unbekannt - Heiliger Geist und eigener Geist
Im 21. Kapitel der Apostelgeschichte wird uns die letzte Reise Pauli von Milet, wo er sich von den Ältesten der Gemeinde zu Ephesus verabschiedet hatte, nach Jerusalem erzählt. In Tyrus machte der Apostel Halt und blieb, da er hier eine kleine Jüngerschar fand, sieben Tage daselbst. Diese Jünger Jesu sagten Paulo durch den Geist, er solle nicht nach Jerusalem ziehen.
Wie ist es möglich? Paulus selbst geht „vom Heiligen Geist genötigt“ (Kap. 20,22) nach Jerusalem, und die Brüder sagen ihm „durch den Geist“ (21,5), er solle nicht nach Jerusalem ziehen. Widerspricht sich da der Heilige Geist nicht?
Man könnte die Schwierigkeit einfach dadurch beseitigen, daß man sagt, das sei ein falscher Geist gewesen, der ihnen das gesagt, oder sie hätten ihres eigenen Geistes Eingebungen für Eingebungen des Geistes Gottes gehalten. Das geht aber nicht an. Wenn es heißt: „Die Jünger sagten Paulo durch den Geist“, so ist damit einfach gesagt, daß sie durch den Geist Gottes Aufschlüsse bekamen, die sie dann weitergaben. Es fragt sich nur, wieweit diese Aufschlüsse reichten und ob sie denselben nicht eigene Gedanken beimengten.
Machen wir uns die Sache klar! Ohne Zweifel offenbarte den Brüdern zu Tyrus der Geist Gottes klar und deutlich, daß und in welche Lebensgefahr Paulus in Jerusalem geraten werde. Und für diese Mitteilungen durften sie sich dann ganz gewiß auf die Eingebung und Erleuchtung des Geistes Gottes berufen.
Etwas anderes aber war es, wenn sie in ihrer liebevollen Besorgnis um die Person des Apostels ihn ermahnen zu sollen glaubten, er solle nicht nach Jerusalem hinaufgehen. Gewiß wollen wir nicht übersehen, daß dies ihrer Liebe zu dem Apostel entsprang, aber es war ein „frommer Selbstbetrug“, der ihnen selbst nicht klar zum Bewußtsein kam. Was der Geist ihnen gesagt hatte, vermischte sich ihnen unmerklich mit ihres eigenen Herzens Gedanken und Wünschen. Und sie hielten dieselben um so eher für durchaus geistgemäß, als sie ja einem edlen und an sich durchaus nicht verwerflichen Beweggrund und Gefühl ihrer Herzen entsprang, nämlich der besorgten Liebe zu dem edlen Knechte Christi, der ja auch ihnen über die Maßen teuer geworden war, worüber sie gewiß niemand tadelt.
Nun verstehen wir auch, warum Paulus es wagen konnte, den Rat nicht zu befolgen, den doch der Heilige Geist angeblich gegeben haben soll, warum er trotzdem nicht einen Augenblick im Zweifel ist, daß er doch nach Jerusalem hinaufgehen muß nach des Herrn Willen. Keine Minute ist er über diesen seinen Weg im Unklaren trotz aller Warnungen „im Geist“. Da sehen wir, daß Paulus die Gabe der Geisterprüfung in ganz hervorragendem Maße besessen hat. Nur dadurch war er imstande, so bestimmt und entschlossen zu handeln, so vollkommen zweifellos die vermeintliche Geistesrede abzulehnen, wie er es getan. Er war imstande, Göttliches und Menschliches in einer Geistesrede zu unterscheiden. Als Offenbarung des Geistes erkannte er die Voraussage, daß in Jerusalem schwere Leiden seiner warten würden; wenn ihm aber die Jünger den Rat gaben, den Leiden auszuweichen und nicht nach Jerusalem zu gehen, so sah er wohl ein, daß auch das gut gemeint war und der Liebe zu ihm entsprang, aber er wußte auch sofort, daß es eine Zutat des eigenen Geistes war, eine menschliche, nicht eine göttliche Weissagung.
Aus dieser Begebenheit können wir nun sehen, wie leicht es geschehen kann, daß unzweifelhafte Eingebungen des Heiligen Geistes mit Eingebungen des eigenen menschlichen Herzens in eins zusammenfließen und dann als untrügliche Weisungen des Heiligen Geistes ausgegeben werden. Es gibt auch heute Leute, die man beneiden möchte um die gewissen Weisungen, die sie, wie sie sagen, in allen zweifelhaften Lagen ihres Lebens vom Herrn bekommen; die man beneiden möchte um die Gewißheit, die sie allezeit haben, daß sie auf dem vom Herrn gewollten Wege sind; aber man kann doch bei ihnen die Befürchtung nicht unterdrücken, daß sie sich selbst täuschen, und daß sie das, was ihnen ihr Fleisch eingegeben hat, für Eingebungen des Heiligen Geistes halten. Beachten wir wohl: Etwas so heiliges und Großes wie es die Liebe zu einem Paulus ist, hat die lieben Brüder in Tyrus irre geführt, und wenn die Liebe zu einem anderen das kann, wie viel mehr wird es die Selbstliebe können! Diese kann uns gewiß noch viel eher täuschen und irre führen und uns das als Geisteseingebung erscheinen lassen, was doch nur der heiße Wunsch des eigenen „Ich“ ist. Auch wenn wir gläubig geworden sind, wenn wir erneuert sind, wenn unser altes Ich mit Christo prinzipiell abgetan ist, auch dann ist es sehr schwer, das, was Gott will, von dem zu unterscheiden, was das Ich will. Zeigt uns nicht das merkwürdige Gebet unseres Herrn in Gethsemane auch, wie er so sorgfältig war im Unterscheiden seines Willens und Gottes Willens? „Nicht wie ich will, sondern wie du willst.“ Wer möchte nach dem sagen, daß er von einem solchen eigenen Willen im Unterschiede von dem Willen Gottes nichts mehr wisse?
Seien wir also immer ernstlich darauf bedacht, unseren eigenen Willen von dem Willen Gottes zu unterscheiden, damit wir bewahrt bleiben vor dem Wahn, wir würden von dem Heiligen Geiste getrieben, während wir tatsächlich von unseres eigenen Herzens Gedanken und Gelüsten getrieben werden. Dadurch, daß man Gott sagt, was man gerne hätte, und ihn um seinen Segen für die Durchsetzung seines eigenen Willens bittet, heiligt man den eigenen Willen nicht, sondern betrügt man nur sich selbst. Und Selbstbetrug ist der schlimmste Betrug!
(Aus dem „Heidenboten“)
Quelle: Gärtner - Eine Wochenschrift für Gemeinde und Haus 1909