Walther, Carl Ferdinand Wilhelm - Gesetz und Evangelium - Neunzehnte Abendvorlesung. (20. Februar 1885.)

Unter den mancherlei Lehrdifferenzen, welche in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zwischen den sogenannten Pietisten und den Orthodoxen stattfanden, war eine der allerwichtigsten diese: Die Pietisten, bekanntlich die Schüler Speners, August Hermann Franckes und Johann Jakob Rambachs – jedoch keine ganz treuen Schüler derselben – lehrten dieses: Diejenigen, welche nicht genau Tag und Stunde angeben könnten, da sie bekehrt und begnadigt worden seien, seien sicher keine wahren Christen, dürften sich nicht dafür halten und dürften auch nicht dafür angesehen werden. Die Orthodoxen hingegen leugneten dies. Nun ist zwar das wahr: Die Bekehrung geschieht nicht während eines Tages, während einer Stunde, sondern in einem Augenblick. Denn die Bekehrung ist nach der heiligen Schrift nichts anderes, als die Auferweckung aus dem geistlichen Tode zum geistlichen Leben, nichts anderes, als eine Umkehr von der breiten Straße, die nach unten führt, zur schmalen Straße, die nach oben führt, sie ist nichts anderes, als eine Versetzung aus dem Reich des Teufels in das Reich JEsu Christi, des Sohnes Gottes. Wie es nun aber keinen Mittelzustand gibt zwischen Tod und Leben; wie es keinen Mittelweg gibt zwischen dem schmalen Weg, der nach oben führt, und dem breiten Weg, der nach unten führt; wie es kein Mittelreich gibt zwischen dem Reich Satans und dem Reich Christi, so ist ja freilich jeder Mensch entweder geistlich todt oder geistlich lebendig, entweder geht er die schmale Bahn oder den breiten Weg, entweder ist er in dem Reich JEsu Christi oder in dem Reich des Teufels. Also entweder ist der Mensch bekehrt oder nicht bekehrt. Ein Zwischending gibt es nicht. Zwar stellt uns nun die heilige Schrift manche Beispiele von Menschen vor die Augen, welche in der That Zeit, Tag und Stunde angeben könnten, wo sie zu Gott bekehrt worden sind und Gnade erlangt haben. Ich erinnere Sie nur an einige Beispiele. Schon die ersten Menschen sind am ersten Tag ihres Daseins, welcher zugleich der Tag ihres Falls war, alsbald wieder bekehrt worden, sind aufgestanden von ihrem Fall, und sie erlangten Gnade, Gerechtigkeit, Leben und Seligkeit durch die Verkündigung und Verheißung des Weibessamens, der der Schlange den Kopf zertreten sollte. Auch von David wissen wir, daß, nachdem er ein ganzes Jahr in fleischlicher Sicherheit dahingegangen war nach seinem tiefen Fall, der Prophet Nathan zu ihm kommt, ihm seine greuliche Sünde vorhält – er erschrickt, bekennt seine Sünde, und alsbald spricht der Prophet Nathan zu ihm: „So hat auch der HErr deine Sünde weggenommen, du wirst nicht sterben.“ In diesem Augenblick wurde er bekehrt, daher er im 32. Psalm Gott darüber lobt und preist, daß ihm seine Sünden vergeben seien. Der Christenverfolger Saulus erfuhr die große Gnade, daß der HErr selber ihm erschien. Erst rief er ihm das schreckliche Wort zu: „Saul, Saul, was verfolgst du mich?“ Da stürzt Saul zusammen und ruft: „HErr, wer bist du?“ Und der HErr spricht: „Ich bin JEsus, den du verfolgest. Es wird dir schwer werden, wider den Stachel löcken.“ Da liegt Saul zerknirscht vor dem HErrn. Da wird er ein Kind Gottes, ein auserwählt Rüstzeug. Denn nach zwei oder drei Tagen steht er auf und verkündigt den Gekreuzigten voll Geist und voll Kraft. Wir lesen auch von den dreitausend Zuhörern der ersten christlichen Pfingstpredigt, daß, nachdem der Apostel ihnen vorgehalten hatte, sie hätten Christum ermordet, es ihnen durchs Herz ging. Aber sobald ihnen gesagt wurde: „Glaubet an „den HErrn JEsum“, nahmen sie das an in Kraft des Heiligen Geistes. Wir lesen ferner von dem Kerkermeister zu Philippi, der noch in derselben Nacht, in welcher er so grausam mit zwei Jüngern des HErrn umgegangen war, nämlich mit Paulus und Barnabas, sie in das innerste Gefängniß geworfen und ihre Füße in Eisen gelegt hatte, ja, der, als er das Erdbeben hörte, eben daran war, sich das Schwert in das Herz zu stoßen und sich selbst zu morden, zu Gott bekehrt wurde. Denn auf die Frage: „Liebe Herren, was soll ich thun, daß ich selig werde?“ antwortete ihm nicht nur der Apostel: „Glaube an den HErrn JEsum Christum, so wirst du und dein Haus selig“, sondern er kam auch wirklich jetzt zum Glauben. Diese alle konnten sagen: „Ja, an dem Tage und in der Stunde bin ich bekehrt worden, da bin ich aus dem Tode zum Leben gekommen, da bin ich aus der Finsterniß zum Licht, aus Gottes Zorn zur Gnade gelangt. – Aber von wie vielen lesen wir dergleichen gar nicht in der Schrift! Die Kirchengeschichte lehrt, daß in den 1800 Jahren, in welchen die christliche Kirche besteht, Millionen und Abermillionen, welche in der Kirche auferzogen wurden, nicht Tag und Stunde angeben konnten, worin sie bekehrt worden seien, die aber wohl wußten und die es beweisen konnten, daß sie andere Menschen geworden seien, daß sie durch den Heiligen Geist zu einem lebendigen Glauben an Christum, zur Gnade, zur Gerechtigkeit und zur Hoffnung des ewigen Lebens gekommen seien.

Woher mag es nun wohl kommen, daß doch die Pietisten, die es ja herzlich gut meinten, auf diese Lehre kamen: Derjenige könne kein Christ sein, der nicht ermittelt hätte: „An dem und dem Tage und in der und der Stunde bist du bekehrt worden“? Der Grund lag darin: Sie meinten, man müsse einmal plötzlich eine himmlische Freude erfahren, bei welcher einem das Innere sage: „Du hast Gnade gefunden bei Gott, du bist nun sein Kind!“ Da mußten sie freilich sagen: „Wenn das die Art und Weise ist, wie man zu Gott bekehrt wird, da muß man auch sagen können: An dem und dem Tage und in der Stunde bin ich bekehrt worden, da bin ich ein anderer Mensch geworden, da sind mir meine Sünden vergeben worden, da ist mir angezogen worden das Kleid der Gerechtigkeit JEsu Christi.“ Aber das ist ein großer, verhängnißvoller, gefährlicher Irrthum. Wir haben das bereits zum Theil schon gesehen. Heute kommen wir nun zu dem Theil, der insonderheit davon handelt, nämlich zu dem letzten Theil der IX. Thesis, wo gesagt wird, daß Gottes Wort nicht recht getheilt wird, wenn man die vom Gesetz getroffenen und erschrockenen Sünder anweist, durch Beten und Kämpfen sich den Gnadenstand zu erringen, nämlich so lange zu beten und zu kämpfen, bis sie fühlen, daß sie Gott begnadigt habe. Das ist auch das System unserer Methodisten. Doch ehe wir uns nun damit beschäftigen, müssen wir erst ein Mißverständniß der Lehre abweisen, daß ein Mensch seine Seligkeit und seinen Gnadenstand ja nicht auf sein Gefühl gründen solle. Denn diese Lehre wird auch von vielen greulich gemißbraucht. Es gibt Menschen, die halten sich für gute Christen und sind doch geistlich todt. Sie haben nie eine rechte Angst wegen ihrer Sünden erfahren, sie sind nie mit Schrecken darüber erfüllt worden, sie haben sich nie entsetzt vor der Hölle, deren sie doch würdig sind, sie haben nie auf ihren Knieen gelegen, haben es nie mit heißen Thränen Gott geklagt, daß sie greuliche, verdammte Sünder seien, und viel weniger haben sie süße Thränen der Freude geweint und Gott gepriesen, daß er sich ihrer erbarmt habe. Sie lesen Gottes Wort, sie hören es auch, aber sie erfahren nichts dabei. Sie gehen in die Kirche, sie lassen sich absolviren, und es erquickt sie nicht, sie gehen zum heiligen Abendmahl und bleiben kalt wie Eis und fühlen nichts. Aber sie denken, wenn sie ja einmal unruhig deswegen werden, daß sie so gleichgültig in Absicht auf ihr Heil und ihre Seligkeit sind, daß ihnen das Wort Gottes gar nicht schmeckt, und suchen sich dadurch zu beruhigen: „Ja, in der lutherischen Kirche wird doch gelehrt: Auf das Gefühl kommt nichts an. Also wenn ich auch gar nichts gefühlt habe, das schadet nichts. Ich kann deswegen doch ein guter Christ sein, denn ich glaube ja.“ Aber das ist eine große, schreckliche Selbsttäuschung! Wer in einem solchen Zustand ist, der hat nichts als einen todten Verstandesglauben, hat nur einen Scheinglauben, oder – um es grob auszudrücken – einen Maulglauben. Er spricht wohl mit dem Mund: „Ich glaube“, aber sein Herz weiß nichts davon. Nein, Gottes Wort ruft uns zu: „Schmecket und sehet, wie freundlich der HErr ist!“ Wer das nie geschmeckt hat, wie freundlich der HErr ist, der meine nur nicht, daß er im wahren Glauben stehe! Und der Apostel Paulus sagt Röm. 8,16.: „Derselbige Geist gibt Zeugniß unserm Geist, daß wir Gottes Kinder sind.“ Wie kann der Heilige Geist unserm Geist ein Zeugniß geben, ohne daß wir es fühlen? Der Zeuge muß so laut reden, daß ihn der Richter verstehen kann. So ist es auch hier. Nach Gottes Wort gibt der Geist selbst uns Zeugniß, daß wir Gottes Kinder sind, und wer dieses Zeugniß nie gespürt hat, der ist noch geistlich todt. Er hat noch kein Zeugniß für sich und thut sehr unrecht daran, wenn er sich trotzdem für einen guten Christen hält. – Ferner sagt der Apostel Paulus Röm. 5,1.: „Nun wir denn sind gerecht worden durch den Glauben, so haben wir Friede mit Gott durch unsern HErrn JEsum Christum.“ Der objective Friede ist schon vor unserer Rechtfertigung da. Diesen Frieden hat Christus gemacht durch sein Blut. Also muß hier von einem Frieden die Rede sein, den man fühlt, empfindet und erfährt. Und ferner schreibt der Apostel Paulus Röm. 14,17.: „Das Reich Gottes ist Gerechtigkeit, Friede und Freude in dem Heiligen Geist.“ Wer wohl manche Freude erfahren hat, jedoch Weltfreude nur, fleischliche Freude, aber nicht die geistliche Freude, von der St. Paulus in dem eben angeführten Spruche redet, der ist eben todt. – Das sehen wir auch aus den Beispielen der Heiligen, von welchen uns in der Bibel berichtet wird. Die sehen wir fort und fort glühen voll Lobes zu Gott über das, was er an ihnen gethan hat. Das setzt doch voraus, daß ihr Herz wußte, der HErr sei ihnen gnädig. Hätte David nichts davon gewußt, würde er denn da ausgerufen haben: „Lobe den HErrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen! Lobe den HErrn, meine Seele, und vergiß nicht, was er dir Gutes gethan hat! Der dir alle deine Sünden vergibt, und heilet alle deine Gebrechen“? Nein, er hatte ein gar warmes Gefühl davon. Und fragen Sie endlich irgend einen Menschen, der alle Kennzeichen eines wahren, lebendigen Christen hat: „Hast du denn das auch alles erfahren, wovon du redest?“ so wird er sagen: „Ja freilich habe ich das erfahren! Ich habe erfahren den Schrecken Gottes, welcher über einen Sünder kommt, den Gott retten will. Dann habe ich aber auch erfahren die Süßigkeit der Gnade Gottes in Christo JEsu. O, so oft ich an die Liebe meines Heilandes denke, zerschmilzt mir mein Herz! Wiederum, trotzdem daß ich weiß, ich habe Gnade gefunden, werde ich oft überfallen von Angst und Schrecken, wenn ich das Gesetz ansehe.“ Also merken Sie: wenn wir sagen: „Niemand soll seine Seligkeit, seinen Gnadenstand auf sein Gefühl gründen“, so wollen wir damit nicht sagen: „Also braucht der Mensch gar kein Gefühl zu haben in Sachen der Religion; er kann doch ein guter Christ sein.“ Nein, das lehren wir nicht. Hören Sie darüber ein Zeugniß von Luther. Und Luther war gewiß kein Gefühlsmensch, nichts weniger als das, während es z. B. Melanchthon im höchsten Grade war. Wenn der etwas fühlte, war er vergnügt, aber Luther konnte fühlen, was er wollte, er hielt sich an das Wort.

In seiner Kirchenpostille (W. XII, 323 ff.), zu den Worten: „Weil ihr denn Kinder seid, hat Gott gesandt den Geist seines Sohnes in eure Herzen, der schreiet: Abba, lieber Vater“, schreibt Luther, der immer suchte, sich nicht auf das Gefühl zu verlassen, denn das sei ja veränderlich und trüglich, dennoch folgendermaßen: „Hier ist nun einem jeglichen wahrzunehmen und zu prüfen, ob er den Heiligen Geist auch fühle und seine Stimme empfinde in sich?“ – Es heißt ja: Er schreiet: Abba, lieber Vater. – „Denn St. Paulus spricht hier: Wo er in dem Herzen ist, da ruft er: „Abba, lieber Vater!“, wie er auch sagt Röm. 8,15.: „Ihr habt empfangen den Geist der gnädigen Kindschaft Gottes, durch welchen wir rufen: Abba, lieber Vater!“ Das Rufen fühlt man aber dann, wenn das Gewissen ohn alles Wanken und Zweifeln festiglich sich vermuthet und gleich gewiß ist, daß nicht allein seine Sünden ihm vergeben sind, sondern daß er auch Gottes Kind sei und der Seligkeit sicher, und mit fröhlichem, gewissem Herzen in aller Zuversicht mag Gott seinen lieben Vater nennen und rufen.“ – Das ist der Jammer in unserer Zeit: Solcher Glaube ist wenig zu finden. Entweder sind die Leute geistlich todt, und deshalb haben sie gar keine Sorge und meinen, sie würden schon in den Himmel kommen; oder sie sind ängstlich und unsicher. Wie viele sterben dahin und denken: „Wie wird es dir nun gehen? Ob du in den Himmel kommen wirst oder nicht?“ Das ist ein schauderhafter Glaube, ein Scheinglaube! Nein, der Glaube muß gewiß sein. – „Solches muß es gewiß sein, daß ihm auch sein eigen Leben nicht so gewiß sei, und eher alle Tode, ja, die Hölle dazu leiden sollte, ehe es sich das nehmen ließe und daran zweifeln wollte.“ – Sie wissen ja, die römische Kirche leugnet das, Sie sagt nicht nur, daß ein Mensch nicht zur Gewißheit kommen kann, sondern sogar, daß er nicht zur Gewißheit kommen soll. Ja, es wäre das ein Frevel, ein Vorwitz, wenn ein Mensch, ohne daß ihm Gott dies auf besondere, außerordentliche Weise vom Himmel geoffenbart hätte, sagte: „Ich weiß es und bin gewiß, ich stehe bei Gott in Gnaden und werde selig.“ Es ist das ein umgekehrtes Evangelium, wie denn überhaupt das ganze Pabstthum weiter nichts ist, als eine ganz traurige Umkehrung des Evangeliums in ein Gesetz, und zwar in ihre Kirchengesetze. – „Denn es wäre Christi reichlichem Thun und Leiden zu nahe, wo wir nicht glaubten, daß er das alles uns damit hätte überflüssig erworben, und ließen uns sein großes Thun und Leiden nicht so mächtig reizen und stärken zu solcher Zuversicht, als die Sünde oder Anfechtung uns davon abschreckt oder zagen macht.“ – Da sprechen die Leute: „Ja, das weiß ich wohl, daß Christus die ganze Welt erlöst hat, aber das ist die Frage: Wie steht es denn mit mir? Bin ich denn auch erlöst?“ So redet der, der weder etwas vom Gesetz noch vom Evangelium weiß. Denn wer das Evangelium gelernt hat, spricht: „Weil Gottes Sohn die ganze Welt erlöst hat, so bin ich auch erlöst.“ Bin ich aber erlöst, so will er auch, daß ich es glaube. Er hindert mich nicht daran, er warnt mich nicht, wie die Pietisten: „Glaube ja nicht zu früh.““ Wir können gar nicht zu früh glauben, sondern wenn uns das Evangelium gepredigt wird, sollen wir es glauben bei unserer Seelen Seligkeit. Wir sollen es glauben bei Gottes Ungnade und Zorn. Aber wenn man sich nicht an das Wort hält, kann man nicht gewiß sein. Da wankt und schwankt man täglich und stündlich. Jetzt denkt man: „Du bist ein Christ“, und die nächste Stunde denkt man wieder: „Ach, wie hast du dich wieder getäuscht! Du bist doch kein Christ.“ – Luther fährt fort: „Es mag wohl ein Streit hier sein, daß der Mensch fühle und sorge, er sei nicht Kind“, – Luther behauptet nicht, daß das Zeugniß des Heiligen Geistes ganz allein in dem Herzen eines Kindes Gottes sei, sondern daneben entsteht noch ein Streit. – „lasse sich dünken und empfinde auch Gott als einen zornigen, strengen Richter über sich; wie Hiob geschah und viel mehreren. Aber in dem Kampf muß diese kindliche Zuversicht endlich obliegen, sie zittere oder bebe; sonst ist’s alles verloren.“ – Die Zuversicht muß da sein, und doch, während die Zuversicht da ist, zittert und bebt man. Und ich kann zittern und beben, und doch gewiß sein. Ich kann über eine furchtbare Tiefe hinweggehen und darum zittern, denn ich denke daran: „Wenn du jetzt in diesen Abgrund hinabstürztest!“ Aber ich habe aus beiden Seiten eine Barriere, und da halte ich mich fest daran, und ich komme sicher und getrost hinüber. Das ist der wunderbare Widerspruch in einem Christen: Er zittert und bebt und ist doch zugleich gewiß. – “Wenn nun das Kain hört, so wird er sich aber segnen mit Händen und Füßen, vor großer Demuth sagen: Ei, behüte mich Gott vor der greulichen Ketzerei und Vermessenheit! Sollte ich armer Sünder so hoffährtig sein, und sagen, ich sei Gottes Kind? Nein, nein, ich will mich demüthigen und einen armen Sünder erkennen etc. Diese laß fahren, und hüte dich vor ihnen, als vor den größten Feinden des christlichen Glaubens und deiner Seligkeit. Wir wissen auch wohl, daß wir arme Sünder sind; aber hier gilt’s, nicht ansehen, was wir sind und thun, sondern was Christus für uns ist und gethan hat, und noch thut; wir reden nicht von unserer Natur, sondern von Gnade Gottes, die so viel mehr ist, wie der 103. Psalm V. 11. sagt, denn wir, so viel der Himmel höher ist denn die Erde, und so weit der Aufgang ist vom Niedergang. Dünket es dich groß sein, daß du Gottes Kind seiest, Lieber, so laß dich’s auch nicht klein dünken, daß Gottes Sohn kommen ist, von einem Weibe geboren und unter das Gesetz gethan, auf daß du ein solch Kind würdest. Groß Ding ist’s allesammt, was Gott wirket; darum macht’s auch große Freude und Muth, unverzagte Geister, die sich vor keinem Ding fürchten und alles vermögen. Kains Ding ist enges Ding und macht eitel verzagte Angstherzen, die kein nütz sind, weder zu leiden noch zu wirken, fürchten sich vor einem Baumblatt, wie 3 Mos. 26,36. Moses sagt. Darum halte fest ob diesem Text: Das Rufen des Geistes im Herzen mußt du fühlen; denn es ist ja deines Herzens Rufen, wie solltest du es denn nicht fühlen? Dazu braucht St. Paulus das Wort „rufen“, so er doch wohl hätte mögen sagen: Der Geist lispelt, oder redet, oder singt; es ist alles noch größer.“ – Es heißt nicht: „Der Geist gibt Zeugniß überhaupt“, sondern: „unserm Geist.“ Also muß es doch unser Geist geistlich hören, wenn er zeugt; und „dieses Zeugniß hören“ ist eben das Gefühl. – „Er schreit und ruft aus voller Macht, das ist, mit ganzem vollen Herzen, daß es alles lebt und webt in solcher Zuversicht; wie er auch Röm. 8,26. sagt: „Der Geist in uns bittet für uns mit so großen Seufzern, die niemand mit Worten mag ausreden“; item, Röm. 8,16.: „Der Geist Gottes gibt Zeugniß unserm Geist, daß wir Gottes Kinder sind; wie sollte denn unser Herz solch Rufen, Seufzen und Zeugniß nicht fühlen?“

Es ist sonderbar. Ein Christ, der anfängt zu zweifeln, der hört dann, daß eine andere Stimme in ihm ist, die sagt: „Nein, Christus ist doch für dich gestorben! Du brauchst nicht zu verzagen, brauchst nicht zu verzweifeln! Du gehörst auch mit zu den Erlösten des HErrn, gehörst auch in den Himmel. Sei nur getrost!“ Diese Stimme, die von selbst kommt, denn wir können sie uns nicht machen, ist das Zeugniß des Heiligen Geistes. Das tritt besonders dann ein, wenn der Christ in geistlicher Noth ist. Denn einen Zeugen hört man doch nicht alle Tage, sondern wenn ich angeklagt bin, dann hole ich mir einen Zeugen. So ist es auch im Geistlichen. Gerade wenn der arme Christ in der größten Noth ist, dann ruft der Heilige Geist: „Verzage nicht!“ – „O, dazu dient köstlich die Anfechtung und Leiden: die treiben zu solchem Rufen und wecken den Geist auf; aber wir fürchten und fliehen das Kreuz, darum fühlen wir des Geistes nimmer und bleiben unter Kain. Fühlst du nun das Rufen nicht, so denke und ruhe nicht mit Bitten, bis daß Gott dich erhöre; denn du bist Kain und es steht nicht wohl um dich.“ – Kain irrte umher und wußte nicht, wie er mit Gott daran sei. – „Doch sollst du nicht begehren, daß solches Rufen allein und lauter in dir sei; es wird auch müssen ein Mordgeschrei daneben sein, das dich in solchem Rufen treibe und übe, wie allen andern geschehen ist.“– Wenn einer noch so gewiß ist in seinem Gnadenstande, immer wird er noch ein Mordgeschrei des Teufels hören. Während er der Gnade Gottes gewiß ist, kommt eine heimliche Stimme und flüstert ihm ein: „Ach was, du bist deine Sünden noch nicht los! Was für böse Gedanken hast du heute wieder gehabt! Was für sündliche Lüste sind heute in dir aufgestiegen! Was für unnütze Worte sind heute aus deinem Munde gegangen! Was du Gutes gethan hast, ist doch nur Schein gewesen.“ Das sind des Teufels Mordpfeile. Aber dann tritt der Geist auf für uns und zeugt für uns, wenn wir Christen sind. – „Deine Sünde wird auch schreien, das ist, ein starkes Verzagen in deinem Gewissen anrichten. Aber Christi Geist soll und muß das Geschrei überschreien, das ist, stärkere Zuversicht machen, denn das Verzagen ist; wie St. Johannes sagt 1 Joh. 3,19-22.: „So uns unser Herz würde strafen, so ist Gott größer, denn unser Herz. Darum, lieben Brüder, so uns unser Herz straft, haben wir Zuversicht, daß wir alles von ihm empfahen werden, was wir bitten. Dabei erkennen wir auch, daß wir aus der Wahrheit geboren sind, so wir unser Herz also mögen trösten vor seinem Angesicht.“ So ist nun dies Rufen und Schreien des Geistes nichts anderes, denn ein mächtiges, starkes, unwankendes Zuversehen aus ganzem Herzen zu Gott, als einem lieben Vater, von uns, als von seinen lieben Kindern.“

Nun aber wollen wir doch zu dem übergehen, was nach unserer Thesis uns heute zunächst vorliegt, nämlich, daß diejenigen Gesetz und Evangelium greulich vermischen, welche sagen: „Willst du der Vergebung deiner Sünden gewiß werden, dann mußt du so lange beten, kämpfen und ringen, bis du endlich ein freudiges Gefühl bekommst, welches dir heimlich sagt: „Sei getrost, du hast Vergebung deiner Sünden.“ „Dann“, sprechen sie, „ist die Gnade in deinem Herzen“, während, eigentlich zu reden, die Gnade gar nicht in meinem Herzen sein kann, die ist in Gottes Herzen. Nein, erst mußt du glauben und dann fühlen. Das Gefühl kommt aus dem Glauben, und nicht der Glaube aus dem Gefühl. Und wessen Glaube aus dem Gefühl kommt, der hat keinen wahren Glauben; denn der Glaube braucht eine göttliche Verheißung. Also kannst du gewiß sein, mit deren Glauben steht es recht, die sagen können: „Nichts in der ganzen Welt sehe ich an, als das liebe Evangelium. Darauf baue ich.“ Dann mag der Teufel kommen und sie schrecken und quälen. Wenn sie dann vielleicht nicht gleich süße Gefühle haben, so werden sie sagen:

„Und ob mein Herz sprach lauter Nein;
Dein Wort soll mir gewisser sein“;

oder:

„Ohn Fühlen will ich trauen,
Bis ich komme, dich zu schauen.“

Dafür ist nun die Hauptstelle: 1 Joh. 3,19.20.: „Daran erkennen wir, daß wir aus der Wahrheit sind, und können unser Herz vor ihm stillen, daß, so uns unser Herz verdammt, daß Gott größer ist, denn unser Herz, und erkennet alle Dinge.“ Wenn ein Christ das auch erfährt, daß sein Herz ihn verdammt – darunter ist auch das Gewissen zu verstehen – wenn er sich will trösten, und er hört eine Stimme, die sagt: „Nein, du bist verdammt! Du hast keine Vergebung der Sünden! Du hast keine Gnade! Du bist kein Kind Gottes! Du darfst auf das ewige Leben nicht hoffen!“ – da sagt der liebe Johannes: „Wenn uns unser Herz verdammt, so ist Gott größer denn unser Herz.“ Wir sollen denken: „Ja, mein Gewissen ist auch ein Richter, aber nur ein Unterrichter. Ueber dem steht ein höherer Richter, und das ist Gott.“ Da soll ich sagen zu meinem Herzen: „Sei still, Herz! Sei still, Gewissen! Ich habe einen andern Richter gefragt, ob ich meine Sünden los bin; und das ist der große Gott, der ist größer, denn du; das ist ein höheres Forum.“ Denn ein höheres Forum kann immer die Urtheile eines niedern Forums umstoßen. Wenn wir uns an das Wort halten, dann spricht der höhere Richter zu uns: „Dir sind deine Sünden vergeben.“ Und wer durch Gottes Gnade das von Herzen glauben kann, o, der ist ein seliger Mensch! Für den ist die Hölle zugeschlossen und der Himmel weit aufgethan. Und nun mögen alle Teufel aus der Hölle brüllen: „Du bist verloren!“ so kann er antworten: „Nein, ich bin doch nicht verloren, sondern ewig gerettet; denn hier stehet es geschrieben!“ Seiner Zeit wird doch das Gefühl wiederkommen. Gerade wenn der Christ so weit ist, daß er denkt: „Ach, ich fühle gar nichts! Ich bin ein elender und verlorner Mensch! Ich bin so kalt und so todt! Das Wort Gottes schmeckt mir wie lauter faules Holz! Die Absolution will mich nicht erquicken! Das Zeugniß des Heiligen Geistes ist nicht in mir!“ – wenn er dann denkt: „Jetzt ist es aus mit mir!“ – da kommt auf einmal eine große Freude über das Herz und Gott läßt ihn doch nicht stecken. Freilich, Gott läßt sich da nichts vorschreiben. Es ist da ein großer Unterschied unter den Christen. Manche haben die große Gnade, daß der liebe Gott sie ganz leicht dahinführt, ihnen immer ein schönes, süßes Gefühl gibt, daß sie gar keines großen Kampfes bedürfen. Denn das ist sicher: wenn ich sehe: was ich erfahre, stimmt mit Gottes Wort überein, wenn die beiden zusammen kommen, dann ist kein Kampf mehr nöthig. Aber andere führt Gott fast immer durch Finsterniß, durch große Angst, durch schwere Zweifel und allerlei Noth. Doch da muß man unterscheiden, ob einer ein todter Mensch ist, oder ob er in solcher Anfechtung steckt. Und das ist nicht schwer zu unterscheiden. Denn wenn ich in Angst bin darüber, daß ich nichts fühle und empfinde, und ich möchte doch so gerne etwas empfinden und fühlen, so ist das ein Zeichen, daß ich ein wahrer Christ bin. Denn wer glauben will, der glaubt auch schon. Oder wie wäre es möglich, daß einer etwas glauben möchte, das er für unwahr hält? Denn kein Mensch will betrogen sein. Sobald ich etwas glauben will, so glaube ich es schon heimlich. Das müssen sich sonderlich die Seelsorger merken. Da kommen oft gute Gemeindeglieder und sagen: „Ach, lieber Herr Pastor, ich kann gar nicht glauben. Das ist ein Jammer.“ Frage ich: „Möchten Sie denn gerne glauben?“ und er sagt: „Ja freilich!“, so muß man ihn trösten: „Dann glauben Sie auch schon! Seien Sie nur getrost und warten Sie, bis Gott das Stündlein der Anfechtung vorübergehen läßt! Und dann werden Sie schon merken, wie Ihr Glaube hervorbrechen wird voll Kraft und Freudigkeit.“

Joh. 20,29.: „Spricht JEsus zu ihm: Dieweil du mich gesehen hast, Thoma, so glaubest du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ Thomas wollte nicht glauben, daß Christus von den Todten auferstanden sei, er hätte denn seine Finger in Christi Nägelmale gelegt. Da schenkt ihm Christus aus Erbarmen die große Gnade. Da stürzt er denn vor Christo nieder und spricht: „Mein HErr und mein Gott!“ Darauf spricht der HErr zu ihm: „Dieweil du mich gesehen hast, Thoma, so glaubest du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ Aber was ist das Sehen im Grunde anders als ein Empfinden? Denn ob ich etwas empfinde durch mein Nervensystem, oder ob ich etwas sehe mit meinen Augen, oder ob ich etwas höre durch meine Gehörnerven, das bleibt sich gleich. Wenn der HErr nun hier spricht: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben“, und damit sagt: „Wir sollen erst glauben und dann sehen“, und sollen nicht sagen: „Ich will erst sehen und dann glauben“, so ist es auch gewiß, daß wir nicht erst sollen fühlen wollen, sondern vielmehr glauben und dann warten, bis uns Gott das süße Gefühl gibt, daß er die Sünde von uns weggenommen hat. Hebr. 11,1.: „Es ist aber der Glaube eine gewisse Zuversicht deß; das man hoffet, und nicht zweifeln an dem, das man nicht siehet.“ Da haben wir eine Definition des Glaubens. Ist der Glaube aber dies, eine feste, gewisse Zuversicht, ein Nicht-Zweifeln, ein Nicht-Wanken, so versteht es sich doch von selbst, daß der Glaube sich nicht dürfe auf das Sehen, Fühlen und Empfinden gründen; denn dann gründet er sich auf Sand, und es wird nicht lange dauern, so fällt das ganze auf Sand gebaute Haus zusammen. Ach, wehe dem Menschen, welcher sich immer daran gewöhnt hat, sich nur dann für begnadigt anzusehen, wenn er süße Gefühle hat! In der Todesstunde ist es in der Regel mit solchen süßen Gefühlen zu Ende. Die Todesnoth vertreibt das Gefühl. Wohl dem Menschen, der dann spricht:

„Ich glaub, was JEsu Wort verspricht,
Ich fühl es, oder fühl es nicht.“

Wohl dem, der kann dann im Frieden dahinfahren! Aber wehe dem, der dann denkt: „Ich fühle jetzt gar nichts. Jetzt soll ich sterben! JEsus ist nicht mehr in meinem Herzen. O, ich elender, unglücklicher Mensch!“ Wie viele mögen in den schwärmerischen Secten deswegen verloren gegangen sein, weil sie noch zuletzt den HErrn JEsum haben fahren lassen, weil sie meinten, sie dürften ihn nicht ergreifen, es fehlte ihnen die Erlaubniß dazu! Denn alle Schwärmer meinen, durch das Fühlen bekommen sie erst die Erlaubniß zu JEsu zu kommen und seiner sich zu trösten. Darum sprechen sie oft zu einem Bruder: „How do you feel?“ Wenn der sagt: „Ich fühle gar nichts!“ da heißt es: „Ach, du armer Mensch! Komm, wir wollen beten, kämpfen und ringen, bis du Gefühl bekommst.“ Da kriegt er denn so ein Gefühl, aber es ist oft nur ein sinnliches Gefühl und nicht das Gefühl des Heiligen Geistes. Denn das ist ja der menschlichen Natur eigen, wenn sie außerordentlich angespannt wird, daß sie ganz außer sich ist, und plötzlich ist es vorbei, daß gleichsam alle Saiten gesprungen sind, dann kommt ein Wonnegefühl, wie bei einem, der in das Wasser gefallen ist, und er denkt, er muß ertrinken, und nun wird er herausgezogen – da hat er auch ein solches Wonnegefühl, und es ist doch nicht das Wonnegefühl des Heiligen Geistes.

Luther schreibt in der Kirchenpostille (W. XI, 2122 f.): „Die andere Art des Glaubens ist, daß er nicht wissen noch zuvor versichert sein will, ob er der Gnade würdig sei und erhöret werde, wie die Zweifler thun, die nach Gott greifen und versuchen ihn. Gleichwie ein Blinder nach der Wand tappet, also tappen dieselbigen auch nach Gott, und wollten ihn gerne zuvor fühlen und gewiß haben, daß er ihnen nicht entlaufen möge. Die Epistel zu den Ebräern, Cap. 11,1., spricht: „Der Glaube ist eine gewisse Zuversicht deß, das zu hoffen ist, und richtet sich nach dem, das nicht scheinet“, das ist, der Glaube hält sich an die Dinge, die er nicht sieht, fühlt noch empfindet, weder in Leib noch Seele: sondern wie er eine gute Vermuthung hat zu Gott, ergibt er sich darein und erweget sich darauf, zweifelt nicht, es geschehe ihm, wie er sich vermuthet; so geschieht ihm auch gewißlich also, und kommt ihm das Fühlen und Empfinden ungesucht und unbegehrt eben in und durch solch Vermuthen oder Glauben.“ – Das ist gerade die Art des Glaubens: er will nicht das voraus wissen und dessen versichert sein und dann glauben, sondern er glaubt, sobald das Wort erschallt, und nun bekommt er allerdings diese Versicherung, der eine früher, der andere später. Das ist die allgemeine Erfahrung: Wenn einer ein Christ geworden ist, dann bekommt er schnell ein süßes Gefühl. Gott macht es mit seinen geistlich jungen Kindern, wie ein irdischer Vater mit seinen kleinen Kindern. Denen gibt er zarte Speise, süßes Zuckerbrod etc. So gibt der liebe Gott seinen Christen im Anfang das Zuckerbrod der süßen Gefühle. Wenn sie aber viele Erfahrungen gemacht haben, wenn sie im Glauben geübt worden sind, dann hört das Zuckerbrod auf, und er gibt ihnen nun schwarzes Roggenbrod – und das ist manchmal sehr hart und altbacken. Da denkt der liebe Gott: „Du hast nun in deinem Christenthum genug erfahren. Das ist nun keine zu harte Probe für dich. Wenn ich das den kleinen Kindern geben würde, so könnten die es gar nicht verdauen.“ Daher denken auch viele Christen: „Ach, was für ein seliger Mensch war ich doch einst! Wie habe ich geschwelgt in den süßen Empfindungen, in der freudigen Gewißheit, daß ich einen gnädigen Gott im Himmel habe, wovon ich vorher, vor meiner Bekehrung, gar keine Ahnung hatte! Mit Freuden bin ich zu Bett gegangen, denn ich wußte, ich ruhte in den Armen meines JEsu. Mit Freuden bin ich aufgestanden, denn ich wußte, mein JEsus und seine Engel gehen mit mir aus und ein. Kein Unglück kann mich treffen; oder kommt ein Unglück, so ist es doch nur ein Glück, wie auch Paul Gerhardt singt:

„Die Trübsal trübt mir nicht
Mein Herz und Angesicht.
Das Unglück ist mein Glück,
Die Nacht mein Sonnenblick.“

Nun kann der Christ auch das harte Roggenbrod ganz gut verdauen, während, wenn Gott einem Anfänger im Christenthum seinen Trost entziehen würde, der sagen würde: „Ich bedanke mich, ein so elender Mensch zu sein. Da predigen die Pastoren immer, das Christenleben sei ein herrliches Leben, aber nun sehe ich: ein Christ, das ist der allerunglücklichste Mensch; bei dem ist nichts als Angst, Noth und Schrecken.“ Was für ein lieber Vater seiner Christen ist darum Gott! Er legt ihnen nicht sogleich das Schwere auf. Er gewöhnt sie erst an sich. Dann entzieht er ihnen mehr und mehr den Trost, damit sie Gott im Finstern greifen lernen. Darum soll man ja nicht denken, wenn man diese seligen Erfahrungen nicht mehr in dem Grad wie früher macht, daß man nun aus der Gnade gefallen sei, oder daß man nicht mehr in der ersten Liebe stehe. Die Liebe eines alten, erfahrenen Christen zu seinem Heiland schmeckt wohl nicht mehr so süß, sie ist aber viel lauterer, denn da sind viele Schlacken herausgebrannt worden, die erst noch da waren. Luther schreibt weiter: „Denn sage mir, wer hatte diesen Aussätzigen Brief und Siegel gegeben, daß sie Christus würde erhören? Wo ist hier das Empfinden und Fühlen seiner Gnade? Wo ist die Kundschaft, Wissenschaft oder Sicherheit von seiner Güte? Der keines ist hier. Was ist denn hier? Ein frei Ergeben und fröhlich Wagen auf seine unempfindige, unversuchte, unerkannte Güte. Da sind keine Fußtappen, darin sie spüren möchten, was er thun wolle; sondern allein seine bloße Güte wird angesehen, und macht in ihnen ein solch Vermuthen und Wagen, er werde sie nicht lassen. Woher hatten sie aber Erkenntniß seiner Güte? Denn sie mußten je vorhin wissen, wie unerfahren oder unempfunden sie immer sein soll. Ohne Zweifel aus dem Geschrei und Wort, daß sie viel Gutes von ihm hatten gehöret, aber doch noch nie empfunden; denn Gottes Güte muß durchs Wort verkündigt und also auf sie unversucht und unempfunden gebaut werden.“ Wenn ich ein Vaterunser gebetet habe mit würdiger Andacht, was freilich sehr selten geschieht bei den allermeisten, so darf ich doch das „Amen“ mit Freuden sprechen, wenn ich auch während des Gebetes gar nicht empfunden habe, daß der Heilige Geist mich eigentlich treibt; aber ich habe es mit Kampf gebetet, und da habe ich doch erhörlich gebetet.

Ferner schreibt Luther (W. XI, 623 f.): „Das ist es nun, das ich gesagt habe, daß Gott nicht will leiden, daß wir uns sollen auf etwas anderes verlassen, oder mit dem Herzen hangen an etwas, das nicht Christus in seinem Wort ist; es sei wie heilig und voll Geistes es wolle. Der Glaube hat keinen andern Grund, darauf er bestehen könne. Darum widerfährt solches der Mutter Christi und Joseph, daß ihre Weisheit, Gedanken und Hoffnung fehlen müssen und alles verloren ist, da sie ihn lange suchen von einem Ort zum andern. Denn sie suchen ihn nicht, wie sie sollen, sondern wie Fleisch und Blut pflegt, welches immer nach anderm Trost gafft denn das Wort; denn es will allezeit etwas haben, das es sehe und fühle und mit Sinnen und Vernunft daran hangen könne. Darum läßt sie Gott auch sinken und fehlen, auf daß sie solches müssen lernen, daß aller Trost bei Fleisch und Blut, bei Menschen und allen Creaturen nichts und keine Hülfe noch Rath sei, es sei denn das Wort ergriffen. Hier muß alles gelassen sein, Freunde, Bekannte, die ganze Stadt Jerusalem, alle Kunst, Witz, und was sie selbst und alle Menschen sind; denn das alles gibt und hilft zu keinem rechten Trost, bis man ihn im Tempel sucht, da er in dem ist, das des Vaters ist. Da findet man ihn gewißlich, und kriegt das Herz wieder Freude, sonst müßte es trostlos bleiben von sich selbst und allen Creaturen. Also wenn uns Gott in solche hohe Anfechtung wollte kommen lassen, sollen wir auch lernen, daß wir alsdann nicht unsern eignen Gedanken noch menschlichem Rath folgen, die uns hin und her, auf uns selbst oder andere weisen; sondern denken, daß wir Christum suchen müssen in dem, das des Vaters ist, das ist, daß wir uns schlecht und bloß an das Wort des Evangelii halten, welches uns Christum recht zeigt und zu erkennen gibt. Und lerne nur in dieser und allen geistlichen Anfechtungen, so du willst andere oder dich selbst recht trösten, also mit Christo sagen: Was ist es, daß du so hin und wieder läufst, dich selbst so zermarterst mit ängstigen und betrübten Gedanken, als wolle Gott dein nicht mehr Gnade haben und als sei kein Christus zu finden, und willst nicht eher zufrieden sein, du findest ihn denn bei dir selbst und fühlest dich heilig und ohne Sünde: da wird nichts aus, es ist eitel verlorene Mühe und Arbeit. Weißt du nicht, daß Christus nicht sein will, noch sich finden lassen, denn in dem, das des Vaters ist? nicht in dem, das du oder alle Menschen sind und haben. Es ist nicht der Fehl an Christo und seiner Gnade: er ist und bleibt wohl unverloren und läßt sich allezeit finden. Aber es fehlt an dir, daß du ihn nicht recht suchst, da er zu suchen ist, weil du deinem Fühlen nach richtest, und meinst ihn zu ergreifen mit deinen Gedanken. Hieher mußt du kommen, da nicht dein noch einiges Menschen, sondern Gottes Geschäft und Regiment, nämlich, da sein Wort ist: da wirst du ihn treffen, hören und sehen, daß weder Zorn noch Ungnade da ist, wie du fürchtest und zagst; sondern eitel Gnade und herzliche Liebe gegen dich, und er als ein freundlicher, lieber Mittler für dich gegen den Vater das Liebste und Beste redet. Schickt dir auch nicht darum solche Versuchung zu, daß er dich wolle verstoßen; sondern daß du ihn desto besser lernest kennen und desto fester an seinem Wort hangen, und deinen Unverstand strafen, und erfahren müssest, wie herzlich und treulich er dich meinet.“

Da haben Sie eine Verurtheilung aller schwärmerischen Secten. Denn sie mögen sein, wie sie wollen, diesen großen Irrthum haben sie: Sie verlassen sich nicht allein auf Christum und sein Wort, sondern vor allen Dingen auf etwas, das in ihnen vorgeht. Sie denken meistens: „Mit mir hat es doch keine Noth, denn ich habe mich doch bekehrt.“ Als ob ich dann Bürgschaft hätte: du bist ja bekehrt, also kommst du in den Himmel! Nein, wir sollen nicht zurückschauen auf unsere Bekehrung und denken: „du bist ja bekehrt, also kannst du getrost sein!“ Im Gegentheil, ich soll jeden Tag wieder zu meinem Heiland gehen, als hätte ich mich noch nicht bekehrt. Meine vorige Bekehrung hilft mir nichts, wenn ich nun sicher werde. Ich muß jeden Tag zu dem Gnadenstuhl hin, sonst hilft es nichts, daß ich bekehrt war, ja, sonst kann ich auch meine eigene Bekehrung zu meinem Heiland machen. Das ist aber erschrecklich! Dann mache ich ja mich selbst eigentlich zu meinem Heiland.

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