Vinet, Alexandre - Zwei Ratschläge der Weisheit.
An diejenigen, welche verreisen.
An diejenigen, welche in der Dunkelheit wandeln.
Erste Rede.
Luc. XII, 35.
Lasset eure Lenden umgürtet sein, und eure Lichter brennen.
Die Worte unsers Herrn, wenn wir uns an den ersten Sinn halten, den sie darbieten, stellen uns Menschen vor Augen, welche jeden Augenblick das Zeichen zur Abreise erhalten können, und Menschen, welche jeden Augenblick die Finsterniß überfallen kann. Schürzet auf, wird den Ersten gesagt, und nehmet zusammen unter euern Gürteln die weiten Falten eurer schleppenden Kleider, damit, wenn der Augenblick zum Aufbruche kommt, nichts eure Abreise verhindere, nichts sie zu sehr erschwere, nichts eure Schritte hemme oder verzögere. Und ihr, wird zu den Andern gesagt, zündet gleich jetzt schon auf die Stunde, wo der Tag untergegangen sein wird, ein Licht an, dessen Flamme die traurige Dunkelheit der Nacht zerstreut oder erhellt.
In ihrem geistlichen Sinne genommen, ergehen diese Worte an alle Menschen und bedeuten: Nehmet die nöthigen Maßregeln, damit, wenn der Augenblick gekommen ist, nichts euch verhindern möge, euch auf den Weg zu begeben, oder wenigstens entschlossen und gerne abzureisen, um dahin zu gehen, wo Gott will, daß ihr hingehet; und waffnet euch zum voraus mit einem Troste, der euch in allen euern Trübsalen erquickt; denn die Finsterniß, von der im Texte geredet wird, ist nicht die der Unwissenheit, des Irrthums oder des Zweifels, sondern die der Angst und der Trübsal, und Christus setzt an dieser Stelle das Licht der Freude der Nacht des Unglücks entgegen.
Diese Ermahnung hatte für die ersten Jünger, zumal für die Apostel, eine besonders tiefe Bedeutung. Wem konnte es rathsamer sein als ihnen, umgürtete Lenden und brennende Lichter zu haben? Sie waren von der Vorsehung berufen, unter den heftigsten Widersprüchen, durch die furchtbarsten Hindernisse hindurch die Fundamente der christlichen Kirche zu legen. Ohne Waffen wurden sie auf die Eroberung der Welt ausgesandt; und sie gingen hinaus, nach Christi eigenem Ausdrucke, wie Schafe mitten unter die Wölfe. Die Zukunft war für sie dunkel, und sie sahen durch ihre Dunkelheit hindurch nichts deutlich, als hie und da aufgesteckte Kreuze. „In der Welt habt ihr Angst“ das ist die erste Verheißung, die der Meister ihnen gegeben hatte. Das Geringste war, gleich Abraham ihr Land und ihre Freundschaft zu verlassen; noch härter mußte es sein, im Schooße einer Heimat und einer Familie zu wohnen, von denen sie nothwendig gehaßt werden mußten, weil sie Jesum Christum liebten. Aber wie dem auch sei, sie hatten sich nun einmal den Befehlen und dem Willen ihres Meisters hingegeben; sie wußten, daß der Knecht nicht größer ist, denn sein Herr; daß die Welt ihnen thun werde, was sie Christo gethan hatte; daß, wenn der Hirte geschlagen sei, auch die Schafe sich zerstreuen werden; und Petrus hatte aus dem Munde Jesu diese auf alle seine Gefährten anwendbaren Worte empfangen: „Man wird dich führen, wo du nicht hin willst.“ Was wären die ersten Christen geworden, wo wäre heute die christliche Kirche, wenn Petrus und seine Gefährten diese Ermahnung des Herrn nicht im Ernste genommen hätten: „Habet eure Lenden umgürtet, und eure Lichter brennend?“
Aber wenn der Knecht nicht größer ist, denn sein Herr, so ist auch kein Diener größer, denn ein anderer Diener. Alle haben, im Allgemeinen, denselben Beruf. Die Umstände können verschieden sein, die Verpflichtung ist dieselbe für Alle. Noch mehr: es ist nicht Ein Mensch, er sei Christ oder nicht, der nicht einige Gründe habe, diese Worte an sich selbst zu richten: „Lasset eure Lenden umgürtet sein, und eure Lichter brennen.“ Ich richte sie an euch alle, meine lieben Zuhörer, und indem ich die Charakterzüge des natürlichen Lebens und die des christlichen Lebens zusammenfasse, rufe ich euch nach dem höchsten Lehrer und wie in seinem Namen zu: „Lasset eure Lenden umgürtet sein, und eure Lichter brennen.“
Lasset eure Lenden umgürtet sein. Das heißt: haltet euch reisefertig. Nun besteht der Geist des Christenthums, der die wahre Bestimmung des Menschen und die wahren Verhältnisse des Menschen zu Gott ausdrückt, in dieser Beziehung darin, der Nothwendigkeit nichts, der Ordnung Gottes Alles einzuräumen, so daß jede unserer unfreiwilligen Entbehrungen sich in ein freiwilliges Opfer verwandelt, und daß wir am Ende gegeben haben, was wir verloren zu haben scheinen; gegeben, sage ich, frei, und aus dem Grundsatze des Glaubens, des Gehorsams und der Liebe. In dieser Gemüthsverfassung sein, das ist's, was das Evangelium reisefertig sein nennt. Es gibt zwar noch andere Arten es zu sein; aber da keine derselben das Merkmal der Freiheit und der Religion hat, von dem wir eben gesprochen, so sagen wir von keiner, sie verwirkliche den Gedanken jenes Ausdruckes Christi: „die Lenden umgürtet haben.“ Weder der sorglose Leichtsinn, noch die Gefühllosigkeit, noch der Hochmuth können, im Sinne des Christenthums oder der absoluten Wahrheit, der Gürtel unserer Lenden sein.
Lasset eure Lenden umgürtet sein. Denn ihr seid Alle berufen abzureisen, und zwar eilig, und am öftesten, um, wie der heil. Petrus, zu gehen, wo ihr nicht hin wollt. Bei Einigen handelt es sich darum, unversehens den Ort ihrer Geburt und ihrer Freundschaft zu verlassen. In der That, wer kann dafür bürgen, da sterben zu wollen, wo er geboren ist. Wie viele haben unter einem fremden Himmel und in einer eigentlichen Verbannung ein im Lande ihrer Väter und unter den Gegenständen ihrer Liebe begonnenes Leben beschlossen? die Nothwendigkeit, die Pflicht, die Ehre gebieten diese Trennungen. Und was sie für zarte Gemüther Schmerzliches haben, das hat Jeremias bewundernswürdig ausgedrückt in jenen Worten: „Weinet nicht über die Todten, und grämet euch nicht darum; weinet aber über den, der dahin zeucht; denn er nimmer wieder kommen wird, daß er sein Vaterland sehen möchte.“ Was sage ich? wäre jene Trennung auch freiwillig und die Erfüllung unserer heißesten Wünsche, dennoch ist der Augenblick, wo dieselbe geschieht, nie ohne Kämpfe, nie ohne Klagen, und mehr als Einer verwundert sich, wenn die Stunde da ist, wie er je sie herbeiwünschen konnte. Derjenige, der dahin zeucht glaubet es nur zeucht selten freudig dahin: er bedarf an die Rückkehr zu denken. Wenn man auch nicht sein Land verläßt, so geht man doch wenigstens aus seiner Familie, man lebt unter einem andern Dache, in andern, oft weniger freien und weniger angenehmen Verbindungen; und wie gering die Entfernung ist, so leidet man doch davon wie von einer Verbannung; denn der Stein des väterlichen Herdes ist auch eine Heimat, die wahre, die einzige Heimat für Manche. Das ist das Gesetz der Natur und der Wille Gottes selbst: „Ein Mensch wird Vater und Mutter verlassen.“ Und was soll ich von denen sagen, welche verlassen worden sind? Sie verreisen nicht, sagt ihr; nein, sie bleiben, aber allein. Aber auch das ist eine Art Abreise. Auch sie sind verbannt - in ihre Einsamkeit verbannt. Der Ort, an dem sie bleiben, ist nicht mehr derselbe; denn was ist ein Ort? nichts; was fesselt uns an denselben, wenn nicht die Wesen, die wir an demselben gesehen und besessen haben? Die geliebten Wesen sind das Licht und die Schönheit des Ortes, den wir bewohnen. In ihrer Abwesenheit ist er nicht mehr der gleiche; so daß wir, ohne von der Stelle zu weichen, dennoch den Ort verändert haben, ohne einen Schritt gethan zu haben, sind wir von denen entfernt, die wir liebten; also auch wir, Väter, Mütter, Brüder, Freunde, die wir bleiben, wo unsere Kinder, wo unsere Schwestern, wo unsere Freunde nicht mehr sind, auch wir sind verreist, und können für uns nehmen diese Worte Christi : Lasset eure Lenden umgürtet sein!
Aber verreisen heißt nicht bloß, den Ort verändern, es heißt auch die Stellung verändern; Bekanntes gegen Unbekanntes, Verhältnisse gegen andere Verhältnisse vertauschen; von der Gegenwart, welche flieht, in die Zukunft übergehen. So aufgefaßt, ist jedes Leben voll dieser Abreisen, das ganze Leben ist nur Eine Abreise. Dieser Welt Gestalt vergehet. Manche dieser Abreisen oder dieser Veränderungen können vortheilhaft scheinen. Wer arm war, und reich wird, glaubt ein gutes Geschäft gemacht zu haben; denn er hat ja dürre Steppen gegen fruchtbare Gefilde ausgetauscht. Aber das ist vielleicht ein großer Irrthum. An sich ist etwas weder beglückend noch betrübend; das Herz macht den Werth und die Bedeutung von Allem; und das Wohlsein steht sündigen Menschen, wie wir sind, übel an, die Sicherheit ist die größte unserer Gefahren. Aber gehen wir darüber hinweg und geben wir zu, daß es Veränderungen oder Abreisen gebe, welche an sich für glückliche betrachtet werden können. Sprechen wir nur von denen, welche dem Fleische Mühe kosten; und sagen wir, indem wir immer eine Stellung einem Orte, irgendwelche Veränderung einer Abreise vergleichen, daß der Verlust des Vermögens eine der schmerzlichsten Abreisen ist, und daß nichts mehr der Verbannung gleicht, als die Armuth, denn die Armuth macht einsam; es ist in der That kein Gedränge um den herum, der nichts zu geben hat, und es ist schon viel, wenn seine Dürftigkeit für ihn aus der Welt nicht eine Einöde macht. Wer kann sich nun aber schmeicheln, bis an's Ende das von seinen Vätern ererbte oder durch seinen Fleiß gesammelte Vermögen zu genießen? Und man bedenke wohl: man erträgt bis zu einem gewissen Punkte die Armuth, wenn man nie reich, die Verborgenheit, wenn man nie bemerkt gewesen ist; aber man entschließt sich schwer, nichts zu sein, wenn man etwas gewesen ist; und die Armuth, die Jedermann haßt wie verabscheut ist sie von denen, welche nicht immer arm gewesen sind! wie unerträglich ist sie ihnen! und wie schwer ist es - es sei denn, daß man ein wahrhaft neuer Mensch geworden sei sich, wenn ich so sagen darf, auf die ganze Höhe einer solchen Lage zu erheben! Also auch im Hinblick auf diese Abreise hat Christus sagen können: lasset eure Lenden umgürtet sein!
Gleichwohl gibt es noch schmerzlichere. Der Tod unserer Angehörigen und Freunde erfordert mehr Kraft. Die Anges hörigen, die Freunde sind der Reichthum des Herzens; ein Reichthum in der Armuth, und um welchen die Dürftigsten
von den Reichsten beneidet werden können, denen dieses Glück so oft versagt oder wieder entzogen ist. Nun aber sind unsere geringern Reichthümer uns treuer als die andern. Mehr als Ein Mensch hat bis zum letzten seiner Tage sein Vermögen erhalten, ja selbst wachsen sehen; keiner hat bis an's Ende alle seine Lieben erhalten. Ein Mensch, der das zwanzigste Jahr erreicht, ohne je die Trauer getragen zu haben, ist ein Wunder, das wird nicht gesehen; es ist ein seltenes Glück, mit vierzig Jahren, ich sage nicht, seinen Vater und seine Mutter, sondern nur Eines von beiden, noch zu besitzen. Und was soll ich von so viel unvorhergesehenen Streichen sagen, welche der Tod schlägt ohne alle Ehrfurcht für das, was wir Naturordnung nennen, und ohne sich um etwas anderes zu bekümmern, als wie er in unserer Seele die empfindlichste und verwundbarste Stelle treffen möge. Ist in der Gesellschaft, in der Kirche, ein nützlicher Mann, und der nothwendig scheint, so ist es, als bezeichnen und empfehlen ihn unsere Achtung und unsere Dankbarkeit den Streichen des Todes. Durch eine Menge unbedeutender Wesen hindurch so scheint es uns, die er verschont, weil er sie verschmäht, geht er stracks auf diesen Mann los und wirft ihn in den Staub. Ich weiß sehr wohl, daß er bei dem Allem Gott gehorcht und daß er nicht nach dem Zufall schlägt; aber daß seine Streiche unvermuthet seien, daß der Gedanke Desjenigen, der ihn schickt und der ihn leitet, in dieser wie in jeder andern Beziehung, über alle unsere Berechnungen und alle unsere Erwartungen hinausgehe: das liegt nur zu sehr am Tage. Das Leben ist ein Schlachtfeld, wo der Tod über die ersten Reihen hinweggeht, um die letzten zu schlagen, den gemeinen Soldaten verschont, um den Feldherrn umzuwerfen, und, launisch oder gleichgültig, dem Feigen vor dem Tapfern, dem Neugeworbenen vor dem Veteranen den Vorzug gibt.
Dieser anscheinende Zufall, dieser bunte Wechsel, diese Ohnmacht aller Bürgschaften, dieses über allen Häuptern schwebende Schwert haben etwas sehr Erschreckendes, und wenn unsere Hoffnungen uns nicht von unsern Befürchtungen abzögen, was für ein Leben würden wir Väter, Gatten, Weiber, Kinder führen, im Gedanken, daß kein Augenblick uns den kommenden verbürgen kann, und daß der Tag nach demjenigen, der uns an der Spitze oder im Schooße einer behaglichen und blühenden Familie gesehen hat, uns als Waisen, Wittwer, ohne Wohlstand, ohne Zukunft in der Welt, ohne Zweck im Leben sehen kann? Nun aber sterben wir selbst in allen diesen Sterben. Ein Theil unsers Lebens und unsers Herzens sinkt mit hinunter in jedes dieser Gräber; oder, wenn ihr wollt, jedes jener Sterben versetzt uns aus einer lieblichen und blühenden Gegend in eine ernstere Region; das Leben ist eine Reise von Süden nach Norden, vom Sommer in den Winter, und der Abend des Alters findet uns auf einem nackten und undankbaren Boden, der unserm armen Herzen kaum das Leben fristet, und dessen einziger Schmuck die sehnsüchtige und traurige Erinnerung an einen glücklichern Aufenthalt ist. Nach und nach, oder, um besser zu sagen, Schlag auf Schlag, entblättert sich unser Leben; wir hätten es voraussehen sollen, aber wir haben es nicht gesehen; jeder Verlust wird nun noch schmerzlicher, jedes Opfer schwerer zu vollbringen, der Gehorsam, den wir Gott schuldig sind, unvollkommener, unehrlicher. Wie viel Grund für den göttlichen Lehrer, uns in unserm Texte zuzurufen : lasset eure Lenden umgürtet sein!
Was wir wenigstens wissen konnten, ist, daß auch wir sterben müssen, und daß der Tod, überfalle er uns jung oder alt, uns immer zu früh kommt. Die Gewißheit des Todes und die Ungewißheit des letzten Augenblicks was ist ernster! was geeigneter, unsere ganze Aufmerksamkeit unaufhörlich wach zu erhalten! Und ist es nicht wahr, daß es in den Augenblicken, wo dieser Gedanke auf uns einstürmt, unser ganzes Mark und Bein durchschaudert? denn von allen Ereignissen ist der Tod das größte, von allen Trennungen die vollständigste, von allen Verlusten der schmerzlichste, weil er alle umfaßt, von allen Abreisen endlich die furchtbarste, weil es außer dem Lichte der christlichen Begriffe eine Abreise nach einem Lande der Dunkelheit und des Schreckens ist. Aber jene Augenblicke der Sammlung und des Schreckens sind selten; das Gewöhnlichere ist, nicht daran zu denken, daß man sterben werde; und doch weiß man es und sieht alle Tage irgend Einen an seiner Seite fallen; man weiß, daß man sterben muß, aber man fühlt sich leben; man hat die Gewohnheit des Lebens und nicht die des Sterbens; das Leben mit seinem Geräusch, seinen wechselnden Eindrücken, seinen Freuden, ja seinen Schmerzen erfüllt unsere ganze Seele; indem wir suchen, den Tod zu vergessen, hören wir auf, an ihn zu glauben; und wenn er endlich kommt, so fliehen wir vor ihm als vor dem Erscheinen des unerwartetsten und unwillkommensten Gastes. Aber da hilft nichts wir müssen ihn empfangen; wir müssen unser Leben, ich sage nicht dem Tode, der es abfordert, überlassen, aber Gott, der es zurückverlangt, treu zurückgeben; es muß gestorben, und zwar gut gestorben sein! Ist das etwas so leichtes? Ist es nicht im Gegentheil das Schwerste von der Welt? Und diejenigen, welche Kraft in sich gefunden haben, der Nothwendigkeit oder Gott ihre Güter, ihre Gesundheit, ihre Heimat, das Leben selbst ihrer Freunde abzutreten, finden sie nicht gewöhnlich, daß ihr eigenes Leben abtreten, wie entblößt, wie arm, wie beneidendlos es auch scheinen mag, noch etwas ganz Anderes ist? Oder sterben denn die Greise lieber als die Jünglinge? die Unglücklichen lieber als die Glücklichen? ist uns das Leben nicht an sich selbst, unabhängig von allem Uebrigen, lieb? scheint es uns nicht, daß jeder Stand, jedes Schicksal dem Tode vorzuziehen sei? und wenn der bessere Theil von uns selbst uns in das Grab vorangegangen ist, halten wir nicht mit hastiger Gier einen elenden Rest zurück, obschon wir uns selbst gestehen, daß er es nicht verdient?
Aber, genau betrachtet, meine Brüder, sind die verschiedenen Abreisen, von denen wir gesprochen haben, und sogar diese letztere Abreise, die man das Sterben nennt, nur die Folgen (wenn sie freiwillig sind), oder die Bilder (wenn der Wille keinen Antheil daran hat) von einer andern Abreise oder einem andern Sterben, im Hinblick auf welches Jesus besonders zu seinen Jüngern gesagt hat: Lasset eure Lenden umgürtet sein! Von der Welt und von uns selbst handelt es sich, uns zu trennen; sagen wir einfach: von uns selbst, denn wir sind, hinlänglich von der Welt getrennt, wenn wir es von uns selber sind, und so lange diese Trennung nicht vollbracht ist, so ist auch die Einsamkeit für uns eine Welt. Von uns selbst, sage ich, handelt es sich, uns zu trennen. Und um es uns deutlicher zu verstehen zu geben, bestimmt Gott gewisse Augenblicke des Lebens, gewisse Gelegenheiten, wo man gleichsam den Huldigungseid erneuern, sich von neuem gegen die Welt entscheiden, gegen sich selbst Partei nehmen, brechen, wie wenn man nie gebrochen hätte, und mitten in der Reise die Schritte verdoppeln und beschleunigen muß. Jeder Mensch, nicht nur der Christ, ist dazu berufen; der Unterschied ist allein der, daß der Christ Gelegenheiten unterscheidet und eine Pflicht wahrnimmt, wo der Weltmensch keine sieht. Auch das, meine Brüder, sind Abreisen im Geiste und vorsätzliche Verbannungen. Bisweilen, ach, ist es Spott oder Schmach, der allgemeine Tadel, eine freiwillig aufgeopferte Freundschaft, das Interesse derer, die uns theuer sind, wesentlich gefährdet, eine Stellung, in der man nützlich war, in der man vielleicht nothwendig schien, unwiderruflich aufgegeben, Talente und Kräfte zur Unthätigkeit verdammt, unsere Brüder endlich, die, welche uns verstehen sollten und jetzt zum erstenmal ihre Stimme mit der Welt gegen uns vereinigen. Stellet euch, meine geliebten Zuhörer, einen einzigen jener Fälle vor und saget uns, ob Christus sie nicht mit allen andern, und mehr als alle andern, im Auge hatte, als er sagte: lasset eure Lenden umgürtet sein!
Unterscheiden wir nicht, meine Brüder, wo die Unterscheidungen überflüssig sind. In allen Abreisen, in allen Trennungen, die wir aufgezählt haben, handelt es sich immer darum, sich von sich selber zu trennen. Von uns selber trennen wir uns in der Verbannung, im Verlust der Güter, im Tode unserer Angehörigen und Freunde - denn Alles, was wir lieben, wird ein Theil unser selbst; um so mehr trennen wir uns im Tode von uns selber, da keines der Güter des Lebens uns näher steht und uns so theuer sein kann, als das Leben selbst. Wie! sich von sich selber losreißen, sich von sich selber trennen! Wird unsere Natur und unser Wille, denen diese Trennung im Innersten zuwider ist, sich gerade so geneigt dazu finden, nachdem wir alle unsere Augenblicke angewendet haben, sie ihnen schwer, verhaßt, uns möglich zu machen? Denn, täuschet euch nicht, so lange wir nichts thun, um die Abreise zu erleichtern, so vermehren wir die Schwierigkeit; der Knoten, den wir nicht nachlassen wollten, knüpft sich immer fester; zwischen Herrschaft und Knechtschaft gibt es keine Mitte; Welt und Fleisch nehmen Besitz von einem Herzen, in dem der Geist sich nicht niedergelassen und befestigt hat; und wie könnt ihr glauben, daß, nachdem man ein ganzes Leben hindurch gearbeitet hat, sich an sich selbst zu fesseln, man dann, wenn die schweren Stunden kommen, sich im voraus losgemacht und frei finden werde? Mit dem selben Grunde könnte man uns sagen, daß ein Mann, indem er von einem untergeordneten Posten, der nur ein mittelmäßiges Wissen erfordert, zu einem hohen Amte übergeht, dessen Verwaltung ausgebreitete Kenntnisse erheischt, sich vollkommen damit versehen finde und zwar eben in Folge dieser plötzlichen und unerwarteten Beförderung, und daß die Wissenschaft ihm in der Stunde der Noth wie die Haare auf dem Kopfe kommen werde. Seit wann wäre denn die Kunst der Künste, die große Kunst zu leben, die einzige, die man könnte, ohne sie gelernt zu haben? Ihr, die ihr die Achseln zuckt, wenn man euch von Wundern spricht, könnt ihr euch ein größeres, ein unbegreiflicheres denken? Ihr, die man immer bereit sieht, der Ankündigung oder dem bloßen Gedanken an ein Wunder die unverletzbaren Gesetze der Natur entgegen zu sehen, was macht ihr hier, ich bitte euch, aus der Natur und ihren Gesetzen? Rom, saget ihr oft, ist nicht in Einem Tage erbaut worden; jedes große Ergebniß senkt seine Wurzeln weit in die Vergangenheit hinein; und ihr wollt, daß die Bekehrung, die Wiedergeburt (denn um nichts Geringeres handelt es sich hier) ein ganz plötzliches Werk sei! Ah! Rom ist viel leichter in einem Tage erbaut, als ein Mensch in einem Tage bekehrt. Dieses Wunder ist Gott möglich; aber tausendmal, ja zehntausendmal gegen einmal, wird man zuverlässig vorausgesehen haben, wenn man schloß, er werde es nicht thun. Und durch was für eine unbegreifliche Verblendung, durch was für eine sonderbare Bezauberung seid ihr dazu gekommen, an ein Wissen ohne vorhergehendes Studium, an ein Meisterwerk der Kunst ohne vorläufige Uebung, und, um alles mit Einem Worte zu sagen, an Wirkungen ohne Ursachen zu glauben? Gehet diesmal in euch selbst und gestehet, daß die Mittel dem Zwecke, der Anfang dem Ende entsprechen müssen, und daß wir, um im Stande zu sein, bei den verschiedenen Gelegenheiten, wo die Trennung uns befohlen ist, uns herzhaft von uns selber zu trennen, unser ganzes Leben daran gearbeitet haben müssen, uns zu trennen, das heißt, ehe irgend ein äußerer Umstand uns eine Nothwendigkeit daraus gemacht hat. Mit einem Worte, das ihr ohne Zweifel verstehen werdet: um sich von sich selbst trennen zu können, muß man zum voraus von sich getrennt sein. Man muß den Ereignissen vorausgeeilt sein; das Zeichen zur Abreise muß uns schon abgereist finden.
Paßt nun das, was ich im Allgemeinen von allen Abreisen sage, nicht in ganz auffallender Weise auf jene Abreise, die man das Sterben nennt? Wenigstens waget ihr von jener nicht zu sagen, sie erfordere keine Vorbereitung.
Da das Sterben für Alle die furchtbarste der Abreisen, und für Jeden die sonderbarste Neuigkeit ist, so müssen wir vor Allem das Sterben im Auge haben, wenn wir jene Worte des Meisters wiederholen: Lasset eure Lenden umgürtet sein.
Jesus Christus ist weder der Einzige noch der Erste gewesen, der es gesagt hat. Die Weisen der Welt haben es auch gedacht. Sie haben aus der Wissenschaft des Lebens und auch der des Sterbens eine und dieselbe Wissenschaft gemacht. Nach ihnen sollte das Leben ein Sterbenlernen sein. Und es ist wahr: das Leben selbst scheint durch alle einzelnen Sterben, aus denen es besteht (denn jede Trennung ist ein Sterben), uns im Sterben üben zu wollen. Aber die allgemeine Erfahrung beweist, daß dies nicht genug ist. Unser Wille muß dabei sein. Wir müssen uns selbst im Sterben üben. Nun ist das aber keine kleine Wissenschaft, sondern im Gegentheil die größte von allen; und ich begreife nicht, wie derjenige, welcher nicht seit langer Zeit sterben gelernt hätte, es plötzlich und auf einmal in dem Augenblicke lernen sollte, wo er es durchaus können muß. Nicht Jedermann ist es gegeben, mit der Gefühllosigkeit eines unvernünftigen Wesens zu sterben; sogar diejenigen, welche wie Thiere gelebt haben, sterben nicht alle wie Thiere; die Natur unterstützt dabei einige Sterbende, aber nicht alle; und wer möchte sie dafür glücklich preisen? Ist das denn Alles, sich aus irgend einem Grunde entschließen, mit gutem Anstande einen so gefährlichen Schritt zu thun? Wer so stirbt, weiß nicht, was sterben ist: das ist Alles. Wissen, was sterben ist, und es recht wollen, das ist der Punkt; es handelt sich in der That nicht darum, fortgerissen zu werden, sondern zu folgen; nicht nachzugeben, sondern zu gehorchen; das nun aber geht über die Kräfte der Natur und des Temperamentes; noch einmal: das ist es, was man nicht kann, ohne es gelernt zu haben, was man nur mit großer Mühe und langsam lernt, was man sich unaufhörlich wieder in Erinnerung bringen muß, um es nicht unaufhörlich zu vergessen. Wem also kommt es nicht zu, in Betreff dieser großen Reise des Sterbens, jenes Wort des Erlösers auf sich anzuwenden: Lasset eure Lenden umgürtet sein!
Das so passende und anschauliche Bild, dessen sich unser göttlicher Meister bedient, kann durch ein einziges Wort ausgedrückt werden: Machet euch los. Was uns verhindert abzureisen, oder gerne abzureisen, oder schnell und festen Schrittes vorwärts zu wandeln, wenn das Zeichen uns gegeben wird, das sind unsere Bande, die, wie die Falten eines fliegenden Gewandes, uns hindern und aufhalten. Ich sage unsere Bande, ich könnte hinzufügen unsere Sorgen; aber man macht sich nur Sorge in dem Maße, als man gebunden ist; was kein Interesse einflößt, kann nicht Gegenstand einer Sorge sein; so daß, indem wir sagen unsere Bande, wir Alles gesagt haben.
Um im Geiste und in der Wahrheit dem Zeichen zur Abreise gehorchen zu können, muß man sich also gleich beim Anfange losmachen.
Man wird uns das, meine Brüder, mittelst einer Unterscheidung zugeben. Man muß unterscheiden zwischen den Neigungen, deren Gegenstände Sachen sind, wie das Vermögen, der Ruf, das Vergnügen; und den Neigungen, deren Gegenstände Personen sind. Was die erstern betrifft, so gibt man sie, wenigstens in der Theorie, preis; die andern aber behält man zurück: vielleicht nicht gerade, weil man denkt, diese sollten der Aufforderung Gottes den Vorzug streitig machen, sondern man sieht vielleicht voraus, zwischen jenen Neigungen und dieser Aufforderung könne kein Widerstreit stattfinden, Alles das vertrage sich sehr gut und immer, so daß es unnütz sei, auf einen Fall zu denken, der nie eintreten werde. Der Weise im höchsten Sinne, Jesus Christus, hat darüber anders geurtheilt. In dem Gleichnisse vom Gastmahl, wo wir einen der Geladenen auf die Einladung des Herrn antworten hören: Ich habe einen Acker gekauft, und muß hinaus gehen und ihn besehen, ich bitte dich, entschuldige mich; und einen andern: ich habe fünf Joch Ochsen gekauft, und ich gehe jetzt hin, sie zu prüfen, ich bitte dich, entschuldige mich; - da hält ein dritter, welcher ein Weib genommen hat, gar nicht für nöthig, sich zu entschuldigen, und antwortet bloß: ich habe ein Weib genommen, darum kann ich nicht kommen. Ist damit nicht mit wenig Worten der Uebermuth unserer Abgöttereien gezeichnet? aber lehrt uns das nicht zugleich, daß der Widerstreit zwischen unsern natürlichen Neigungen und der Aufforderung Gottes etwas Mögliches ist? Denn da sehen wir ja einen Menschen, der sich weigert, wozu? zu Gott zu gehen; warum? weil er verheirathet ist. Das befremdet euch, und ihr zweifelt, ob das Gleichniß dies sage. Es sagt dies, meine Brüder; es zeigt uns einen Menschen, welcher der Aufforderung Gottes nicht folgen will, weil er verheirathet ist. Auf eine zweite Aufforderung wird er antworten: ich habe einen Sohn, darum kann ich nicht kommen; auf eine dritte vielleicht: ich habe ein Vaterland, darum kann ich nicht kommen. Immer, ohne sich mit einem Worte zu entschuldigen, immer, ohne das leiseste Bedenken zu zeigen. Er ist so froh, Etwas oder Jemanden zu lieben, er macht sich ein so außerordentliches Verdienst aus seinen Neigungen, von denen doch einige dem Menschen und dem Thiere gemeinsam sind, daß es ihm gar nicht einfällt, es möchte noch Etwas jenseits und darüber hinaus geben; das heißt, weil er eine Familie hat, ist kein Himmel, und weil er Weib und Kinder hat, ist kein Gott.
Ich gebe zu, meine geliebten Brüder, daß wenige Menschen, Seit es in der Welt ein Evangelium gibt, so zu reden wagen; was gerügt werden muß, ist nicht eine beinahe unmögliche Ansicht, sondern eine leider zu gewöhnliche Thatsache. Mancher, der erröthen würde bei dem Gedanken, einen vergänglichen Reichthum dem Urheber aller guten Gaben und aller vollkommenen Geschenke vorzuziehen, baut in der Stille den Altar seiner natürlichen Neigungen über den Altar des starken Gottes. Daraus folgt nicht, daß jene Neigungen dabei etwas gewinnen, sie verlieren im Gegentheil viel, und ich wünschte Zeit zu haben, euch zu zeigen, daß jede Neigung, welche nicht, nach dem Ausdruck des heil. Paulus, eine Neigung nach dem Geiste wird, im Gegentheil ausartet und auf die Stufe der natürlichen Triebe herabsinkt, welche der Mensch mit den Thieren theilt; nein, der Mensch, von dem ich rede, liebt deswegen seine Kinder und sein Weib nicht mehr, weil er sie ausschließlich liebt, aber er liebt Denjenigen weniger, der über Alles geliebt sein will, er ist weniger treu, Ihm zu gehorchen, weniger bereitwillig, seinen Aufforderungen zu folgen. Er hat sich selber Gott und der Pflicht entzogen, um sich der Welt hinzugeben; denn jene Neigungen, welche der Geist Gottes nicht geheiligt hat, jene Liebe, welche nicht christliche Liebe geworden ist, das ist täuschet euch ja nicht die Welt; es ist die Natur, wenn ihr lieber wollt; in der That, das ist Alles schön wie das Grün der Erde und wie das Blau des Himmels; aber Gott wird Erde und Himmel zerstören.
Nicht weil man liebt, sondern weil man weltlich, fleischlich liebt, weil man in dieser Liebe insgeheim vielmehr die Befriedigung seiner Selbstsucht, als das Wohl derer sucht, die man liebt, sagt man zu Gott: „Ich bin gebunden, darum kann ich nicht kommen.“ Wohl wäre da eine Pflicht zu erfüllen, ein Zeugniß abzulegen, ein Opfer zu bringen, aber das verträgt sich nicht mit jener Liebe, wie man sie empfindet; und jedenfalls ist das Herz anderswo; man hat nicht zwei Religionen, und die Religion, welche man hat, liegt ganz in jenen natürlichen Neigungen; man hat nicht zwei Götter, und unser Gott ist jenes Wesen, das Gott uns gegeben hat. Gegeben! was haben wir gesagt? Gott gibt uns nichts unbedingt, als sich selbst; alles Uebrige leiht oder anvertraut er; nichts gehört euch, als Gott selbst, ihr selber gehört nur Gott an; und ihr wollet o grausamste der Thorheiten! weder Ihm seine, noch daß Er euer sei!
Nach diesem, meine Brüder, habe ich nichts von den gröbern Neigungen zu sagen. Wenn schon diejenigen, von denen ich gesprochen habe, uns von Gott abziehen, uns hindern, seinen Aufforderungen zu folgen, was wird es erst mit dem Geiz, mit der Ehrsucht und der Wollust sein? Erweisen wir nicht unmöglichen Irrthümern die Ehre, sie zu widerlegen; aber dennoch laßt uns noch etwas von einer Art Neigung sagen, die um so gefährlicher ist, als man ihr nicht mißtraut. Meine Brüder, ich meine die Gewohnheiten.
Wenn das Wort Bande oder Neigungen euch zu schön scheint, um auf die Gewohnheiten angewandt zu werden, so laßt uns diese ich bin es zufrieden Fesseln nennen. Und in der That, die Gewohnheiten sind Fesseln, sind Ketten. Man nimmt sie an, ohne es zu bemerken, oft ohne Vergnügen an ihnen zu finden: man kann sie nicht ohne Schmerzen zerreißen. Es kostet Ueberwindung, nicht mehr zu sein, was man immer gewesen ist, nicht mehr zu thun, was man immer gethan hat. Das Leben selbst in seiner unanziehendsten Gestalt, das Leben, das dieses Namens am wenigsten würdig ist, ist uns lieb durch die bloße Gewohnheit zu leben, und mit großer Sorgfalt sieht man uns Rahmen an die Wände unserer Wohnungen aufhängen, die nichts einfassen. Die tiefsten Neigungen, um so viel mehr die unbestrittensten Pflichten, haben oft vor der Macht der Gewohnheit zurückweichen müssen. Die Lenden umgürtet haben, heißt also nicht bloß, in unsere Neigungen Mißtrauen gießen, es heißt, unsern Gewohnheiten nicht gestatten, zu starke Wurzeln nach innen zu schlagen; denn in dem Augenblicke der einen oder andern jener Abreisen, von denen wir euch unterhalten haben, würde Eine derselben hinreichen, um uns wie angekettet an der Stelle zurückzuhalten, die Gott uns will verlassen machen. Betrachtet nichts als gleichgültig oder als klein, was zur Gewohnheit geworden ist. Die unsichtbarsten Bande sind nicht die schwächsten, und jedenfalls macht ihre Zahl sie unzerstörlich: man muß sich erinnern, daß ein Tau aus Fäden besteht. Es ist unmöglich, sich der Gewohnheiten zu entrathen; ein Leben ohne Gewohnheiten ist ein Leben ohne Regel. Aber in Beziehung auf sie, wie in Beziehung auf alles Uebrige, muß man mit dem Apostel sagen: „Ich habe es Alles Macht; es soll mich aber nichts gefangen nehmen.“ Wir müssen in jedem Augenblicke dem Herrn zu Gebote sein und uns hüten, uns hienieden festzusetzen, wie wenn wir immer bleiben sollten. Seien wir im Geiste, was wir wirklich und aus Nothwendigkeit sind Fremdlinge und Pilger. Und dennoch laßt uns nichts leichtsinnig und nachlässig thun. Laßt uns mit derselben Sorgfalt arbeiten, wie wenn unsere Arbeiten und wir selbst immer bestehen sollten. Laßt uns, die wir nicht dauern, Werke verrichten, die dauern. Wenden wir alle unsere Fähigkeiten und Kräfte an bei Allem, was wir zu thun haben; gebrauchen wir die Muße, die Vortheile, das Leben, das Gott uns gibt, so gut, als wir immer können; leben wir nicht halb, leben wir nicht ungerne; aber erinnern wir uns auch ohne Unterlaß an die Bedingungen unsers Daseins; indem wir bleiben, lasset uns reisefertig sein; lasset uns unaufhörlich im Geiste verreisen; lasset unsre Lenden umgürtet sein.
Wenn derjenige, welcher das Evangelium empfangen hat, glaubte, diese Erinnerung gehe ihn nichts an, weil er ja eben dadurch, daß er das Evangelium empfing, der Welt Lebewohl gesagt habe, so würde er sich täuschen. In Einem Sinne hat die Trennung, von der wir reden, ein für allemal statt und wiederholt sich nicht; in einem andern Sinne hat sie zu gewissen Augenblicken im Leben und mehr oder weniger häufig statt. Ohne die erste Trennung sind die andern unmöglich; aber von einer andern Seite ist diese erste Trennung nie so vollkommen und unbedingt, daß man sich, von jener an gerechnet, nicht mehr um die andern bekümmern, oder, mit andern Worten, zu sich sagen dürfte: mein Herz ist vorausgegangen, die Werke werden von selbst nachfolgen. Nein, nein; der erste Antrieb muß unterhalten, die erste Trennung muß immer von neuem bestätigt werden. Um sich zu trennen, müssen immer die nämlichen Grundsätze, die nämlichen Ueberzeugungen angewendet werden, die uns Kraft und Muth gaben, uns ein erstes Mal zu trennen.
Und doch, meine Brüder, wäre die Weisheit, die wir predigen, eine pure und traurige Thorheit, wenn man dabei stehen bleiben müßte. Wir predigen die Losmachung, die Trennung; der Mensch aber lebt von Verbindung, von Vereinigung; er muß Jemand oder Etwas lieben; sobald er aufhört zu lieben, ist er todt. Es wäre ebenso leicht, immer in der Luft zu schweben, oder im Leeren zu athmen, als ohne Anhänglichkeit zu leben. Wenn ihr es dahin gebracht hättet, nichts mehr zu lieben, wäret ihr deswegen mehr werth? Sicher wäret ihr minder werth, und Gott hätte schlecht für seinen Sohn gesorgt, indem er, wenn ich mich so ausdrücken darf, euch zu Todten machte vor eurem Tode. Sich losmachen ist nichts, wenn man sich nicht zu gleicher Zeit anmacht; ja die erste Pflicht ist sogar, sich anzumachen, das Losmachen kommt nachher. Die Hülle, in welcher der Schmetterling gefangen war, zerbricht und fällt erst, wenn die Flügel dem Insekte gewachsen sind und dieselben, indem sie sich entfalten, seine traurige Decke sprengen. Man fängt erst an, sich von der Welt loszumachen, wenn man etwas Besseres kennen gelernt hat. Bis dahin ist man nur jenes Ekels und jenes Ueberdrusses fähig, die nicht Losmachung sind. Also, wenn wir euch das Losmachen predigten, wenn wir euch sagten: „Lasset eure Lenden umgürtet sein“, so sagten wir euch mit andern Worten: „Trachtet nach den Dingen, die droben sind“; und was sind diese Dinge, meine Brüder? sind es nur Dinge? ist es nicht auch, ist es nicht zuerst eine eurer Liebe sehr würdige Person? „Trachtet“, sagt der Apostel, „nach den Dingen, die droben sind, wo Christus ist, sitzend zur Rechten Gottes.“
Und warum sind diese Dinge, die droben sind, liebenswürdig, wenn nicht, weil dort oben dieser Christus ist, der uns geliebt, und Gott, der uns Christum gegeben hat? Unsere Religion ist nicht bloß eine Religion des Losmachens, der Trennung. denn alsdann wäre sie keine Religion; sie ist eine Religion der Vereinigung, der Liebe. Ein würdiger Gegenstand ist unserm Herzen dargeboten worden. So wie sich Gott in der Ordnung der Natur offenbarte, war Gott gewiß sehr liebenswürdig; und doch haben wir Ihn nicht geliebt, kaum haben wir begriffen, daß Er geliebt werden könne. So groß war die Tiefe unsers Falles, daß wir nicht mehr fähig waren, zu lieben, was nicht gesehen werden kann, noch zu sehen, was nicht den Augen des Fleisches sichtbar ist. „Zeige uns den Vater“, sagten wir, wie Philippus, zu einem jeden der Weisen, welche kamen, um uns von Gott zu reden. „Mache uns Götter, die vor uns hergehen“, sagten wir zu Gott selbst. Und wir sind herrlich erhört worden von Demjenigen, welcher gedenkt gut zu machen, was der Mensch gedachte böse zu machen. Er hat uns den Vater gezeigt; Er hat uns einen Gott gemacht, der vor uns hergehe; denn Er selbst, angethan mit unserm sterblichen Fleische, ist vor uns hergegangen. Wir haben auf der Erde Einen gekannt, und wir werden im Himmel Einen wiederfinden, den wir ohne Maß, ohne Ende und ohne Furcht lieben können, ein Wesen, das unser ganzes Herz auszufüllen vermag, und das, indem es dasselbe ausfüllt, es beruhigt, es reinigt und es veredelt, einen so liebenswürdigen als ehrwürdigen Gott, einen Gott des Glückes und der Heiligkeit, den man unmöglich kennen und betrachten kann, ohne allzumal glücklicher und besser zu werden. Ihn zu erkennen, mit Ihm uns zu vereinigen, müssen wir streben, wenn wir je mehr und mehr uns von der Welt losmachen wollen; ins dem wir Ihn lieben lernen, werden wir unsere Lenden umgürten und uns bereit finden, freudig, oder wenigstens entschlossen, abzureisen, nach dem Orte, der Stellung, der Zukunft, die es ihm in seiner vollkommenen Weisheit wird gefallen haben, uns anzuweisen.
Zweite Rede.
Luc. XII,35.
Lasset eure Lenden umgürtet sein, und eure Lichter brennen.
Indem ich den zweiten Theil meines Textes zum Inhalte einer besondern Rede mache, will ich nicht läugnen, daß ich auf diese Weise zweimal den gleichen Gegenstand behandle; denn Christus legt in der zweiten Hälfte des Verses seinen Jüngern keine andere Pflicht auf, als in der ersten. Mit andern Worten, es ist nicht zweierlei zu thun, um ihm zu gehorchen: seine Lenden umgürtet haben, heißt, sein Licht angezündet haben; sein Licht anzünden, heißt, seine Lenden umgürten: es handelt sich immer nur darum, auf Alles gefaßt zu sein, sich in den Stand zu stellen, allen Schwierigkeiten die Spitze zu bieten, und, so viel an uns ist, dafür zu sorgen, daß keine derselben uns besiege und überwältige. Es könnte also scheinen, als hätten wir, indem wir die ersten Worte erklärten, auch die andern erklärt; aber, meine Brüder, einer und derselbe Gegenstand kann zwei Gesichtspunkte oder zwei Ansichten darbieten. Die Vorstellung des Textes, welche wir zu ergründen suchen, ist die einer Vorbereitung; es handelt sich darum, für die Zukunft zu sorgen, aber diese Zukunft ist zugleich eine Pflicht, die erfüllt, und ein Uebel, das ertragen sein will; eine Pflicht, die Kraft erheischt, ein Uebel, das Geduld verlangt. Wo ist der Ursprung dieser Kraft? wir haben es gesehen; wo ist die Quelle dieser Geduld? das ist es, was uns zu sehen übrig bleibt.
Nur die Betrachtung eines Gutes gewährt bei einem Uebel Geduld, das Gut allein macht es möglich, das Uebel zu ertragen, und, was noch besser ist, das Uebel anzunehmen. Man ist geduldig, weil man zum voraus getröstet ist; so daß zu Einem sagen: Verhalte dich so, daß, wenn das Uebel dich überfällt, du geduldig feiest, ihm mit andern Worten sagen heißt: Sammle dir Trost, versteh' dich mit Freude, habe deinem Unglücke Glück entgegenzusetzen.
Das ist nun aber der Sinn jener Empfehlung unsers Herrn: Lasset eure Lichter brennen. Denn in der Sprache der heiligen Schrift nimmt die Trübsal oft den Namen der Finsterniß; das Licht ist ein anderer Name für Wohlergehen; wer hat mich geführet„, sagt Jerusalem, „in die Finsterniß, und nicht in das Licht;“ so daß sein Licht brennend halten, so viel heißt, als sich auf die Tage der Widerwärtigkeit einen Vorrath von Glück bereiten.
Bei einer brennenden Lampe ist dreierlei zu unterscheiden: die Lampe selbst, das Oel und die Flamme. Die Lampe ist die Seele mit allen ihren natürlichen Anlagen. Diese Lampe hat jeder Mensch bei seiner Geburt aus der Hand des Schöpfers empfangen, die einen größer und geschmückter, die andern kleiner und einfacher, alle aber gleich geeignet, das heilige Oel der Wahrheit aufzunehmen; denn diese Wahrheit, ich meine das vortreffliche Wort des Evangeliums, ist das Oel, das diese Lampe zu enthalten bestimmt ist; und die Flamme ist das Leben, welches der Geist Gottes dieser Wahrheit, die aus dem Gefässe des Evangeliums in uns hinein geströmt ist, mitzutheilen kommt. Dann ist die Lampe vollkommen; denn sie leuchtet; nicht bloß in dem Sinne, daß sie unsern Verstand erleuchtet, sondern in jenem andern, durch unsern Text angedeuteten Sinne, daß sie fröhlich in der Finsterniß der Trübsal, ja selbst im finstern Thal des Todes schimmert. Diese Flamme, die wir zu unterhalten aufgefordert werden, ist die des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe.
Ich habe gesagt, meine Brüder, unterhalten, weil Christus uns in meinem Texte sagt: „lasset. eure Lichter brennen, oder haltet eure Lichter brennend.“ Aber diese Lehre selbst setzt eine andere voraus: Zündet eure Lichter an; und sogar zuerst diese: Habet Oel in euern Lampen. Warum sollten wir uns also nicht zuerst zu denjenigen wenden, welche sie nicht angezündet haben, selbst zu denjenigen, deren Lampen noch leer sind, ich will sagen, ohne Oel, denn leider ist unsere Lampe niemals leer! Habet Oel in euern Lampen, zündet eure Lichter an, sagen wir zu ihnen; denn die Finsterniß wird kommen, die Finsterniß ist ganz nahe, und das Licht des Christen allein kann sie zerstreuen.
Die Finsterniß ist nahe, die Nacht kommt! Sie kommt in jedes Leben. Sie kommt für Manche schon am Morgen und läßt der aufgehenden Sonne kaum die Zeit, einen blassen und traurigen Strahl in den Raum hinein zu werfen. Für sehr Viele ist das Leben weniger ein Tag, als eine hie und da statt des Lichtes von einigen fahlen Blitzen durchzuckte Nacht, welche, nach dem Ausdrucke des Dichters, nur die Dunkelheit sichtbar machen. Für Alle, ohne Ausnahme, gibt es im Leben tieffinstere Augenblick, Tage der Angst und der Trauer, welche selbst den am wenigsten Heimgesuchten den schmerzlichen Ausruf Hiobs begreiflich machen: „Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen, und das Leben den betrübten Herzen?“ Ja, selbst aus der Quelle unserer süßesten Freuden entspringen unsere bittersten Schmerzen. Unsere zärtlichsten Neigungen waffnen den Tod mit einigen seiner schärfsten Stacheln; denn obgleich der heil. Paulus in Wahrheit gesagt hat, der Stachel des Todes sei die Sünde, so ist es doch wahr, daß dieser Stachel sich vervielfältigt und jede der Blumen, womit wir unsere Häupter schmücken, in schmerzliche Spitzen verwandelt: jede Blumenkrone wird früher oder später eine Dornenkrone. Ich will euch hier, meine Brüder, nicht vom menschlichen Leben eine traurige Parodie machen, oder euern Augen die sichtbaren und zahlreichen Spuren von der Huld des Schöpfers verbergen. Aber der Glücklichste unter den Sterblichen, derjenige, welcher, nach einem unerhörten Vorrechte, am Ende seiner Laufbahn nur Erinnerungen des Wohlergehens (ich will nicht sagen des Glückes) zu sammeln hätte, wäre ein Mensch, der niemals geliebt hätte. Wenn er geliebt hätte, so hätte er gelitten; er hätte in Andern gelitten; und der allgemeine Anblick des menschlichen Lebens würde ihn nothwendig den schmerzlichsten Betrachtungen hingeben. Jedenfalls müßte er sterben, diesen schwelgerischen Aufenthalt verlassen, sich auf dem Pfade des Todes in eine finstere Zukunft vertiefen; nun aber würde er, meine Brüder, in der Voraussicht dieser uns vermeidlichen Lösung, nicht bloß ein einziges Mal, sondern alle Tage sterben; ja, alle Tage würde er der Freude absterben; und die lebhaftesten Entzückungen, von denen sein Herz erbeben könnte, wären wie eine Mahnung an jene ewige Traurigkeit, welche in einem Menschenherzen wohl schlafen, aber niemals sterben kann.
Das ist der unwandelbare Zustand des menschlichen Lebens. Der Mensch ist hienieden zu einem beständigen Kampfe bestimmt; wir werden zu Unheil geboren, wie die Vögel sich schwingen zum Fluge. Auf welchem Lebenslaufe wir immer mit unsern Augen verweilen, so sehen wir ihn ganz mit Wunden und Narben bedeckt. Alles scheint zu wetteifern, uns an unsere unwiederbringliche Hinfälligkeit zu erinnern. Ich gestehe, daß es selbst dem Unglücklichsten unmöglich ist, im Weltall und in seinem eigenen Leben die Beweise eines väterlichen Wohlwollens, die Grundzüge eines ersten Planes zu verkennen, der nichts Anderes bezweckte, als das Glück Aller. Aber das Unglück des menschlichen Zustandes ist deswegen nicht minder eine erdrückende Last für das Herz und für den Verstand. Diese Ungewißheit über die nächste Zukunft; diese mit allen unsern Freuden verflochtenen Schmerzen; der Tod, der immer bereit ist, sich zu rächen und mit unsern vergänglichen Glückseligkeiten zu spielen: das Alles betrübt uns nicht bloß, das Alles setzt uns in Erstaunen. Das Unglück scheint uns eine Unordnung - und in Einem Sinne haben wir Recht; - aber diese Ueberzeugung selbst vermehrt unser Unglück. Wir wissen überdies, daß es gegen diese zahlreichen und hartnäckigen Feinde unseres Glückes keine Freistätte gibt; daß das allgemeine Gesetz seine Ausnahme duldet, und daß, wenn während des Lebens von einem Menschen zum andern irgend eine Ungleichheit statt findet, der letzte Augenblick Alles gleich macht. Wir bedürfen also entweder jetzt schon, oder ein wenig später, getröstet zu werden. Wir müssen, wenn ich so sagen darf, diesem unvermeidlichen Unglück einiges Glück entgegenzusehen haben. Zu euern Lichtern, wenn ihr solche habt! scheint uns beim Herannahen der Finsterniß schon die bloße menschliche Klugheit zuzurufen.
Man kann es versuchen, sich mit dem Gefühl seiner Unschuld zu trösten; man kann sich sagen, man habe sich weder durch irgend einen Fehltritt, noch durch irgend eine Unklugheit den Schlag, der auf uns fiel, zugezogen. Aber außerdem, daß dieser Verband nicht auf die Wunden gelegt werden kann, die wir uns mit unsern eignen Händen geschlagen haben, verbietet uns unser Gewissen diesen Trost. Wenn wir nicht irgend ein Leiden verdient haben, so haben wir das Leiden verdient, und unser trotzigstes Murren kann jene Stimme der Wahrheit, die uns zuruft: „Wie murren denn die Leute im Leben also? Ein Jeglicher murre wider seine Sünde“ nicht gänzlich abhalten, bis zu uns zu gelangen. Und dann vergesset das Alles, wenn ihr könnt; schmücket euch für einige Augenblicke mit einer eingebildeten Unschuld; wenn die Schuld nicht mehr auf eurer Seite ist, so ist sie also auf Seite Gottes; Gott ist ungerecht, wenn ihr es nicht seid, und da in Gott keine Ungerechtigkeit sein kann, so könntet ihr eben so gut sagen, Gott sei nicht. Nennet ihr das einen Trost? Heißt das nicht im Gegentheil, Galle zum Essig und Kummer zum Schmerz fügen?
Man kann gegen die Uebel des menschlichen Lebens die Philosophie anrufen. Aber die Philosophie ist hier nur der große Name für eine sehr gewöhnliche Sache. Alles, was sie, indem sie es auf tausend Arten dreht, sagen kann, ist, daß die Welt nun einmal so sei, daß wir uns mit unsern klagen keine andere machen können, daß es besser sei, zu ertragen, was man nicht ändern könne, und daß unser Wehklagen unsere Wunden nur erweitere. Die Gewohnheit weiß hierüber eben so viel als die Philosophie, und es gereicht der menschlichen Weisheit nicht sonderlich zum Ruhme, daß sie auf kürzern oder längern Umwegen nur zu einer stumpfen Entsagung gelangt. Jeder wahre Trost ist eine Freude; da ist keine Freude und kann keine sein; jeder wahre Trost muß uns erheben, und dieser erniedrigt uns. Müssen wir nicht, im Namen unserer Würde wie im Interesse unsers Glückes, andere Tröstungen suchen?
Man kann sich sagen, man habe nicht Alles verloren, und sich selbst ermahnen, einen Rest übrig gebliebenen Glückes zu benutzen: das ist abermals Philosophie. Der Geist kann so berechnen, die Seele kann es nicht. Bis daß der Mensch in einer ganz andern Schule, als der der Philosophie, sich jedes Glückes unwürdig erkannt hat, schätzt er nicht, was ihm bleibt, sondern bloß, was er verloren hat. Jeder von euch hätte darüber nur seine Erfahrung zu befragen, um uns zu sagen, bis wohin in dieser Beziehung die Ungerechtigkeit, die Undankbarkeit und die Anmaßung des Menschen gehen können. Ich will die unglaublichen Frevel derselben nicht bezeichnen. Ich beschränke mich, zu sagen: Wem genügt dieser Trost? Für wen ist er ein Trost? Jeder Trost ist eine Freude: wo ist denn hier die Freude? Jeder Trost soll die Leere ausfüllen, die vielleicht eben jetzt im Leben und im Herzen entstanden ist: wo ist denn diese ausgefüllte Leere? Saget dem Weltmenschen: „Diese verlorne Freundschaft ist nur eine Freundschaft weniger; dieses Kind, das der Tod dir so eben entrissen hat, ist nicht dein einziges Kind; oder wenn es das einzige war, so bleiben dir Freunde, oder wenn dir Alles fehlt, so bleibst du selber dir doch: sieh nicht an, was verschwunden ist, sondern was bleibt, denn du könntest auch nichts haben; andere haben nichts und du könntest dahin kommen, wo sie sind;“ ihr werdet sehen, meine Brüder, wie er euch antworten wird. Und wie wollt ihr übrigens diesen Trost auf das Ganze des Lebens anwenden? Dieses Leben als Ganzes betrachtet, befriedigt Niemanden - Niemanden, sage ich, unter denen, die auf das alleinige Licht der Philosophie beschränkt sind: wollt ihr ihnen sagen: kommt, hier habt ihr statt jenes fehlgeschlagenen Lebens ein anderes? Wo ist es, jenes Ersatz-Leben? Wo ist es für einen Jeden, der nicht das Licht der Hoffnung aus den Händen seines erlösenden Gottes empfangen hat?
Man kann sich ferner gegen das Unglück sträuben, man kann ihm trotzen; aber das heißt nicht getröstet sein; der Schmerz nimmt am Ende, auf diese oder jene Weise, seine Rechte wieder an sich; oder vielmehr, er verliert sie nicht einen Augenblick. Das Widerstreben des Stolzes ist nur ein Schmerz mehr. Und nicht Jedermann ist desselben fähig. Die meisten Menschen finden sich mit dem Bedürfnisse nach Trost nicht ab; nichts ersetzt ihnen denselben, nichts führt sie darüber irre. Um den Stachel des Schmerzes abzustumpfen, ist die Zeit besser, als der Stolz, denn die Zeit reibt Alles auf; aber sie reibt die Seele wie alles Uebrige auf; die Macht zu vergessen ist nur eine Schwachheit; das Leben wird dadurch weniger schmerzlich, aber auch weniger ernst, weniger edel; und wenn man auch nach und nach alles Erlittene vergessen hat, so hat das Leben nicht weniger seinen Glanz verloren; nie hat man umsonst gelitten; die Täuschung ist für immer verschwunden; man weiß nun, was man von den Verheißungen desselben zu halten hat, und was auch die Ereignisse ändern mögen, so werden sie uns nicht mehr dahin bringen, eine unmögliche Glückseligkeit zu hoffen.
Die göttliche Weisheit, Jesus Christus, ist dieser Klugheit zuvorgekommen, und wir kommen in seinem Namen, euch zu sagen: O Sterbliche, die ihr wisset, was das Leben ist, giebet Oel in eure Lampen und zündet sie an. Mögen eure Lichter, nach dem Ausdrucke, dessen wir uns bedient haben, Lichter des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe werden. Nicht das Glück ist das Licht des Lebens, sondern der Trost; nicht, was man sieht, sondern was man nicht sieht; und um die ganze Wahrheit zu sagen: nicht was man empfängt, sondern was man gibt, nach dem ganzen Sinn jenes Wortes des Herrn: „Geben ist seliger denn nehmen.“ Die Klarheit unsers Lebens besteht darin, zu glauben, zu hoffen, zu lieben.
Zu glauben, das heißt, die unwandelbare Liebe des Vaters mitten unter den Bezeugungen seines Zornes für gewiß zu halten; zu hoffen, das heißt, mitten unter den Trümmern, die sich um uns herum aufhäufen, das Reich zu umfassen, das nicht erschüttert werden kann; zu lieben, das heißt, die Sorge um unser eigenes Glück hinzugeben für die Sorge um das Glück Anderer, und noch allgemeiner, den Mittelpunkt unsers Lebens außer uns zu verlegen: denn darin besteht eigentlich die Liebe.
Und hütet euch ja, von dieser dreifachen Flamme einen einzigen Strahl wegzunehmen; besonders denket nicht, daß der festeste Glaube und die lebendigste Hoffnung zum Glück ohne Liebe genügen. Das Evangelium, welches gesagt hat, der Glaube und die Hoffnung seien nichts ohne die Liebe - nichts für die Glückseligkeit wie für die Vollkommenheit das Evangelium würde euch Lügen strafen; euer Gewissen, eure Erfahrung würden euch ebenfalls Lügen strafen. Welches sind in euerm Leben die Augenblicke wahren Glückes gewesen? Sind es nicht diejenigen, wo ihr euch für Andere vergessen habt? Ist euch die innige Verwandtschaft des Glückes und der Liebe bei jenen Gelegenheiten nicht augenblicklich geoffenbart worden? Findet ihr das, was ihr in euern allzu seltenen Erinnerungen findet, nicht auch in eurer Vernunft? Die Liebe, welche das Glück Gottes selbst ist, muß auch das höchste Glück des Wesens sein, das Gott zu seinem Bilde geschaffen hat. Jedes andere Glück ist dieses Wesens nicht würdig und macht es nicht zufrieden. Die selbstsüchtigen Genüsse machen es leer; die Liebe allein erfüllt und nährt es; das gemeine Glück muß empfangen und hat niemals genug empfangen, die Liebe muß geben und hat niemals genug gegeben; die Opfer erschöpfen das eine, die Opfer unterhalten die andere; und während das erste nichts gewänne, wenn es die Welt selbst gewänne, so bereichert sich die zweite aus ihren Verlusten. Der Glaube und die Hoffnung haben nur Werth, weil sie zur Liebe führen, und die Seele könnte sich entrathen zu glauben und zu hoffen, wenn es, ohne zu hoffen und ohne zu glauben, möglich wäre zu lieben. Sogar das Glück, geliebt zu werden, wäre uns vollständig ohne das Glück, zu lieben; und wenn die Liebe Gottes dem Menschen unendlich köstlich ist, so ist sie es das durch zweifelt nicht daran, daß sie ihn veranlaßt und, um so zu sagen, zwingt, Liebe um Liebe zu geben. Das Höchste der Gnaden Gottes, das letzte Wort seiner Liebe, der kurzgefaßte Inhalt des Evangeliums, der Schluß für uns des Erlösungswerkes ist nicht, geliebt zu werden, sondern zu lieben. Denn wenn wir lieben, dann ist alles vollbracht; wenn wir lieben, dann ist unser Heil verwirklicht. Die Liebe ist das höchste Gut; sie ist demnach auch im Unglück der höchste Trost, und sie ist es, mehr noch als der Glaube, mehr noch als die Hoffnung, welche unserm Lichte die lebhaftesten und glänzendsten Strahlen leiht. Aber von einer andern Seite betrachtet, sind es der Glaube und die Hoffnung, die das Herz der göttlichen Liebe öffnen; durch die Kraft des Glaubens und der Hoffnung wird unser neugewordenes Herz fähig, zu gleicher Zeit mit einer reinen Liebe Alles zu lieben, was geliebt werden muß, und nicht zu unterliegen unter den Uebeln, welche aus unserm Zustande und aus der Liebe selbst entstehen. Trennen wir nicht, was unzertrennlich ist, schneiden wir keinen der Bestandtheile des Trostes hinweg; wiederholen wir, daß in dieser Welt, so wie sie einmal geworden ist, im Leben, so wie es einmal beschaffen ist, das Licht unserer Finsterniß, das Glück unsers Unglücks in einem Glauben besteht, der sich auf Gott gründet, in einer Hoffnung, die auf Ihn zählt, in einer Liebe, die bis zu Ihm sich erhebt, um von dort herniederzusteigen auf die Menschheit und sie ganz zu umfassen.
Was euch, o meine geliebten Brüder, an den Tröstungen oder vielmehr an den Freuden des Evangeliums gefallen sollte, ist, daß sie weder der Hülfe des Stolzes, noch derjenigen der Zeit bedürfen, und daß sie in der Seele dessen, der leidet, die Kraft und die Milde vereinigen. Wo ich die Milde ohne die Kraft sehe, da sage ich mir: der Mensch ist vernichtet, seine innere Schwungkraft ist gelähmt, und die Religion darf nicht solche Wirkungen hervorbringen; wo ich die Kraft ohne die Milde sehe, da sage ich mir: hier ist kein Trost, keine Freude, denn die Freude mildert: die Wahrheit ist also nicht da. Aber derjenige, welcher Christum durch den Glauben umfaßt hat, derjenige, welcher in den öden Himmeln endlich wieder einen Vater gefunden hat, der wird im Schmerze beides zusammen, milde und kräftig, sein; denn was ist kräftiger und milder zugleich, als der Glaube, als die Hoffnung und als die Liebe? Erwartet von ihm in der Prüfung weder eine kraftlose Unterwerfung, noch ein übermüthiges Sträuben. Er ist, was der Mensch sein soll, mit Muth gewaffnet und mit Demuth geschmückt, aufrecht vor dem Schicksale, auf den Knieen vor Gott.
Mit dem Oele des Wortes, mit der Flamme des Geistes lasset das Licht eurer Seele eure Finsterniß erleuchten. Dieses ergeht an euch, die ihr die Gnadenerweisung Gottes im Evangelium noch nicht kennt, oder die ihr sie vergeblich kennt, weil euer Herz noch nicht von derselben gerührt ist. Einander gleich an Unglück, die Einen wie die Andern den gleichen Wechselfällen unterworfen, scheinet ihr in einer andern Beziehung sehr verschieden von einander, weil zwischen euch der Unterschied von der Unwissenheit zur Erkenntniß, oder, wie man es vielleicht sagen würde, vom Glauben zum Unglauben statt findet. Ist dieser Unterschied so groß, wie er scheint? Weder die Einen, noch die Andern von euch sind gläubig, wenn der Glaube nichts Anderes ist, als ein Leben der Seele. Was ist, wird man sagen, die Lampe ohne das Oel? aber was ist das Oel ohne die Flamme? Sieht derjenige, welcher das Oel hat ohne die Flamme, besser, als derjenige, welcher weder das Oel noch die Flamme hat? Und kann der höchste Geber nicht auf Einmal das Oel geben und die Flamme heraussprühen lassen? Ich sehe also mehr, was euch vereinigt, als was euch trennt, und ich weise die Einen wie die Andern zum Vater der Geister alles Fleisches, damit Er, gerührt von eurer Noth, den Einen und den Andern gebe, was euch nöthig ist, den Einen die Erkenntniß seines Evangeliums und die christlichen Ueberzeugungen, den Andern jenes Leben des Geistes, welches allein die Ueberzeugungen der Vernunft in einen wahrhaften und wirksamen Glauben verwandelt. Da zum ersten Mal werdet ihr das Licht finden, d. h. die Freude und das Glück, denn in dem durch den Glauben umfaßten Jesus findet sich ein Reichthum von Trost, eine Fülle des Glückes, die der Zukunft wie der Vergangenheit genügt. Da werdet ihr, um Alles mit Einem Worte zu sagen, die Gewißheit geliebt zu sein und die Macht zu lieben empfangen. Was bedarf es mehr? Was gibt es darüber hinaus? Was kann derjenige noch wünschen, oder was wird derjenige umsonst wünschen, der geliebt wird, derjenige, der liebt? Welche Leere kann im Herzen und im Leben die innige Gemeinschaft, der ungestörte Verkehr mit dem himmlischen Vater noch lassen? Welche Finsterniß wird ein so glänzender und so reiner Tag nicht besiegen? Welcher Zweifel, welche Furcht, welche Reue, welche Begierde können ein Herz beherrschen, das Gott für sich hat, und welches, um es besser zu sagen, ihn besitzt und in sich trägt? Sagen, Gott habe ihn bis zur Liebe erhoben, ist damit nicht Alles gesagt? Die Liebe, welche stärker ist, als der Tod, ist stärker, als das ganze Weltall.
Zündet dieses Licht an, zündet es an, so lange es noch Tag ist. Wenn an der Neige des Tages die Dunkelheit in eure Wohnungen dringt, so verschafft ihr euch mittelst des Feuers einen künstlichen Tag; aber ihr wartet ja nicht, bis es ganz Nacht ist, weil ihr in der dicken Finsterniß nur mit großer Mühe fändet, was ihr bedürfet, um sie zu zerstreuen. Ein sehr passendes, aber noch schwaches Bild von dem, was die Klugheit von euch in Beziehung auf ein anderes Licht erheischt. Am hellen Tage, am Mittag, am Morgen muß dieses Licht angezündet werden. Im Vollglanze des äußern Glückes muß man sich auf die Stunden der Heimsuchung versehen. Jene Zeiten der Bewegung und der Unruhe sind wenig zu einer so großen Angelegenheit geeignet. Man zerarbeitet sich, man zerquält sich, man überläßt sich völlig seinem Schmerze; die Muße mangelt, der Geist hat keine Freiheit mehr: kaum fähig, der obschwebenden Noth abzuhelfen, ist er es noch viel weniger, sich Grundsätze zu machen und zur rechten Zeit seinem ganzen Leben eine neue Grundlage zu geben. Denn, meine Brüder, um nicht weniger als darum handelt es sich. Es ist ein Werk der Prüfung, innerer Beobachtung und tiefen Nachdenkens, daß man inmitten der heftigsten Erregungen unternehmen und vollenden, es sind die Wunder des Friedens, die man mitten unter den Schauern des Krieges vollbringen muß. Bedenket es wohl: plötzlich, und wenn die ganze Seele auf einer andern Seite beschäftigt ist, die große Wissenschaft des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe lernen! Alle seine Ueberzeugungen, alle seine Grundsätze, alle Gewohnheiten seines Geistes, alle Neigungen seines Gemüthes, mit Einem Worte, sein ganzes Wesen erneuern, wenn der gebieterische Schmerz alle unsere Gedanken in Anspruch nimmt! Wenn man uns sagen wird, ein Künstler habe die letzte Hand an ein mit höchster Sorgfalt zu behandelndes Werk gelegt, oder ein Gelehrter habe mit Erfolg mikroskopische Beobachtungen angestellt auf dem Verdeck eines Schiffes, dessen Masten von der Gewalt des Sturmes alle zerbrochen sind, und dessen untern Theil ein unter dem Wasser verborgenes Riff so eben aufgerissen hat - wir könnten nicht mehr erstaunt sein. Allerdings können jene großen Stürme des Lebens gesegnete Folgen haben; die Angst lehrt Vieles, und ohne sie - was wüßten wir? Aber ohne von allen Fällen zu sprechen, in denen wir fruchtlos leiden und in denen wir durch das Leiden selbst böser werden, bemerken wir bloß, daß es sich hier um die Hülfsmittel der Seele gegen den Schmerz, um den Trost handelt, den sie zur Stunde der Heimsuchung in sich zu finden bedarf. Wo ist dieser Trost, diese erfreuende Helle für denjenigen, welcher sein Licht nicht angezündet hat, während es Tag war? Wie viele Unglückliche sind in der Finsterniß der Traurigkeit umhergeirrt, haben sich allmälig dem Abgrunde, d. h. der Verzweiflung, genähert und sind hinuntergestürzt! Wie viele Andere haben, eingeschläfert durch dieselbe Finsterniß, - denn die Finsterniß schläfert ein - allen Muth verloren, haben aufgehört, für sich zu sorgen, und haben durch diese trostlose Nachlässigkeit ihr Unglück unwiderbringlich oder maßlos gemacht? Bei wie Vielen endlich hat nicht ein durch nichts gemilderter Schmerz das Gemüth verbittert, die Gefühle vergiftet, das Urtheil gefälscht, kurz das ganze Leben verdorben, nicht bloß für sie selbst, sondern auch für diejenigen, deren Glück ihnen anvertraut war! Nichts kann sie schwächen, Alles verstärkt vielmehr die Ermahnung unsers Herrn: lasset eure lichter brennen! das heißt: Die Nacht, wenn sie einfällt, finde eure Lichter angezündet!
In den Himmelsstrichen, in welchen wir leben, geht das Zwielicht der Dämmerung der Nacht voraus und kündigt sie an; man kann in dieser Zwischenzeit Lichter oder Lampen zu bereiten. Es gibt im Gegentheil Zonen, wo die Nacht, statt allmälig am Himmel emporzusteigen, ihn auf einmal überzieht und alle lebendigen Wesen in plötzliche Finsterniß begräbt. Mit dem Leben ist es wie mit diesen Gegenden, und das Unglück kommt im menschlichen Leben noch unvermutheter, als die Dunkelheit in den Ländern, von denen ich rede. Meist ist es ein Abend ohne Dämmerung. Man fällt aus dem hellen Glanze des Tages in die schwarze Traurigkeit der Nacht. Man leidet, ohne es vorhergesehen zu haben, ohne durch eine Abnahme des Glückes darauf vorbereitet worden zu sein: natürlich leidet man um so mehr. Da nichts den Fall gedämpft hat, so kommt man ganz zerquetscht und zerschmettert unten an. O der Bitterkeit, des Aufruhrs, des innern Sturmes, wenn die höchste Glückseligkeit und das tiefste Unglück das Gestern und das Heute sind! Welche Zauberworte werden demjenigen zugleich die Kraft und die Milde mittheilen, den gestern der Ruhm und heute die Schande umgab; und jenem Andern, der gestern noch der beneidenswertheste, heute der unglücklichste der Väter; jenem Manne, den gestern alle Hoffnungen berauschten und dem eine plötzliche und unheilbare Krankheit heute auf immer alle Bahnen der Zukunft schließt? Wird er heute lernen, was er gestern nicht wußte? Kann er getröstet werden, wenn er es nicht zum voraus war?
Wir haben also Recht zu sagen: Zündet eure Lichter an! Aber wenn der Geist Gottes selbst die Flamme unserer Lichter ist, kommt es uns zu, sie anzuzünden? Wer kann sie anzünden, als Gott allein? Dieser Einwurf ist schon durch seine Folgerungen widerlegt, denn er würde sich nach und nach auf alle unsere Pflichten erstrecken, und da es kein Können mehr gäbe, so gäbe es auch kein Sollen mehr. Unterscheiden wir nicht zwischen dem, was wir können, und dem, was wir nicht können; denn wenn Etwas über unsere Kräfte ist, so ist Alles über unsere Kräfte, und wenn Etwas in unserer Macht ist, so ist Alles in unserer Macht. Sagen wir frei und ohne Bedenken, daß der Mensch nichts kann und daß er Alles kann, nichts ohne Gott und Alles mit Gott. Die ganze Sittenlehre des Evangeliums beruht auf diesen beiden Grundlagen. Ohne Gott kann ich nicht der geringsten meiner Pflichten genügen, mit Gott bin ich aller, sogar der größten, fähig, selbst derjenigen, welche sie alle einschließt, ich meine der Pflicht, das Licht anzuzünden. Und darum ist Christus, der hätte sagen können: der Geist Gottes wird eure Lichter anzünden, weiter gegangen und hat gesagt: Zündet eure Lichter an. Indem er so redete, wußte er allem Anschein nach, daß wir sie anzünden können; wir dürfen ihm vorher wie nachher auf's Wort glauben; aber nachher wie vorher sagen wir mit dem heil. Paulus: „Ich habe das gethan; nicht aber ich, sondern Gottes Gnade, die mit mir ist.“ Das christliche Gemüth vereinigt unzertrennlich das Gefühl der Verantwortlichkeit und dasjenige der Abhängigkeit.
Wir sagen euch also ohne Bedenken: Zündet eure Lichter an! euch, deren Lichter noch nicht brennen, und, um sie anzuzünden, weisen wir euch an das durch euer Gewissen gedeutete Evangelium, an euer durch das Evangelium erleuchtete Gewissen. Ihr aber, die ihr es angezündet habt, habet ihr nichts zu thun? Seid ihr hinfort sicher vor Heimsuchungen? Habet ihr nicht im Gegentheil als Christen besondere Trübsale vorauszusehen? Oder denket ihr vielleicht, daß eure Lichter, einmal angezündet, von selbst brennen werden und nicht mehr erlöschen können? Dennoch steht geschrieben: „Löschet den Geist nicht aus.“ Eure Lichter können also erlöschen. Es steht geschrieben: „Feuret die Gabe Gottes, die in euch ist, immer mehr an“; ihr müßt also diese Flamme alle Tage unterhalten. Ihr müßt unaufhörlich Vorräthe des Glückes sammeln, auf die Tage des Unglücks, der Freude auf die Stunden der Traurigkeit. Ihr müßt im Grunde eurer Herzen den Glauben, die Hoffnung und die Liebe nähren.
Drei Mittel stehen euch dazu unter dem göttlichen Segen zu Gebote: die Betrachtung, das Gebet und die guten Werke. Könnte ich nicht hinzusetzen: „und diese drei sind Eins?“ Unter Betrachtung verstehe ich diejenige Christi. Es ist dies nicht eine Denkarbeit, obgleich das Denken von der Betrachtung unzertrennlich ist; nein, es ist ein einfacher, beharrlicher Blick auf Christum; ich sage nicht bloß auf seine Lehre, sondern auf Christum; ich sage nicht auf das Christenthum, sondern auf Christum; denn Christus, und nicht das Christenthum, ist unser Gegenstand, unser Gut, unser Leben. Christum betrachten, mit Christo leben, Christum zum Gesellschafter haben, zu Christo sich flüchten, sich von der Erinnerung an Ihn begleiten lassen, sich mit seiner Gegenwart einhüllen, auf Ihn sehen wie die treue Braut auf ihren Bräutigam, alle unsere Gedanken und alle unsere Absichten auf Ihn beziehen, mit Ihm unsern Geist und unser Gemüth erfüllen: dieses Mittel ist das erste, ja dieses Mittel ist Alles; denn es zieht alles Uebrige nach sich.
Beten; das heißt, nichts erwarten, als von Gott, und von Gott Alles erwarten; unsere Seele unaufhörlich offen halten vor Ihm; dem Vater, den Jesus Christus uns wieder geschenkt hat, unsere Bedürfnisse, unsere Befürchtungen, unsere Leiden darbringen; uns beständig in seine Hände übergeben; zum voraus Alles annehmen, was er zu geben für gut finden wird; im Gefühle unserer Schwachheit vor Ihm seufzen, unsere Sündenlast Ihm zu Füßen niederlegen; in seiner Gegenwart nach der Gnade eines neuen Herzens lechzen; uns unter die Strahlen seines Lichtes, unter den Thau seiner Gnade stellen; mit aller Demuth der Dürftigkeit um eine Zufluchtstätte unter seinem Dache, um ein Plätzchen an seinem Herde flehen; unter seiner Barmherzigkeit Schutz suchen, an seinem Herzen sich erwärmen: das ist die Gnade der Gnaden: kein Sturm, kein Ungewitter vermag das Licht desjenigen auszulöschen, der betet.
Und endlich handeln; überschwenglich sein an Werken der Gerechtigkeit und der Liebe; auf diese Weise sowohl unser Herz als unser Leben, wohin die Welt hartnäckig eindringen will, ohne Unterlaß ausfüllen; in diesem beständigen und heilbringenden Trachten nach dem Guten dem Bösen keinen Raum, seinen Augenblick, keine Gelegenheit lassen; euch so immer mehr mit Christo vereinigen, indem ihr Ihm ähnlich werdet; die Luft des Himmels zum voraus athmen; die reinen Freuden der Ewigkeit jetzt schon schmecken; die Wirklichkeit jener geistigen Ordnung, jenes für so viele Blicke unsichtbaren Reiches Gottes mit Händen greifen; in der Dunkelheit dieser Welt gewissermaßen im Schauen wandeln; mit Einem Worte, gehorchen, um zu erkennen, dienen, um zu lieben: das ist das dritte Mittel, welches euch vorgeschlagen wird: so lange ihr davon Gebrauch machen werdet, fürchtet nicht, daß euer Licht abnehme oder erlösche, daß der Trost euch zur Stunde der Trübsal fehle.
„Daran“, sagt der heil. Johannes, indem er von den Werken der Liebe spricht, „daran erkennet ihr, daß ihr aus der Wahrheit seid und könnet euer Herz vor Gott stillen.“
Werdet ihr nach und nach dahin kommen, an dem Leiden die ganze Kraft eines Segens zu finden? Warum nicht? Seit der Zeit, da der heil. Paulus zu den Kolossern sagte: „Ich freue mich in meinem Leide“, ist der Arm Gottes nicht verkürzt worden. Wenn jeder Christ die verschiedenen Prüfungen, denen er ausgesetzt ist, als die Ursache einer vollkommenen Freude betrachtet, so kann ihn die Gnade noch höher erheben, und ihn in den Stand setzen, Freude darüber zu empfinden. Aber ist es nicht schon viel, daß er weiß, was sie werth sind, und daß er aus freiem und aufrichtigem Antriebe Gott dafür preiset? Erwartet standhaft diese Gnade, o ihr, die ihr die Flamme eurer Lichter sorgfältig unterhalten habt. Ihr wisst schon lange, daß ihr geliebt seid; die Stunde der Trübsal aber wird euch lehren, wie sehr Gott euch liebt; denn für jene Stunde hat Gott die reichste Ausgießung seiner Gnade aufbehalten, und eben dafür hat er diese Stunde bereitet. Es wird ihm ein Leichtes sein glaubet es nur aus euern Tagen der Trauer Tage des strahlendsten Lichtes zu machen. Tausende haben es vor euch erfahren, und Tausende noch sind bereit, euch zu sagen, daß sie nie so sehr, wie in den Stunden der Angst, geschmeckt und gesehen haben, wie freundlich der Herr ist. Gerade die Unglücklichen sind dankbar. Wenn man sie hört, möchte man meinen, das Glück habe ihre Dankbarkeit eingeschläfert und das Unglück habe sie erweckt. Es gibt in der That eine geistliche, übernatürliche Freude, welche in ruhigen Tagen auf dem Grunde des christlichen Gemüthes ruht, aber welche wallt und überfließt, wenn die Trübsal kommt, und welche ihr Empfindlichstes und Rührendstes gerade für die Augenblick aufbewahrt, wo jede Freude unmöglich scheint. Diese Freude des Geistes vertreibt die Traurigkeit nicht aus der Natur; aber diese Traurigkeit löscht jene Freude nicht aus; sie bleiben neben einander bestehen, indem die Traurigkeit der Freude zur Gelegenheit und zur Nahrung dient, die Freude dem Uebermaß der Traurigkeit vorbeugt.
Es wäre für Gott ein Leichtes, Wunder zu verrichten, um eure Traurigkeit in Freude zu verwandeln. Wenn ihr in euerm Gethsemane (denn Jeder tritt an seinem Theil in diesen Garten, um, wie der Fürst der Gerechten, Blut zu schwitzen) in euerm Todeskampfe jenen Klageruf werdet ausgestoßen haben: Vater nimm diesen Kelch von mir! - so könnte der Vater euch Engel zu Hülfe schicken, wie er es bei unserm großmüthigen Stellvertreter that; aber Christus bedurfte dieser Hülfe, und wir Dank sei Ihm dafür bedürfen ihrer nicht. Die Engel, welche in jenen Trauerstunden kommen werden, mit einer theilnehmenden Hand unser sinkendes Haupt zu unterstützen und den Schweiß von unserer Stirne abzuwischen, sind unsichtbare Engel, die dann nicht zum ersten Male kommen, denn sie sind seit langer Zeit da und haben uns niemals verlassen. Diese unsichtbaren Engel sind der Glaube, die Hoffnung und die Liebe, wenn wir sie durch Betrachtung, durch Gebet und durch gute Werke bei uns zurückbehalten haben; oder vielmehr: derjenige, den wir bei uns zurückbehalten haben, ist Gott selbst, Gott, dessen Geist, wie Er selbst gesagt hat, auch Angst ist in allen unsern Aengsten.“ „Und ob wir schon wanderten im finstern Thal, fürchten wir kein Unglück; denn Gott ist bei uns; sein Stecken und Stab trösten uns.“ Ja, selbst in dieser Finsterniß, der schwärzesten aller Finsternisse, beim Herannahen des Todes, wirst Du selbst kommen, o mein Gott, dein armes Geschöpf zu trösten; Du wirst jene Schreckensgesichte, welche unheilverkündende Erscheinungen und die Erinnerung an unsere Sünden um uns her versammeln, von unserm Lager abwehren; und wenn es Dir in deiner Weisheit gefiele, uns ganz allein, und ohne unmittelbaren Trost, einen Theil des Weges in der Dunkelheit unsers unterirdischen Ganges zurücklegen zu lassen, so wäre es, um am Ende desselben den heiligen Tag der Erlösung um so reiner und glänzender leuchten zu lassen. Das strahlende Antlitz unsers Heilandes würde diese Finsterniß erleuchten; bald würden wir seinem sanften, seinem wohlthuenden Blicke begegnen, und von diesem Augenblick an, ermuthigt und entzückt, würden wir eine erhabene Freude in unserer Seele erwachen und durch unsere Schrecken, durch unsere Reue, vielleicht durch unsere Gewissensbisse hindurch, wachsen fühlen. Was können wir bei Ihm fürchten, und was kann uns gebrechen? Werden wir uns nicht überall, wo Er sein wird, wohl befinden? Können wir überall, wo Er nicht ist, vollkommenes Genüge haben? War die Hoffnung, die uns hienieden das Glück ersetzte, nicht die Hoffnung, Ihn zu besitzen? Und wenn es süß war, an diesem Orte der Verbannung mit Ihm zu leiden, wie wird es im Himmel sein, mit Ihn zu regieren? O Offenbarungen, O Herrlichkeit, O Wunder eines christlichen Todes, wie groß und entzückend seid ihr! Können wir euch je zu theuer bezahlen? Und ist es, um den Tod der Gerechten zu sterben, zu viel gethan, zum voraus und alle Tage uns selbst abzusterben, und unser Leben mit Christo tief in den Schooß Gottes zu verbergen? Herr, lehre uns dieses Sterben, damit wir des andern fähig werden! Nimm uns, Herr, uns selber, und gib uns Dir! Mache uns arm, damit wir reich werden! Sei Du unser einziger Schatz! Sei Du unser einziges Licht in den Tagen des Glückes, um unser Licht zu sein in den Tagen der Trauer und zur Stunde der letzten Abreise!