Walther, Carl Ferdinand Wilhelm - Gesetz und Evangelium - Sechste Abendvorlesung. (24. October 1884.)
Ein alter gottseliger, lutherischer Theolog beschreibt die Theologie Studirenden unter anderem folgendermaßen: „Wenn sie auf die Universität kommen, dann wissen sie alles. Im zweiten Studienjahr, da merken sie, daß sie doch einiges noch nicht wissen. Und am Schluß des letzten Studienjahres sind sie überzeugt, daß sie gar nichts wissen.“ Es ist leicht einzusehen, was jener alte Theolog damit lehren wollte; nämlich dieses, daß es keine schlimmere Einbildung gibt, als die, daß man es in seinem Wissen schon sehr weit gebracht habe, und daß die Einbildung eines Menschen auf sein Wissen ein sicheres Kennzeichen ist, daß dasselbe ein sehr oberflächliches sein muß. Es ist kein Zweifel, hierin hat jener alte Theolog vollkommen recht. Es stimmt das vollkommen mit dem Ausspruch des Apostels Paulus 1 Cor. 8,2.: „So sich aber jemand dünken lässet, er wisse etwas, der weiß noch nichts, wie er wissen soll.“ Daher haben denn auch alle großen Pädagogen und Didaktiker ihren Schülern zuzurufen: „Non multa, sed multum.“ Es kommt alles nicht sowohl darauf an, was und wie viel man weiß, sondern wie man es weiß. Je tiefer daher einer eindringt in seine Wissenschaft, desto schneller wird er überzeugt werden, daß ihm doch gar vieles noch fehlt. Er spricht nicht, wie die Parole unsrer Zeit lautet: „Quantum est, quod scimus!“ sondern im Gegentheil, er spricht es jenem großen Philosophen nach: „Quantum est, quod nescimus!“ Je gelehrter ein Mann ist in Wahrheit, desto bescheidener ist er, denn er weiß, wie viel ihm noch fehlt, in wie enge Grenzen sein Wissen eingeschränkt ist und wie viel Unerforschtes es gibt, das erst erforscht werden soll. Ist das aber der Fall bei jedem Wissen, auf jedem Gebiet des Wissens, so ist es in ganz besonders hohem Grad der Fall auf dem Gebiet der Theologie. Da gilt jenes Wort des Apostels Paulus, welches er nicht über das rechte Wissen, sondern über jenes dünkelhafte Wissen sagt. Daher ruft denn auch Luther einem jeden träge Studirenden zu: „Studire, attende lectioni! Du kannst nicht zu viel in der Schrift lesen; und was du liesest, kannst du nicht zu wohl verstehen; und was du verstehst, kannst du nicht zu wohl lehren; und was du wohl lehrest, kannst du nicht zu wohl leben. Experto crede Ruperto.“ Wie nun eine wahre Erkenntniß, ein wahres Wissen in der Theologie mit großer Schwierigkeit verbunden ist, mit großer Mühe, so betrifft das doch hauptsächlich die Lehre, von der wir jetzt handeln in diesen Abendstunden. Hierüber recht klar zu werden, dazu gibt uns nun die dritte Thesis die beste Gelegenheit.
Thesis III.
Gesetz und Evangelium recht zu unterscheiden, ist die schwierigste und höchste Christen- und Theologenkunst, die allein der Heilige Geist in der Schule der Erfahrung lehrt.
Vielleicht denkt mancher unter Ihnen; „Wie? sollte das wirklich wahr sein? Ich habe nun schon fünf Vorlesungen darüber gehört und bin völlig klar. Sollte das die schwierigste Kunst sein? Ich kann sie.“ Aber, mein lieber Freund, du irrst dich gewaltig! Man bedenke, daß nicht gemeint ist, daß die Lehre des Gesetzes und des Evangeliums so schwierig wäre, daß man sie nicht ohne Hülfe des Heiligen Geistes lernen könnte. Sie ist leicht, kinderleicht. Jedes Kind kann diese Lehre fassen; sie steht in jedem Katechismus; sie ist nicht starke Speise, sondern Milchspeise; sie gehört zu den ersten Buchstaben, zu den Elementen des Christenthums, denn ohne diese Lehre kann kein Mensch ein Christ sein. Auch ein kleines Kind merkt bald: „Im ersten Hauptstück wird von den zehn Geboten und im zweiten von dem Glauben gehandelt. Erst wird einem gesagt, was man thun soll, und dann, daß der Mensch bloß glauben soll, um selig zu werden“, daß da nichts gefordert wird. Es hat mit dieser Lehre eine ganz andere Bewandtniß, wie mit der Lehre von den Eigenschaften, wodurch sich die Personen in der Gottheit unterscheiden. Es hat mit dieser Lehre eine ganz andere Bewandtniß, wie mit der Lehre von der Prädestination mit ihren vielen unerforschlichen Geheimnissen; es hat damit eine ganz andere Bewandtniß, wie mit der Lehre von der Mittheilung der Eigenschaften der Gottheit Christi mit der Menschheit Christi. Das sind Lehren, die Kinder nicht fassen können, das geht über ihren Verstand. Anders ist es mit der Lehre des Gesetzes und des Evangeliums. Die kennen Sie jetzt auch. Sie kennen die Lehre vom Gesetz und Evangelium. Hier wird aber geredet von der Anwendung derselben, von der applicatio, von dem usus derselben. Die Praxis, das ist das Schwierige, was kein Mensch aus eignem Nachdenken vollbringen kann. Der Heilige Geist muß es uns in der Schule der Erfahrung lehren. Und zwar ist es erstlich so schwierig und eine so hohe Kunst für einen Prediger als Christen. Zweitens ist es so schwierig und eine so hohe Kunst für einen Prediger als Prediger.
Also erstlich ist Gesetz und Evangelium recht zu unterscheiden so schwierig und eine so hohe Kunst für einen Prediger als Christen. Ja, Gesetz und Evangelium recht zu unterscheiden, ist die größte Kunst, die ein Mensch lernen kann.
Ps. 51,12.13.: „Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen, gewissen Geist. Verwirf mich nicht von deinem Angesicht und nimm deinen Heiligen Geist nicht von mir.“ Einen gewissen Geist erbittet sich David von Gott. Es fehlte ihm an Gewißheit, nachdem er den schrecklichen Fall gethan hatte, nachdem er unschuldig Blut vergossen hatte und in Ehebruch gefallen war. Als er da seine Sünde erkannte, wurde ihm zwar die Absolution zu Theil, aber wir hören nicht, daß David sogleich fröhlich geworden wäre, sondern wir sehen aus vielen Psalmen, daß er in der höchsten Noth und Anfechtung war. Wenn der Bote Gottes kam und sagte: „Deine Sünden sind weggenommen“, so hieß es in seinem Innern: „Ach nein, es ist nicht möglich, es ist eine zu große Sünde.“ Ja, wir sehen, daß er sein Bett mit Thränen schwemmte, daß er gebückt und krumm einherging, daß seine Gebeine vertrocknet waren, wie es im Sommer dürre wird. Dieser hohe, königliche Prophet kannte die Lehre vom Gesetz und Evangelium gar wohl. Alle seine Psalmen sind voll davon, welch ein Unterschied zwischen beiden sei. Als er aber selbst in Sünde fiel, da fehlte es an der Praxis, da schrie er: „Gib mir einen neuen, gewissen Geist.“ Das ist eben der Christen Art. Sie halten die Schrift für wahr, für Gottes untrügliches Wort. Wenn sie aber Trost bedürfen, so finden sie keinen und schreien um Erbarmung und flehen auf ihren Knieen zu Gott. Gott ließ David auch schmecken, wie bitter die Sünde sei. Wir sehen überhaupt, daß David nach seinem Sündenfall mehr traurig als fröhlich war, daß ein Unglück nach dem andern über ihn kam. Das that Gott nicht, weil er ihm die Sünde nicht vergeben hätte, sondern damit er ihn bewahrte vor einem neuen Fall. Gott that das aus lauter Liebe und Barmherzigkeit. Wer natürlich noch in Sünden todt ist, denkt: „Wie war denn David so thöricht, daß der sich noch abquälte, obwohl ihm die Sünde vergeben war von Gott?“ Ein solcher macht sich das Evangelium zum Ruhekissen, er lebt in Sünden weiter und denkt: er komme doch in den Himmel. Das ist aber ein fleischliches Evangelium.
Luc. 5,8.: „HErr, gehe von mir hinaus, ich bin ein sündiger Mensch.“ Ist das nicht wunderbar? Zu seinem Jünger, welchen er „Petros“, „Felsenmann“, nannte, kommt der HErr und sagt ihm und seinen Gesellen, sie sollen ihre Netze auswerfen, obwohl sie die ganze Nacht nichts gefangen hatten. Petrus that es, aber wohl mit dem Gedanken, daß er doch nichts fangen würde. Und siehe da, sie fingen eine solche Menge Fische, daß das Netz zerriß. Da erschrickt Petrus und denkt: „Das muß der allmächtige Gott selbst sein! Das muß mein Schöpfer sein! Das muß auch mein einstiger Richter sein!“ Da fällt er JEsu zu Füßen und spricht: „HErr, gehe von mir hinaus, ich bin ein sündiger Mensch!“ Er denkt nicht anders, als daß der HErr zu ihm sagen wird: „Siehe, so viele Sünden hast du begangen und bist daher ein verdammungswürdiger Mensch.“ Woher kam also dieser Schrecken? Warum fiel er nicht JEsu zu den Füßen und dankte ihm? Seine Sünden standen ihm vor Augen, er konnte nicht freudig danken, sondern mit Zittern mußte er auf seine Kniee fallen und die schrecklichen Worte zu seinem HErrn und Heiland sagen: „HErr, gehe von mir hinaus!“ Aber der Teufel hatte ihm allen Trost geraubt, und eingeredet, daß er so zu Christo sagen müsse. Er dachte nicht anders, als daß der HErr ihn zerschmettern würde. Er konnte Gesetz und Evangelium nicht unterscheiden. Hätte er das gekonnt, so hätte er sich getrost zu JEsu nahen können und hätte gedacht, daß Christus ihm alle Sünden vergeben habe. Wie oft wird er später gedacht haben: „Welch ein großer Thor bist du doch damals gewesen! Du hättest vielmehr sagen sollen: ,Ach, bleibe bei mir, HErr, ich bin ein sündiger Mensch.“ Das that er auch, als er später wieder gefallen war. Da wurde er mit unaussprechlicher Freude erfüllt, als JEsus ihn voller Gnade anblickte. 1 Joh. 3,19.20.: „Daran erkennen wir, daß wir aus der Wahrheit sind, und können unser Herz vor ihm stillen, daß, so uns unser Herz verdammt, daß Gott größer ist, denn unser Herz, und erkennet alle Dinge.“ Ja, wenn uns unser Herz nicht verdammt, dann ist es leicht, Gesetz und Evangelium zu unterscheiden. Und das ist auch der Zustand eines Christen. Aber er kommt auch in den Zustand, da sein Herz ihn verdammt. Er mag machen, was er will, er kann diese Stimme nicht zum Schweigen bringen. Sie ruft ihm immer wieder zu und erinnert ihn auf einmal an frühere Sünden. Eine Sünde fällt ihm auf einmal ein, die er längst vergessen hatte, und da überfällt ihn plötzlich ein furchtbarer Schrecken. Wenn dann ein Mensch Gesetz und Evangelium scheiden kann, so fällt er Christo zu Füßen und tröstet sich seines Verdienstes. Aber das ist schwer. Einem geistlich Todten scheint das thöricht zu sein, sich mit früheren Sünden abzuquälen. Er wird immer gleichgültiger gegen alle Sünde. Ein Christ aber fühlt seine Sünden und fühlt auch das Zeugniß seines Gewissens dagegen. Endlich aber, wenn Christen den Unterschied des Gesetzes und des Evangeliums recht prakticiren, sagen sie mit dem heiligen Johannes: „Gott ist größer denn mein Herz; der hat ein anderes Urtheil gesprochen, und das gilt auch mir.“ Aber das ist schwer! Wohl Ihnen, wenn Sie diese Kunst gelernt haben! Und wenn Sie sie gelernt haben, so glauben Sie nicht, daß Sie sie können, sondern Sie bleiben immer Schüler. Es werden Stunden kommen, wo Sie Gesetz und Evangelium nicht werden scheiden können. Aber wenn das Gesetz Sie verdammt, so sollen Sie gleich das Evangelium ergreifen.
Luther lehrt hiervon herrlicher als irgend einer seit der Apostel Zeit, und doch gesteht er, wenn es zur Praxis käme, daß er da oft am Boden gelegen habe. Oft hat der Teufel ihn gequält, obwohl er keine groben Sünden begangen hatte, ein züchtiges Leben geführt hatte. Der Teufel quälte ihn oft wegen der geistlichen Sünden, daß er nicht wußte, was er anfangen sollte. Oft ging er dann zu seinem Beichtvater Bugenhagen und klagte es ihm, kniete hin und ließ sich absolviren. Dann ging er wieder fröhlich von dannen.
Luther schreibt (W. IX, 421): „Denn Gott diese zweierlei Wort, Gesetz und Evangelium, eines sowohl als das andere gegeben hat, und ein jegliches mit seinem Befehl: das Gesetz, das vollkommene Gerechtigkeit von jedermann fordere; das Evangelium, das die vom Gesetz erforderte Gerechtigkeit denen, so die nicht haben (das ist, allen Menschen), aus Gnaden schenke. Wer nun dem Gesetz nicht genuggethan, in Sünde und Tod gefangen liegt, der wende sich vom Gesetz zum Evangelio, glaube der Predigt von Christo, daß er wahrhaftig sei das Lämmlein Gottes, das der Welt Sünde trägt, seinen himmlischen Vater versöhnt, ewige Gerechtigkeit, Leben und Seligkeit allen, die es glauben, lauter umsonst und aus Gnaden schenkt. Zu dieser Predigt allein halte er sich, rufe Christum an, bitte um Gnade und Vergebung der Sünden, glaube fest (denn allein mit dem Glauben wird dies große Geschenk gefaßt), so hat er, wie er glaubt. Dies ist nun der rechte Unterschied; und liegt zwar die ganze Macht daran, daß man ihn recht treffe. Predigen läßt es sich wohl oder mit Worten scheiden, zum Brauch aber und in die Praktica zu bringen ist hohe Kunst und übel zu treffen. Die Papisten und Schwärmer wissen es gar nicht; so sehe ich es auch an mir und andern, die aufs Beste davon wissen zu reden, wie schwer dieser Unterschied sei. Die Kunst ist gemein: bald ist es geredet, wie das Gesetz ein ander Wort und Lehre sei denn das Evangelium, aber practice zu unterscheiden und die Kunst ins Werk zu setzen, ist Mühe und Arbeit.“
Ferner (IX, 425): „Vielmehr muß nun solches da gehalten werden, da das Gesetz mich dringen will, daß ich Christum, sein Geschenk und Evangelium, verlassen soll, da lasse ich vielmehr das Gesetz fahren und spreche: Liebes Gesetz, habe ich die Werke nicht gethan, so thue du sie, ich will mich um deinetwillen nicht zu Tode martern, gefangen nehmen oder unter dir halten lassen, und also des Evangelii vergessen. Habe ich gesündigt, Unrecht gethan, oder nicht gethan, da lasse ich dich, Gesetz, für sorgen. Trolle du dich, und laß mir mein Herz zufrieden, ich will dich darin nicht wissen. Wenn du aber das forderst, und haben willst, daß ich hier auf Erden soll fromm sein, das will ich gern thun; aber wo du mir da hinein willst klettern und brechen, daß ich das verlieren soll, das mir geschenkt ist, da will ich dich viel lieber gar nicht wissen, denn das Geschenk fahren lassen.“
Wie zwei feindliche Mächte stoßen Gesetz und Evangelium manchmal zusammen im Gewissen. Das Evangelium sagt: „Du bist bei Gott in Gnaden“; das Gesetz sagt: „Nein, glaube das nicht, denn wie hast du gelebt! Wie viel und schwer hast du gesündigt! Was für Gedanken und Begierden hast du gehabt!“ Ja, da ist es schwer, Gesetz und Evangelium zu scheiden. Da soll es heißen: „Hinweg mit dir, Gesetz; du hast nichts mehr zu fordern. Deine Forderungen sind längst genügend erfüllt. Ein Anderer ist es, der für mich meine Schuld bezahlt hat.“ Bei einem in Sünden todten Menschen ist es nicht schwer; der ist bald fertig mit dem Gesetz. Aber bei einem, der bekehrt ist, da ist es schwer. Ja, er kann gerade in das Gegentheil fallen, kann nahe daran kommen, zu verzweifeln. Luther (W. IX, 415): „Welcher diese Kunst, das Gesetz vom Evangelio zu scheiden, wohl kann, den setze obenan und heiße ihn einen Doctor der heiligen Schrift. Denn ohne den Heiligen Geist ist es unmöglich, diesen Unterschied zu treffen. Ich erfahre es an mir selbst, sehe es auch täglich an andern, wie schwer es ist, die Lehre des Gesetzes und Evangelii von einander zu sondern. Der Heilige Geist muß hier Meister und Lehrer sein, oder es wird kein Mensch auf Erden verstehen noch lernen können. Darum vermag kein Pabst, kein falscher Christ, kein Schwärmer diese zwei von einander zu theilen, sonderlich in causa materiali et in objecto.“ Wenn Luther sagt, die Unterscheidung des Gesetzes und Evangeliums sei schwer in causa materiali et in objecto, so will er sagen: Das ist nicht schwer zu sagen, was für einen Inhalt Gesetz und Evangelium, was für ein Object diese Lehren haben; aber nicht nur das ist dann schwierig, immer gewiß zu sein: „Das gehört zum Gesetz und das zum Evangelium“, sondern auch, wenn man in natura das Object vor sich hat, zu sagen: „Dem gehört das Gesetz und dem das Evangelium.“ Und am allerschwersten ist es bei den Theologen selbst.
In den Tischreden (W. XXII, 655) sagt Luther: „Kein Mensch auf Erden ist, der kann und weiß, das Evangelium und das Gesetz recht zu unterscheiden. Wir lassen es uns wohl dünken, wenn wir hören predigen, wir verstehen’s; aber es fehlet weit; allein der Heilige Geist kann diese Kunst. Ich hätte auch wohl gemeint, ich könnte es, weil ich so lang und so viel geschrieben habe; aber wahrlich, wenn’s ans Treffen geht, so sehe ich wohl, daß mir’s weit, weit fehlt. Also soll und muß allein Gott der Heilige Geist Meister und Lehrer sein.“ – Luther, der so lange Jahre zuvor große Bücher darüber geschrieben hatte, macht ein solches Bekenntniß! Wir sind immer geneigt, dem Gesetz mehr Gehör zu geben als dem Evangelium.
In seinem Commentar zum 131. Psalm (W. IV, 2881) schreibt Luther: „Etliche lassen sich bedünken, sie verstehen diese Dinge sehr wohl, aber ihr sollt euch vor der Vermessenheit hüten und gedenken, daß ihr Schüler des Wortes bleibt. Denn der Satan ist ein solcher Meister, daß er den Unterschied sehr leichtlich aufheben und anstatt des Evangelii das Gesetz, wiederum anstatt des Gesetzes das Evangelium uns eindringen kann. Wie oft begegnet es den Leuten in den letzten Todeszügen, daß die armen Gewissen etliche evangelische Sprüche ergreifen, welche doch eigentlich zum Gesetz gehören, und also den Trost des Evangeliums verlieren! Wie dieser Spruch Matth. 19,17.: „Willst du zum Leben eingehen, so halte die Gebote“, desgleichen auch dieser, Matth. 7,21.: „Nicht ein jeder, der zu mir sagt, HErr, HErr, wird ins Himmelreich kommen.“ – In der Todesnoth kommt der Teufel und sucht in der letzten Stunde den armen Christen loszureißen vom Evangelium. Wenn sie, die Christen, in die Ewigkeit gehen, so denken sie: „Bin ich denn auch nun geschickt?“ Da sagen sie sich eine Menge Sprüche her und da kommen sie auf solche, wie: „Willst du zum Leben eingehen, so halte die Gebote“, und bedenken nicht, daß das auch Gesetz ist. Da heißt es denn im Herzen: „Du bist nicht geschickt, du kannst nicht selig werden.“ Sie können eben dann Gesetz und Evangelium nicht scheiden. Darum ist es gut, wenn Sie das in der Jugend schon lernen. Sie dürfen nicht denken: „Wir haben ja die Lehre ganz ausführlich gehört. Also gesetzt den Fall, ich komme in Todesnoth, so halte ich mich daran.“ Ja, wenn das eine Sache unserer Kräfte wäre! Da wird der Teufel Sie in solche Verwirrung setzen, daß Sie nicht wissen, wo aus noch ein. Sie dürfen auch nicht denken: „Ach, ich bin noch jung!“ Wie oft reißt Gott einen hinweg in der schönsten Blüthe seiner Jugend, um den andern zu zeigen, wie nöthig es ist, an den Tod zu denken. – „Durch die und dergleichen Sprüche werden die Herzen oftmals so irre geführt, daß sie nicht sehen, denn nur, was sie gethan haben und hätten thun sollen, item, was Gott fordert und verbeut. Wenn die Herzen solches anschauen, vergessen sie alles dessen, was Christus gethan und Gott verheißen hat durch Christum zu thun. Derohalben soll sich niemand vermessen, als hätte er alles solches vollkommen erlanget.“ Wir reden ja jetzt erst davon, wie ein Prediger als Christ das Gesetz und Evangelium scheiden soll. Denn ein Christ soll er sein, sonst sollte er kein Prediger sein. – Wer nicht dahin gekommen ist, daß er diesen Unterschied kennt und practicirt, der ist noch ein Heide oder ein Jude. Das ist die forma, das Wesen eines Christen, daß er versteht sein Heil in Christo zu suchen, und darum dem Gesetz zu entfliehen.
Luther (W. VIII, 1792): „Ja der Anfechtung wirst du inne werden, daß das Evangelium ein seltener Gast im Gewissen ist, dagegen das Gesetz ein täglicher Hausgenosse. Denn die Vernunft hat von Natur die Erkenntniß des Gesetzes.“ – Man muß es durch Erfahrung lernen, sonst lernt man es gar nicht. Wenn Sie Christen sind, werden Sie das auch zugeben: „Das erfahre ich auch; ich werde viel mehr beunruhigt und gequält, als daß ich getröstet werde.“ Wenn solcher Trost im Herzen ist, so sind das Lichtblicke am Tage; manchmal freilich gibt es gar keinen an verschiedenen Tagen. Aber man soll sich nur immer vorhalten: „Für solche arme Sünder, wie ich bin, ist das Evangelium da, das süße Evangelium. Ich habe Vergebung der Sünden durch Christum.“ – „Darum wenn das Gewissen erschrickt vor der Sünde, die durch das Gesetz angezeigt und groß gemacht wird, so sollst du sprechen: Sterben hat seine Zeit, leben hat seine Zeit; das Gesetz hören hat seine Zeit, sich um das Gesetz nicht bekümmern hat seine Zeit, das Evangelium hören hat seine Zeit, das Evangelium nicht wissen hat seine Zeit. Jetzt trolle sich das Gesetz und das Evangelium komme her, denn es ist nun nicht die Zeit, das Gesetz zu hören, sondern das Evangelium. Aber du hast nichts Gutes gethan, vielmehr schwer gesündigt. Das gebe ich zu, aber ich habe Vergebung der Sünden durch Christum, um dessentwillen mir alle meine Sünden erlassen sind. Wenn aber das Gewissen nicht im Kampfe steht, und äußerliche Amtswerke ausgerichtet werden müssen, da, wo du ein Diener des Worts, eine obrigkeitliche Person, ein Ehemann, ein Lehrer, ein Schüler etc. bist, dann ist es nicht Zeit, das Evangelium zu hören, sondern das Gesetz, da sollst du deinen Beruf ausrichten“ etc. – Wenn man vor der Welt soll thun, was recht ist, da ist es also nicht Zeit, das Evangelium zu hören, sondern das Gesetz soll man hören, wenn man an seinen Beruf denkt. Wenn es sich nicht darum handelt, in welchem Verhältniß du zu Gott stehest, mußt du dich nach dem Gesetz halten, nicht wie ein Knecht, sondern wie ein Kind.