Leuten. Gottes Wort hatte ihnen noch eine Geltung, wenn sie es auch äußerlich fassten, nach dem Buchstaben auslegten. Sie bändigten doch den trägen natürlichen Menschen, dass er in eine gewisse Zucht des göttlichen Gebotes hinein musste. Sie hingen selbst bei ihrem armseligen Verständnis des Gesetzes so fest an demselben, dass in den Tagen Herodes des Großen viele Tausende lieber den Tod als die Verspottung und Übertretung desselben gelitten haben. Man möchte sich an die Gräber dieser Leute stellen und weinen und rufen: „O was hätte aus euch werden können, wenn ihr durch den Verklärer der Welt diese eisernen Kräfte hättet verklären lassen! Was hättet ihr für Rüstzeuge des Reiches Gottes werden können! Aber ihr habt es nicht gewollt. Wir danken Gott, dass er uns den einen Paulus aus eurer Mitte geschenkt hat.“ - Vergleichen wir mit ihnen unser Geschlecht und uns selbst mit. Gerecht sein will jetzt alle Welt, du auch. Gerechtigkeit kann aber nur nach Gottes Gesetz gemessen werden. Wie fasst du das Gesetz auf? Hältst du dich an den Buchstaben? „Nein,“ antwortest du, das widerspricht dem Geiste der christlichen Freiheit. Ich halte mich an den Geist. Die Schrift sagt: „Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“ In deiner geistlichen Befolgung des Gesetzes willst du gerecht sein. Wie fasst du denn aber den Geist? Ich weiß dazu keinen anderen Weg, als dass ich mir erst den Buchstaben recht ins Herz lerne und nehme. Wenn ich den darinnen habe, und in fleißigem Gebet verharre, kommt der Heilige Geist, der Vater alles gefunden Geistes, und legt ihn mir aus. So kommt aus dem Buchstaben der Geist in mein Herz. Wenn ich Wein haben will, muss ich erst Trauben mit Schale, Kern und Fleisch haben. Aus ihnen wird er gepresst. Und wenn ich Öl haben will, muss ich zuvor Oliven mit Schale, Kern und Fleisch haben. Aus ihnen wird es gekeltert. Meinst du, dass der Geist aus der Luft niederfalle wie Regen und Tau? Wie kommst du denn zu deinem Geiste, nach dem deine Gerechtigkeit gemessen werden soll? Ich will es dir sagen. Tausend Jahre und darüber ist Jesus Christus in Deutschland gepredigt. Einst hat unser Volk an ihn geglaubt. Es ist fröhlich und selig gewesen in diesem Glauben. Nun sind die Tage des großen Abfalls gekommen. Die Verleugnung Christi ist durch alle Stände hindurch gedrungen. Bildung, Genuss und Freiheit machen die Dreieinigkeit aus, vor der die Welt jetzt kniet, zu der sie betet. Gottes Gesetz gilt Wenigen noch als Gottes Gesetz. Und auch in den Herzen diese Wenigen hat das Wasser der Zeit die alte Schrift auf Mosis Steintafeln verwaschen, dass sie die scharfen und erhabenen Buchstaben Gottes nicht mehr in ganzer Schärfe und Höhe lesen. Dennoch hat sich durch die tausendjährige Predigt des Gesetzes und des Evangelii ein Niederschlag von Zucht und Sitte gebildet, aus dem auch du vom Glauben an Gottes Gesetz und Jesum Christum Abgefallener, nicht ganz heraus kannst. Wenn die Regenwolken vorüber sind, behält doch die Luft noch Regenteile; und wenn der Glaube gestorben ist, bleiben eine Weile im Leben und in der Sitte noch ungesehen Glaubensteile hängen. Diese sind aber so schwach, dass sie vor jenen Zeitgöttern überall die Knie beugen müssen. Wo dies letzte Wissen von Christo und das Restchen seiner Nachfolge in Streit gerät mit der Bildung der Zeit, da heißt es: „Geh, lieber Herr Christus, wir können dich hier nicht brauchen, vielleicht ein andermal.“ Wo der Mann mit der Dornenkrone, der Dulder über alle Dulder, den Freuden und Genüssen des Tages zu nahe kommt, da heißt es: „Warte, Herr Christus, bis auf den Sonntag, da habe ich Vormittag vielleicht ein Stündchen Zeit für dich, wenn das Wetter und andere Hindernisse nicht in den Weg kommen.“ Wo der freie Mann, den der Teufel mit seinen Gütern, das Kreuz mit seinen Nägeln und der Tod mit seinen kalten Klammern nicht binden konnte, zum Gehorsam gegen seinen Vater im Himmel und die von ihm gesetzten Obrigkeiten auf Erden ermahnt, da entgegnet man ihm: „Warte, bis wir mit unserer Verfassung fertig sind, bis wir uns selbst Obrigkeiten gesetzt haben. Diesen wollen wir dann gehorchen.“ Sagt man denn nicht auch: „Bis wir uns selbst einen Gott gesetzt haben?“ Man könnte es getrost sagen. Denn wie Gott der Herr im Anfang, im Stande der Ordnung, den Menschen nach seinem Bild erschaffen hat, so schaffen sich in der Zeit der Verkehrtheit die Menschen Gott nach ihrem Bild. Er soll in seinem Regiment gerade so sein, wie sie in ihrem Gehorsam. Ein armes Restlein von Moses und Christus, vermengt mit den Zeitsünden, macht den Geist aus, nach dem die meisten unserer rechtschaffenen Leute ihre Gerechtigkeit messen. Ein gewisser Lebensanstand wird erfordert durch die Bildung. Die Sünde darf nicht so wüst oder öffentlich hervorbrechen, dass man sich in guter Gesellschaft unserer schämt. Sie darf nicht so ausschreiten, dass unser Beruf, unser gemächliches Leben oder die Gesundheit darunter litte. Zum Genuss gehört es auch, dass das Elend der Armen nicht so grell in unsere Freude hineinschreit. Sie müssen bedacht werden. Die Freiheit bringt es mit sich, dass Jeder glauben kann, was er will, dass man auch die, welche einmal noch an den lebendigen Gott und sein Wort glauben wollen, nicht mit Gewalt verfolgt. Das ist der Geist, mit dem heut zu Tage von der großen Masse das Gesetz aufgefasst wird. Dieser Geist der neuen Pharisäer ist viel ärmer und flacher als der Buchstabe der alten; und wie er sich ändert, so muss der liebe Gott auch mit herum. Hier möchten wir das Wort des Apostels umkehren: Der Buchstabe macht lebendig, aber der Geist tötet. O wenn sich doch die Welt erst wieder an den Buchstaben halten lernte! Sie würde fürwahr einen andern Geist darunter finden. Wenn sie einmal die, welche dieser Geist geistlich getötet hat, beisammen sähe, es wäre ein großes, grauses Totenfeld.

Das sind die, welche ihre Hütten an den Berg gebaut haben. Die Fluten menschlicher Gerichte rauschen unter ihnen durch. Vor der Schande vor der Welt hüten sie sich. Das ist nicht schwer, weil das Urteil immer lockerer und stumpfer wird. Den Strafen der Gerichte gehen sie auch allenfalls aus dem Weg. Es wird dies auch immer leichter, weil Gottes Gesetz immer weiter aus den Gesetzbüchern gestrichen wird. Ja, die Wasser in der Tiefe rauschen unter ihnen durch. Wie aber, wenn die Wasser vom Berg kommen? wenn die Gerichte Gottes hereinbrechen? Sein Urteil wird nicht loser und leichter, und wenn die ganze Welt leicht urteilt. Seine Fluten kommen aber. Sie haben die alten Pharisäer nicht verschont, und werden die neuen auch nicht verschonen. Dann wird die Tünche von der Wand und den hohlen Gräbern heruntergewischt werden, wie man mit einem Schwamm den Staub vom Tisch wischt. So lange ein lügenhafter Bettler vor einem Blinden steht, kann er diesem vorreden, er sei ein reicher Mann in herrlichen Kleidern. Sobald aber ein Sehender hinzutritt, muss er mit Schanden stille schweigen. So wirst du vor dem sehenden Gott schweigen müssen von deiner Gerechtigkeit. Der Herzenskündiger fragt nicht nach dem Geist der Zeit, sondern nach dem heiligen Geist. In diesen Angststunden wirst du nach einer anderen Gerechtigkeit greifen, wie ein Sterbender in die Luft greift. Aber es ist zu spät. Die Türen sind geschlossen. Darum bedenke zu dieser Zeit, dass es eine andere Gerechtigkeit gibt. Sie wird geboren aus einer anderen Auslegung der Schrift:

II. Nach dem Geist.

„Ich aber sage euch.“ fährt Christus fort. Dies Ich steht so hoch über allem Menschengeiste und Menschengesetz wie der Himmel über der Erde, und dies aber fällt auf unsere Gerechtigkeit wie die Axt auf einen faulen Baum, der nicht einmal ein Weilchen Widerstand leisten kann. Ich aber sage euch: Wen meint er denn damit? Die Gelehrten sind nicht einig, ob er bloß die Pharisäer, oder ob er seine Jünger mit meint. Was urteilt ihr, meint er uns mit? Ja wohl. Die alten Pharisäer sind ja verdorben und gestorben. Das Wort hätte nun keinen Sinn mehr. Er meint die Pharisäer in seiner Kirche mit. In uns Allen steckt die alte Pharisäerwurzel. -

Was sagt er denn? Er hebt an, das Gesetz auszulegen in seiner Weise. Er hält sich wieder an das Fünfte Gebot. Schau, wie er in die Tiefe hineinrückt: „Wer mit seinem Bruder zürnt, der ist des Gerichts schuldig; wer zu seinem Bruder sagt: „Racha.“ der ist des Rats schuldig; wer aber sagt: „Du Narr,“ der ist des höllischen Feuers schuldig.“ Er verdammt allen Zorn, Hass, Scheltwort und dergleichen. Er trägt Mosis Gebot von den steinernen Tafeln, die man mit Augen sah, bis ins tiefste Herz hinein. Ja, er legt aus das. was die Welt in ihrem Gericht ungestraft hingehen lässt, nicht allein menschliche, sondern auch göttliche Strafe. Liebe Christen, die hier vorgezählten Punkte sind gar nicht so schwer. Eine Zornkohle im Herzen gegen Diesen oder Jenen trägst du fast beständig mit dir herum. Ein Wort wie „Racha“ - es bedeutet leerer, nichtsnutziger Mensch - ist dir gar nicht ans Herz gewachsen, es läuft dir beim Urteil über Andere gar leicht über die Zunge. Und das „du Narr“ ist heut zu Tage so wohlfeil geworden, dass es eine ganz gang und gäbe Münze ist. Es fällt kaum noch auf. Hast du denn dies dein Zürnen und Schelten schon einmal recht an dies Wort Christi gehalten? Ei, antwortest du, das darf man so genau nicht nehmen! Wie nimmst du es aber, wo es sich etwa um deinen Schaden handelt, so genau! Wenn es in deinem Haus brennt, löschst du nicht allein das helle Feuer aus, sondern du reißt auch die Dielen auf, ob etwa darunter im Gebälk noch etliche Funken glimmen. Aus solchen glimmenden Funken erwächst ja der ganze Brand. Zorn und Hass im Herzen sind die glimmenden Funken, die in Misshandlung und Mord zur hellen Flamme ausbrechen. Wenn du in einem Gebirge, etwa im Thüringer Walde reist, und es läuft dir eine giftige Schlange in den Weg, so schlägst du sie tot, wenn du irgend kannst. Findest du etliche Schritte davon unter dürrem Laub auch noch die Schlangeneier, so zertrittst du sie mit den Füßen, damit keine neuen Schlangen herauskommen. Du fasst sie nicht einmal mit den Händen an. Es graut dir vor ihnen, weil es Schlangeneier sind. Der Zorn und Hass im Herzen sind auch Schlangeneier. Wenn es heiß wird, kriechen die Jungen aus. Also sollst du billig gegen Zorn und Hass dasselbe Grauen haben, wie gegen die Schlangeneier. Du sollst sie auch zertreten und vertilgen. Wer seinen Bruder hasst, der ist ein Totschläger, und ihr wisst, dass ein Totschläger nicht hat das ewige Leben bei ihm bleibend. -

Dass der Donner den Leuten Nichts als den Schreck verursacht, dass der Blitz den eigentlichen Schaden tut, steht in jedem Kinderfreund, und ihr würdet euch schämen, wenn ihr das nicht wüsstet. Der zerstörende Blitz aber in deinem Leben ist das Wohlgefallen an der Sünde, ist der innere Zorn, wenn dieser scharf und rot am Firmament deines Herzens dahinfährt. Das ungeschlachte Wort und die Offenkundige Gräueltat ist nur der Donner, der ihm nachschaut. Dass es wetterleuchtet ohne Donner, dass viele Blitze in Erde Meer und Bäume, und nicht in die Wohnungen und auf die Häupter der Menschen fahren, dass viele deiner Zornblitze bloßes Wetterleuchten oder unschädliche Schläge werden, hast du der erbarmenden Gnade Gottes zu danken und nicht dir selbst. Wenn unsere Gedanken auf der Stelle Taten würden, wären wir allzumal Mörder, Diebe, Hurer und Ehebrecher. So legt aber Gott das Gesetz aus, so richtet er. Darum rufen die Propheten so oft: „Bekehrt euch von ganzem Herzen. Eure Herzen zerreißt, und nicht eure Kleider.“ Darum bittet David: „Schaff in mir Gott ein reines Herz und gib mir einen neuen gewissen Geist.“ Willst du hassen, so hasse die Sünde. Willst du zürnen, so zürne darum, dass man Gottes Liebe und sein heiliges Gebot verachtet, aber nicht darum, dass man deiner armen sündigen Person zu nahe getreten ist. Ein Zorn um Gottes willen ist etwas gar Großes, aber auch gar Seltenes. David kann sagen Psalm 139,21-24: „Ich hasse ja, Herr, die dich hassen, und verdrießt mich auf sie, dass sie sich wider dich setzen. Ich hasse sie in rechtem Ernst, darum sind sie mir feind.“ Und dann kann er gleich unmittelbar hinzufügen: „Erforsche mich, Gott, und erfahre mein Herz; prüfe mich und erfahre, wie ich es meine. Und siehe, ob ich auf bösem Weg bin, und leite mich auf ewigem Weg.“ Nachdem er jenes schwere Wort gesprochen hat, erschrickt er über sich selber. Er fährt daher gleich ins eigene Herz und nimmt auch den heiligen Gott mit hinein. Der soll sehen, dass auch kein Fäserchen eigenen Grolles in dem Hass wider die Gottlosen ist. Wenn du so Hassen und zürnen kannst, dann hasse und zürne! Wer aber das will, muss erst lieben lernen, muss erst mit allen Mitteln den Feind für seinen Herrn und für sich zu gewinnen suchen. Er muss den natürlichen, menschlichen Hass bewältigt, ausgerottet haben, wenn ein göttlicher daraus werden soll. Aber viel besser, es wird eine göttliche Liebe daraus. -

Der legt ein Beispiel vor. wie du dir das fünfte Gebot weiter auslegen sollst, wie der Christ seinem natürlichen Hass zum Trotz mit seinem Feind umgehen soll: „Darum, wenn du deine Gabe auf dem Altar opferst“ - wann opferst du? In jedem Gebet: das Gebet ist der evangelische Weihrauch. In jeder Beichte: ich lege mich da selbst als des Todes würdig um meiner Sünde willen gebunden auf den Altar. Aber der barmherzige Gott greift, wenn er Glauben sieht, wie einst bei Abraham in den heiligen Wald seiner freien Gnade, und legt das Opferlamm, das einmal geopfert ist, auf den Altar an meine Statt. „Und wirst allda eindenken, dass dein Bruder etwas wider dich habe.“ Ja die Betkämmerlein und der Beichtstuhl sind die rechten Gedenkstätten. Es fällt mir da Alles ein, was Gott wider mich hat. Soll mir billig auch einfallen, was mein Bruder wider mich hat. Mit meiner Schuld nach oben muss mir auch die Schuld zur Seiten in die Seele kommen. - „So gehe zuvor hin und versöhne dich mit deinem Bruder.“ Horch, der Herr Jesus geht hier recht gerade zu. Er fragt nicht einmal erst, wer Schuld gewesen ist. Das hat er wohl vergessen? Nein, er hats nicht vergessen. Vergessen ist seine Sache nicht. Er will dir damit sagen, es kommt gar nicht darauf an, wer der Anfänger des Haders gewesen ist. Gott und Menschheit waren zerrissen. Die Menschen waren die Friedensstörer. Und dennoch hat Gott das Werk der Versöhnung begonnen. Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selber und rechnete ihr ihre Sünde nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. Ist denn der heilige Gott Anfänger der Versöhnung gewesen, kannst du es auch sein. Ist es etwa eine Schande, der Erste in der Liebe zu sein? Das ist aber der, welcher seinem Bruder die Hand bietet. Du brauchst dich nicht zu schämen, ehe du zur Beichte gehst, zu deinem Feinde und Widersacher zu gehen und ihm zu sagen: „Mein Bruder, ich will heute dem Herrn mein altes trotziges Herz auf den Altar legen. Da will ich auch all meinen Groll gegen dich mit hinlegen. Vergib du mir meine Sünde, wie ich von Gott Vergebung hoffe; lass uns Frieden schließen, wie ich ihn mit ihm schließen will.“ Dann wird dich dein Widersacher nicht mehr vor Gott dem Richter verklagen. Der Richter wird dich nicht überantworten dem Diener. Die Diener, die Engel Gottes, welche am Tag des Gerichts alle Ärgernisse aus dem Reich des Sohnes sammeln sollen, werden dich nicht mit heraussammeln und in den Kerker werfen.

Wie lange du zu solchem Friedenswerk noch Zeit hast, weißt du nicht. Du kannst sterben, ehe wieder eine Opferstunde im Gebet oder in der Beichte kommt. Bist du aber gestorben, ohne in die Liebe Christi, die Allen aus Gnaden ihre Sünde vergibt, durch deine Vergebung eingetreten zu sein, wie soll er dir vergeben? Du wirst in den Kerker eingeworfen. Du wirst nicht von dannen hinausgehen, bis du auch den letzten Heller bezahlst. Der Herr besiegelt dies Wort noch mit seinem Wahrlich. Bezahlen aber kannst du nicht. Denn wenn der Herr kommt, nimmt er dem kalten und faulen Knecht auch noch das letzte Restchen, das eine Pfund heiligen Eigentums, das er vergraben hatte, und gibt es dem, der zehn Pfund hatte. Bist dann von allem Glauben nackt und bloß, womit willst du bezahlen? Du bleibst ein ewiger Schuldner, Gefangener, Verdammter. Darum suche Frieden, dieweil es Zeit ist. In jedem Gang um den Frieden mit deinem Nächsten gehst du auch dem Frieden Gottes nach. Bischof Johannes von Alexandrien konnte einst einen angesehenen Mann seiner Gemeinde nicht dazu bewegen, mit seinem Widersacher Frieden zu schließen. Da führte er ihn in die Kirche und betete laut mit ihm das Vater Unser. Der Bischof betete mit bis: „Vergib uns unsere Schulden.“ Da schwieg er, und der Hartherzige betete allein weiter: „Wie wir vergeben unsern Schuldigern.“ Das schlug ihn. Es klang wie die Stimme des Gerichts. Er fiel dem Bischof zu Füßen, und sein erster Gang aus der Kirche war zu seinem Feind, mit dem er Frieden schloss. Mit jedem Vater Unser richten und verdammen wir uns selbst, wenn wir Mord und Totschlag nicht in ihren tiefsten Wurzeln, im Hass und Zorn unseres Herzens ausrotten.

Das ist Christi Auslegung des fünften Gebots. - „Aber“, klagst du, „die ist schwer, die verlangt viel von mir. Wo kriege ich diese Liebe her?“ Von diesen Pharisäern und Schriftgelehrten hat keiner gefragt, darum hat er es auch keinem gesagt. Aber dem suchenden Nikodemus hat er es offenbart in jener stillen Nacht: Du musst von Neuem geboren werden. Du musst durch den Geist verklärt werden in das Wesen Christi. Dann wirst du auch verklärt in seine Liebe, und aus dieser Liebe heraus hast du auch ein Herz gegen deinen bittersten Feind. Das ganze Gesetz wird dir lebendig. Du erkennst seine Tiefe und seine Wunder. Du hast aber neben dem Gesetz den, der es erfüllt hat, der es auch für dich erfüllt hat, den Knecht Gottes, der Viele gerecht macht. An dem hängst du, zu dem gehörst du, von ihm bist du ein Glied, seine Gerechtigkeit rechnet er dir zu, aus seiner Fülle heiligt er dich zum gottseligen Leben. So wirst du gerecht, und das ist die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Wenn die Fluten des göttlichen Gerichts von den Bergen rauschen, wenn die Hütten am Abhang fortgeschwemmt werden, dann steht deine Hütte fest. Sie ist auf den Gipfel des Berges gebaut. Wer an den Sohn Gottes glaubt, der wird nicht gerichtet. Amen.

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