Tholuck, August - "So viele ihrer verloren gehen, die gehen verloren in der Zeit und Ewigkeit nicht durch Gottes, sondern durch ihren eigenen Willen"
Es wird euch nicht unbekannt sein, meine Andächtigen, dass mehrere ernste Christen in neuester Zeit sich bewogen gefühlt haben, das Band, welches die reformirte evangelische Kirche so eben mit der lutherischen nach einer dreihundertjährigen Trennung vereinigt hatte, auf's Neue zu zerreißen. Jenes heilige Mahl, das der Herr in der Nacht, da er verraten ward, gestiftet hatte, damit es alle äußerlich zu Einem Leib vereinige, welche der Glaube, dass der heilige Leib für sie gebrochen und das heilige Blut für sie vergossen, innerlich vereinigt hat, dieses selbige Mahl der Liebe hat auf's Neue den Anstoß zur Trennung gegeben. Es ist hier nicht meine Absicht, zu prüfen, welche Irrtümer bei dieser erneuten Trennung statt finden; ist doch auch jene Vereinigung bei so Vielen nicht aus dem rechten Geist des Glaubens gekommen! Nur davon will ich sprechen: Es gibt einen andern Unterschied zwischen Christen des lutherischen und calvinischen Bekenntnisses, welcher um vieles tiefer und wesentlicher in das sittlich-religiöse Leben des Menschen eingreift, als jener Unterschied, der in Betreff der Ansicht über die Gegenwart des Heilandes bei dem heiligen Mahl statt findet. Ich meine den Glauben, zu welchem der große und tiefe Geist Calvins und die Kirche dieses Reformators sich bekannt hat, an ein ewiges Verwerfungsurteil Gottes über den größten Teil der Menschheit - den Glauben, dass der größte Teil der Menschheit dem ewigen Verderben entgegengeht, weil der allmächtige gerechte Gott sie zu einem Beispiel aufstellen will seiner Gerechtigkeit, gleichwie er die, welche selig werden, aufstellt als ein Beispiel des Reichtums seiner Gnade. Ob wir dies glauben, oder ob wir an eine ausgestreckte Gnadenhand glauben, welche jeden zieht, der sie anfasst, das fühlt ihr gewiss alle, das ist ein wesentlicher Unterschied, der da tief und eigentümlich in's religiöse Leben eingreift. Indem ich nun am heutigen Tag hierüber sprechen will, lasst mich voranschicken, dass wahrscheinlich, und zwar möchte ich fast sagen leider! kaum Einer unter uns dürfte gefunden werden, der jenen Glauben in allen Stücken teile, auch unter denen kaum Einer, welche ursprünglich der reformirten Kirche angehören. Ich sage leider - und warum leider, wenn ich gegen diesen Glauben ein Zeugnis ablegen will? Darum, weil ihm, wie wir ihn bei der Mehrzahl seiner Bekenner finden, ein großer und hoher Ernst, eine tief im Staub anbetende Verehrung der Allmacht, der Gerechtigkeit und der Weisheit Gottes eigen zu sein pflegt, wie sie unseren Zeitgenossen im Ganzen durchaus fremd ist. Es fehlt ihnen das volle Bewusstsein der Verwerflichkeit der Sünde und der Unbeschränktheit des göttlichen Willens, das Bewusstsein, dass alles, was der Mensch ist, er aus Gnade ist; darum können sie nicht nur jenen Glauben nicht teilen, sie können ihn auch nicht einmal begreifen. So ist denn auch die Absicht dieser meiner Rede zunächst nicht die, jenen Glauben an eine unbedingte Erwählung, in der Gestalt, wie die reformirte Kirche ihn gelehrt hat, zu bekämpfen. O dass unsere Gemeinden jene reiche Glaubensfrüchte bringen möchten, wie sie in Frankreich, Holland und in der Schweiz gerade Diejenigen gebracht haben, die jenem Lehrbegriff am eifrigsten zugetan waren. Nein, meine Predigt gilt einer schwächlicheren und zugleich schlimmeren Irrlehre, welche sich aber hier und da den Schein der Verwandtschaft leiht mit jener ernsten Lehre der reformirten Gemeinde. Es ist die Leugnung der menschlichen Freiheit, verbunden mit dem Wahn, dass das endliche Ziel Aller dennoch das Himmelreich ist - der Wahn, dass zum Seligwerden nur Gottes und nicht der eigne Wille gehöre. Seht da einen Wahn, an dem in seiner vollen Ausbildung zwar auch nur eine kleinere Anzahl Anteil haben mag, der aber in irgend einem Maß, in gewissen Richtungen und Beziehungen einer großen Anzahl Menschen in unserer Zeit eigen ist. „Seine eigne Seligkeit zu schaffen mit Furcht und Zittern“ - wozu der Apostel auffordert - ei, das ist ja ein lästiges Geschäft, das überlässt man gern einem Andern. - Die Trägheit und der Fleischessinn stützen sich darum auf jenen Irrwahn. In allen andern Beziehungen sind sie rastlos tätig, damit Hausstand und Gewerbe, damit Staatswohl gedeihe, aber was das Schaffen der Seelen Seligkeit betrifft bei sich und bei Andern, da lassen sie von den Umständen sich treiben, wie der Strom den Leichnam treibt. - Darum sei das Thema meiner heutigen Predigt: So viele ihrer verloren gehen, die gehen verloren in der Zeit und Ewigkeit nicht durch Gottes, sondern durch ihren eigenen Willen.
Wir erwählen zum Text, an welchen wir diese unsere Betrachtung anknüpfen, den Ausruf Christi, Matth. 23,37: „Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten, und steinigst, die zu dir gesandt sind! wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt!“
Lasst zuerst die Umstände, unter denen dieses Wort vom Munde der Wahrheit gesprochen wurde, uns vergegenwärtigen. Lasst zweitens uns erwägen, was diesem Wort entgegenzustehen scheint. Lasst drittens uns betrachten, was es bekräftiget, und endlich: wozu es uns auffordert.
Der Sohn Gottes und der Menschen ist zum letzten Mal im Tempel; vor seinem Auge ziehen die Scharen heiliger Propheten und Schriftgelehrten vorüber, welche unter Kampf, Verfolgung und Tod das Bundesvolk haben hinführen wollen zu ihrem Bundesgott; er schaut in die naheliegende finstere Stunde hinein, wo der größte aller Gesandten und der letzte von ihnen als ein Opfer fallen soll. Er sieht es, wie alles gerechte Blut, das vergossen worden seit Jahrhunderten, samt dem heiligen Blut, welches er selbst daran ist, auf der Schädelstätte zu vergießen, über das Haupt seines Volkes kommt. Jammernd erhebt sich sein Geist und er bricht in die Worte aus: „Jerusalem, wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel, und ihr habt nicht gewollt!“ Wer erklärt mir nun den Schmerz seiner Seele, wenn es ein und derselbe Geist ist, jener, welcher die Propheten und den Sohn sandte in die verlorengehende Welt und jener, welcher - schrecklich zu sagen - den Gedanken ihres Mordes in die Seele der Mörder legte? Wer erklärt mir den Schmerz seiner Seele, wenn es ein und derselbige Geist war, welcher rief: „Vater, ich habe ihrer keinen verloren, ohne das verlorne Kind“ und welcher da in die Seele des Verräters fuhr, als er den Bissen empfangen? Und wolltet ihr ja Jesu Worten misstrauen, wenn er im Namen des ewigen Gottes euch zuruft: „ich habe gewollt, aber ihr habt nicht gewollt,“ wollt ihr denn auch seinen Tränen misstrauen? Wenn es dort heißt: „als er nahe hinzu kam, sah er die Stadt an und weinte über sie -“ Gemeinde Gottes, über wen flossen jene Tränen? Hat er geweint über seines himmlischen Vaters eigene Beschlüsse, er, der da sagt: ich und der Vater sind Eins? oder hat er vielmehr geweint, dass der, welcher von Ewigkeit war, in sein Eigentum gekommen ist, und die Seinigen ihn nicht aufgenommen haben? Abermals, den Worten und den Tränen unsers Jesus gegenüber, abermals rufe ich: so Viele ihrer verloren gehen, die gehen verloren in der Zeit und Ewigkeit, nicht durch Gottes, sondern durch ihren eigenen Willen!
Einem einzigen solcher Worte gegenüber, wie wir es in unserm Text lesen, sollte es freilich unmöglich scheinen, zu sagen: so Viele ihrer verloren gehen, die gehen durch Gottes Willen verloren. Und der Wahn, welcher anders meint, muss wohl starke Waffen haben, um einem solchen Wort zu begegnen; auch hat er sie. Seht, der Schrift eignes Wort führt er dir vor Augen, ihr Zeugnis, das sie von dem Gläubigen gibt und von dem Ungläubigen. Hat nicht das Wort der Wahrheit bezeugt, dass von dem ersten Anfang an das gesamte Werk des neuen Lebens im Menschen ein göttliches Werk ist? Dass es Gottes Geist ist, durch den alle gute Dinge geschehen, dass die wahrhaftig guten Werke nach der Schrift Früchte des Geistes sind, edle Pflanzen, auf des Geistes Boden gewachsen, dass der Heiland gerufen: ohne mich könnt ihr nichts tun, das ist noch nicht Alles - der Glaube selbst wird ein göttliches Werk genannt „aus Gnaden seid ihr selig worden durch den Glauben, und dasselbe nicht aus euch, Gottes Gabe ist es.“ Wiederum: „euch, die ihr aus Gottes Macht durch den Glauben bewahrt werdet zur Seligkeit.“ Kannst du mithin den Glauben nicht als dein eignes Werk in Anspruch nehmen, so denn vielleicht die Tränen deiner Buße? Aber wiederum schreibt Paulus: „Strafe die Widerspenstigen, ob ihnen Gott dermaleinst Buße gebe, die Wahrheit zu erkennen.“ Die heißen Tränen, die aus deinem Auge fließen in den Stunden, in denen du rufst: „an dir, Herr, an dir habe ich allein gesündigt“, es ist nicht dein eigner Geist, der sie dir auspresste, es ist der Geist des Herrn, unter dessen gewaltigem Schritt dein Herz erschüttert wurde, so dass aus deinem Auge die Träne drang. Ja, bis auf die leiseste Ahnung herab, in welcher du inne wurdest, dass du ohne Gott nicht leben könnest, geht das Walten seines Geistes: „Es kommt Niemand zu mir, es ziehe ihn denn der Vater.“ Was dich drängt, was dich treibt, jenes unbekannte Etwas, das dir nicht Ruhe lässt in der Welt, und dich zu deinem Erlöser treibt, auch das ist eine „gute Gabe,“ die „von oben herab, vom Vater des Lichts kommt.“ -
Und steht nicht auf der andern Seite geschrieben: „Darum hat sie auch Gott dahingegeben in ihres Herzens Gelüste,“ und: „Er erbarmt sich, wessen er will, und er verstockt, wen er will!“? Steht nicht geschrieben: „Ist nun unser Evangelium verdeckt, so ist es in denen verdeckt, die verloren werden, bei welchen der Gott dieser Welt die ungläubigen Sinne verblendet hat, dass sie nicht sehen das helle Licht des Evangelii von der Klarheit Christi, welcher ist das Ebenbild Gottes.“? So will es denn also scheinen, als ob das Schriftwort selber den entsetzlichen Satz uns bestätige, „so viele ihrer verloren gehen, die gehen durch Gottes, nicht durch ihren eigenen Willen verloren.“ Und nimm zu diesen Worten der Schrift noch das Bekenntnis hinzu, was Gläubige und Ungläubige hier ablegen. Ist nicht die große Masse der Christen unserer Zeit in Johannesjünger verwandelt, die, ob sie gleich auf den heiligen Geist getauft sind, sagen müssen: „wir wissen auch nicht, ob ein Heiliger Geist sei“ (Apg. 19,2.) Du sprichst von einem Zuge des Vaters, und sie fragen dich: „willst auch du ein Schwärmer werden?“ Du fragst dringender: „aber lieben Brüder, habt ihr denn nicht wirklich dann und wann eine Stimme vernommen, die tief aus der Brust heraufquoll, und euch von einer andern Welt predigte, als der sichtbaren?“ und sie sehen dich lächelnd an, und versichern dich kühl, dass sie deiner Worte Sinn nicht verstehen. Sind dir nicht Menschen in deinem Leben vorgekommen, so sicher, so selbstzufrieden, so stumpf und tot, dass du hast sagen müssen: „wenn hier nicht der Geist kommt, wie Joh. 3. sagt, gleich dem Sturmwind, man weiß nicht woher, so ist an keine neue Geburt zu denken.“ Ja, ich weiß es, auch so manchen Besseren von euch ist das bis jetzt unglaublich, dass das Heiligtum des christlichen Glaubens Jedermanns Ding sein solle. - Andrerseits lass dir nur von denjenigen erzählen, welche die Gnade haben zu glauben und im Glauben selig zu sein, tönt es nicht aus ihrer aller Munde einstimmig: „aus Gnade sind wir selig worden durch den Glauben, dasselbige nicht aus uns, Gottes Gabe ist es?“ Lass dir nur einmal erzählen von ihnen, wie sie zu ihrem Glauben gekommen sind! Ist's nicht einstimmig ihr Bekenntnis: „Trug er nicht nach mir Verlangen, ich wär' ihn nimmermehr suchen gegangen, wer ist wie du?“ Der Eine wird dir erzählen, wie er Jahre lang alle anderen Bücher las, nur nicht das Buch der Bücher, und in einer ernsten Stunde, wo ihm einmal bange um's Herz worden war, las er es, und in dem Acker, über den sein Fuß unzählige Mal leichtsinnig gewandelt war, hub er den Schatz. Da werden sie dir erzählen, wie ein ganz unscheinbarer Zufall sie zu einer salbungsvollen Predigt oder zum persönlichen Umgang geführt mit einem lebendigen Zeugen der Wahrheit aus Christo. Ja, werden sie sagen, von außen und von innen war es meines guten Vaters Hand. Das Schäflein hatte sich weit in die Höhe der Gebirge verirrt auf unwegsame Stege, wie hätte es allein den Weg wieder zurückgefunden, wenn nicht der liebe gute Hirt ihm nachgegangen wäre in die Wüsten und auf die Höhen der Berge, bis er es fand und auf seinen Schultern heimtrug?
Wohlan denn, lasst uns nun auch für unser Thema Zeugen vernehmen, deren Wort nicht minder gewaltig ist. Als der erste Zeuge dafür trete auf das Gewissen. Es gibt ein Wort in aller Menschen Sprache, ein Wort, vor dem Alle erbleichen, Jüngling und Mädchen, Mann und Frau, Greis und Greisin, König und Bettler, der Weltweise, wenn er einsam über die Rätsel der Menschenbrust sinnt, und der fröhliche Schlemmer bei der Tafelrunde: das Wort heißt Schuld! Kannst du das Wort nicht wegwischen aus deinem Herzen, so steht als der Folgesatz dieses kleinen Wörtleins eben so unauslöschlich das Wort in deiner Brust: „So viele ihrer verloren gehen, die gehen nicht durch Gottes, sondern durch ihren eigenen Willen verloren.“ Zwar jene unserer Brüder, welche im Lehrbegriff der reformirten Kirche stehen, trifft solche Rede nicht. Wenn sie gleich sagen: es ist die Unwiderstehlichkeit göttlicher Gnade allein, die den Sünder herumbringt vom Verderben, so bekennen sie dennoch, dass dieses Verderben ein selbstverschuldetes sei, und bekennen sich mit uns zu dem Glauben, dass ohne menschliche Schuld es keinen göttlichen Beschluss der Verwerfung geben könne. Aber euch, euch gilt diese Rede, die ihr aus keinem andern Grund Gottes Allmacht und Allwissenheit so groß macht, als damit ihr die Trägheit eures eignen Fleisches zum Gebet und zum Glauben entschuldigen mögt, und die kühle Gleichgültigkeit rechtfertigen mögt, mit der ihr am Markt steht, die Hände in den Schoß gelegt, während tausende von menschlichen Seelen, wie ihr auch nach eurem eignen Glauben bekennen müsst, wenigstens für diese Weltzeit und für noch manche zukünftige dem Verderben entgegen gehen. - Ihr alle, die ihr hier versammelt seid, keiner von euch kann es leugnen, es ist eine schreckliche Wahrheit für euch, das Wort Schuld. Kann einer von euch nicht mit der Gemeinde der gläubigen Christen an den Ort hintreten, wo der Christ, wenn irgend sonst, seine Schuld empfindet, vor das Kreuz Christi, und rufen:
Wer hat dich so zerschlagen Mein Heil, und dich mit Plagen So übel zugericht'? Ich, ich und meine Sünden, Die sich wie Körnlein finden Des Sandes an dem Meer.
Nun dann, mit der Stimme, die nicht im Namen der christlichen Kirche redet, wird er wenigstens bekennen:
Das Leben ist der Güter höchstes nicht, Der Übel größtes aber ist die Schuld.
Ihr Zeugen, die ihr bekanntet, nie vernommen zu haben die Stimme des Vaters, und ihr, die ihr bekanntet, Alles, was ihr seid, aus Gottes Gnade geworden zu sein, tretet noch einmal als Zeugen auf: Hast du nie in deinem Leben solche Stunden gekannt, wo dich zugleich die Stimme von unten rief und zugleich die Stimme von oben, wo du gewiss warst, und mit klarster Überzeugung wusstest: jetzt steht es bei mir, welcher von beiden Gewalten ich folgen will, wo du nach unten sankst und - kaum warst du gesunken, da brach das Flammenmeer des Gewissens über deinem Haupt zusammen, und verzweiflungsvoll schlug die Hand die eigne Brust. Wer, wer von euch ist der Frevler gewesen, der in dem Augenblick, wo er aus dem Paradies der Unschuld fiel, statt gegen seine eigene Brust, gegen den Himmel die Hand erhoben hätte, und doch - ist's dort oben unter den Sternen unwiderruflich verzeichnet gewesen, dass du in dieser Stunde fallen musstest, dort gegen die Sterne hin musst du verzweiflungsvoll die Hand erheben, und nicht gegen die eigne Brust. Zählst du aber auch nur einen einzigen Augenblick in deinem Leben, wo das Wort Schuld für dich eine Wahrheit war, nun so gibt es eine Schuld, so gibt es ein gerechtes Gericht Gottes, und es ist wahr: „So viele ihrer verloren gehen, nicht durch Gottes, sondern durch ihren eignen Willen gehen sie verloren.“
Und was dir deine innere Stimme bezeugt, tönt nicht dasselbige auch aus dem geoffenbarten Wort Gottes dir entgegen? Hört, hört den Jammerruf eines klagenden Erlösers: „Jerusalem, Jerusalem! wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel und ihr habt nicht gewollt.“ Seht, seht seine Tränen! Und wäre dies das einzige Zeugnis, laut, lauter denn jede andere Stimme, würde es mir zurufen: „Soviel ihrer verloren gehen, nicht durch Gottes, sondern durch ihren eigenen Willen gehen sie verloren.“ Es ist aber nicht das einzige. Gemeinde der Christen! wenn die Schrift von einem Weltrichter predigt, der da gerecht richtet ohne Ansehen der Person, von den aufgeschlagenen Büchern, nach denen die Menschen sollen gerichtet werden, von einem Wurm, der nicht stirbt; was sagt dies anders, als: es gibt eine Schuld, es gibt eine Schuld der Menschen. Wenn die Schrift von einem Zorn Gottes predigt, der „über alles gottlose Wesen und Ungerechtigkeit der Menschen geoffenbart wird“ und wenn ein Bote Gottes ausruft: „Es ist erschrecklich, in die Hände des lebendigen Gottes zu fallen!“ was predigen solche Stimmen anders, als: es gibt eine Schuld der Menschen! Ja, wenn der, welcher ohne Schuld war, in seinen letzten Stunden kämpfen musste bis zum blutigen Todesschweiß und am aufgerichteten Kreuz aus dem blassen Mund seines gesenkten Hauptes ruft: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen!“ - Christen, was predigt Gethsemane, was predigt Golgatha anders, als: Es gibt eine Schuld der Menschen!? Verlangst du noch eine deutlichere Rede? Wohlan, vernimmst du den Auferstehungsruf an eine ganze verlorene Welt: „Gott aber hat nicht Gefallen am Tod des Sünders, sondern dass er sich bekehre und lebe!“ Vernimmst du die gute freudige Botschaft vom Himmel her: „Solches ist angenehm vor Gott unserm Heiland, welcher will, dass allen Menschen geholfen werde, und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen, denn es ist Ein Gott und Ein Mittler zwischen Gott und dem Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus, der sich selbst gegeben hat für Alle zur Erlösung, dass solches zu seiner Zeit gepredigt würde.“ Und abermal: „Der Herr hat Geduld mit uns, und will nicht, dass jemand verloren würde, sondern dass jedermann sich zur Buße kehre.“ Hast du sie vernommen die köstlichen Worte: von Allen, Allen will Er, dass sie zur Buße kommen, von Allen, Allen will Er, dass ihnen geholfen werde. „Kehrt euch zu mir, so werdet ihr selig aller Welt Ende,“ also ruft sein Prophet in die unbußfertige Welt, und sein Ruf klang nach im Neuen Bund, wo sein Apostel ruft: „Naht euch zu mir, so nahe ich mich zu euch.“
Gesetzt nun, Mitbruder in Christo, du fändest keinen Weg, auf dem du diese zwei verschiedenen Gattungen von Stellen der Heiligen Schrift könntest zusammenbringen, also gewaltig sind die Zeugnisse von beiden Seiten, dass du demnach vor beiden dein Haupt beugen müsstest und bekennen: Ob ich's auch nicht zu vereinen vermag, doch bleibt es Wahrheit: „Aus Gnaden wird man selig, es ist Gottes Gabe,“ und wiederum: „So viele ihrer verloren gehen, nicht durch Gottes, sondern durch ihren eigenen Willen gehen sie verloren.“ Dass die Wahrheit auf beiden Seiten liegen müsse, siehe, dich davon noch unwidersprechlicher zu überzeugen, hat der Apostel die beiden Seiten in Einen Satz verbunden, wenn er ruft: „Schafft eure Seligkeit mit Furcht und Zittern, denn Gott ist es, der da wirkt das Wollen und Vollbringen.“ Welch ein wunderbares denn? Wer ihn anheben hört: „Schafft eure Seligkeit,“ wer erwartet nicht: „denn ihr seid es, von denen alles Gute allein ausgeht“? Nein, „denn, schreibt der Apostel, Gott ist es, der da wirkt das Wollen und Vollbringen.“ Ihr seht, und ob es über unsre Fassungskraft hinausginge, der Apostel hat das Mittelglied gehabt, das beide Sätze zu Einer Wahrheit verbindet. Begegnet dir denn aber etwa, was du hier erfährst, bloß im Buch der Heiligen Schrift? Bruder, wie unzählige Mal geschieht es, dass du in dem andern Buch göttlicher Offenbarung, im Buch der Natur, zwei Blätter aufschlägst mit ganz entgegengesetzter und, wie es scheinen will, unvereinbarer Kunde, und für beide ist doch das Zeugnis gewiss, und du darfst und kannst es nicht bezweifeln, da du ja noch die Blätter nicht alle gelesen hast, die in der Mitte liegen. „Wir wandeln im Glauben, sagt der Apostel, und noch nicht im Schauen.“ Indes warum sollte denn auch jenes zwiefache Zeugnis sich nicht vereinigen lassen? Allerdings ist es Gottes Werk, wenn du gläubig und selig bist, der leiseste Seufzer des Verlangens ist eine gute Gabe, die von oben herabkommt, vom Vater alles Lichts. Erfährst du es nicht, dass es Augenblicke gibt, wo du Reuetränen weinen möchtest, und kannst nicht, wo du lieben möchtest, und kannst nicht? Demnach hast du es ja erfahren, dass es noch nicht genug ist, wenn Gott in dir spricht, du musst auch hören. Hast du nicht Augenblicke erlebt, wo du gleich dem Eisen zwischen zwei Magneten angezogen wurdest, von der Gewalt von oben und von der Gewalt von unten, und wo du es inne wurdest, dass von dir es abhinge, welche du zurückstießt? Nun ist es freilich wahr, dass auch das ein Werk göttlicher Gnade ist, dass du solches Vermögen besitzt; es ist dir zu eigen gegeben in der Schöpfung, und ist kein größeres und kein geringeres Rätsel der Vernunft, als diese deine Erschaffung selbst: allein nun, nachdem du wunderbar erschaffen bist zu einem Ebenbild des freiesten aller Wesen, Gottes, ist es auch kein Traum mehr, dass du es besitzt; du hast es als ein Haushalter, der Rechnung tun muss von diesem Haushalt. Ob aber vielleicht einer demütigen, innigliebenden Seele unter euch bange würde, dass ihr ja doch nun ein eignes Verdienst zufalle, und sie also nicht selig werde allein durch Gnade - demütige Seele, wenn der Blinde, der am Weg saß und rief: „Sohn David, erbarme dich meiner,“ sich nicht weigerte, als die Hand sich auf sein Auge legte, und ihm das Gesicht wiedergab, sage, würdest du in menschlicher Sprache sprechen, es sei sein Verdienst, dass er sieht? Meinst du wohl, dass er selbst nachher umher gegangen ist, und sich gerühmt hat, dass er durch sein Verdienst sehend geworden sei? Das Evangelium vielmehr erzählt uns von allen solchen Geheilten: „Da gingen sie hinaus und priesen laut die große Macht, die Gott den Menschen gegeben hat.“-
Eben so, meine Andächtigen, ist es auf der andern Seite allerdings Wahrheit, dass, wie die Schrift sagt, Gott den Menschen Preis gibt der Verstockung. Wollt ihr es leugnen? Ihr seht es ja vor euren eignen Augen geschehen, seht, wie Dieser im milden Sonnenschein von oben, und Jener, wenn der Sturm hereinbricht, sein Herz hart werden lässt. Es ist also Tatsache, dass allerdings Gott Umstände herbeiführt, darunter das menschliche Herz härter wird; doch, was ist dies anders, als ein gerechtes Strafgericht Gottes über die Herzenshärtigkeit der Unbußfertigen, welche, sobald sie ihr Herz öffnen wollen, auch solche Gerichte selbst wieder zu Wegen der Liebe umwandeln mögen? Allerdings magst du daher in einem gewissen Sinne sagen: „So viele ihrer verloren gehen, die gehen durch Gottes Willen verloren,“ denn es ist das gerechte Gericht, was er über den beharrlichen Unbußfertigen übt; dennoch bleibt es in jedem Sinn wahr: „sie gehen durch den eignen Willen verloren.“
Wozu sie auffordert, diese Wahrheit, das soll ich euch noch verkünden? O, ginge das zu Jedermanns Herzen von euch, die ihr hier versammelt seid - wenige Jahre, und ihr würdet allzumal reich gesegnete Bäume im Garten Gottes sein, voll von jeglicher Frucht des Glaubens, der Gerechtigkeit, der Geduld, der Barmherzigkeit und aller guten Werke. Zuvörderst du, der du dich einen redlichen Zweifler nennst an dem Evangelium Christi und seiner Apostel: Ist es Wahrheit: „So viele ihrer verloren gehen, die gehen nicht durch Gottes, sondern durch ihren eigenen Willen verloren,“ so ist es auch Wahrheit: „Nicht durch Gottes Willen, sondern durch den eigenen Willen bliebst du bisher ausgeschlossen vom Land des Glaubens“, so kann auch der Unglaube nicht aus deinem Verstand kommen, wie du dich gern bereden möchtest, in deinem Herzen, in deinem Willen muss er seinen Grund haben. Dasselbige nun spricht der Erlöser aus, wenn er sagt: „Das ist das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht; darum kamen sie nicht an das Licht.“ Woher, frage ich, leitet Christus den Unglauben an seine Person ab? Aus der Liebe zur Finsternis. Meinst du es aber wirklich so ernst mit deinem Zweifel, nun wohlan, hast du denn schon jene Probe mit dem Glauben gemacht, die Christus angibt: „So jemand will den Willen des tun, der mich gesandt hat, der wird inne werden, ob meine Lehre von Gott sei.“? Hast du mit allem Ernst täglich die Schrift durchforscht, um Jesum kennen zu lernen, und mit Eifer danach gerungen, zu wandeln in seinen Fußtapfen? Zweifler, hast du diese erste aller Proben noch nicht mit dem Evangelium gemacht, so darfst du es ja auch nicht leugnen, es ist dein eigner Wille, durch den du ausgeschlossen geblieben bist, durch den du verloren gehst! -
Doch noch vielmehr als denen, die draußen stehen, möchte ich euch an's Herz legen, die ihr bereits drinnen zu stehen angefangen habt, wozu jene Wahrheit auffordert. Dass es die Schuld des eignen Willens sei, welche von dem Glauben und dem Reich Christi überhaupt ausschließt, das gebt ihr wohl zu, dass es aber die Schuld des eignen Willens sei, durch welche ein jeder von euch noch bis zu dieser Stunde so matt, so lau, so arm an Früchten des Geistes und an Werken der Barmherzigkeit ist, darüber, das weiß ich, unterhalten viele bei sich einen Zweifel. Wohl ist es ja nun auch wahr, nur wenn uns mit der Buße Kraft dargereicht wird, können wir, was wir können, und nicht in jedem Augenblick wird alle Kraft uns dargereicht. Aber ihr Brüder und Schwestern, seitdem der Heiland auf Erden wandelte, und sein Reich stiftete, ist der Himmel, wie er selbst sagt, aufgetan, und die Engel Gottes steigen herauf und hernieder, seitdem geht ein Strom aller Gnaden in die Herzen aller Gläubigen, und keiner ist, der da nicht hätte, und ein Einziges ist nötig, dass du nämlich recht habest, so sollst du mehr empfangen, denn: „wer da hat, dem wird gegeben.“ Christliche Brüder, sind wir Menschen, die an des Apostels Wort glauben: „Ich vermag Alles durch den, der mich mächtig macht,“ o wie so herrliche Glaubensfrüchte müsste der tragen, der daran nimmer zweifelt! Nun, Gemeinde Jesu, so nimm denn auch dieses Wort zu Herzen, und lass es in der Tat und Wahrheit Frucht bringen'.