Thiersch, Heinrich Wilhelm Josias - Das Gebet(Anhang)

Thiersch, Heinrich Wilhelm Josias - Das Gebet(Anhang)

Doch gibt uns der Herr in Seinem Wort noch weitere Anleitung zum Gebet, und die Diener Christi sind berufen, die christliche Jugend und die Gemeinde über das Gebetsleben des Christen so eingehend wie möglich zu unterrichten.

„Wenn du betest, so gehe in dein Kämmerlein und schließ die Tür zu, und bete zu deinem Vater im Verborgenen; und dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird dir's vergelten öffentlich.“ Mat 6, 6.

Dieses Gebet im Verborgenen, das niemand vernimmt als der Vater im Himmel, dieses „Gespräch des Herzens mit Gott“, hat unser göttlicher Erlöser geübt während Seines Wandels und Leidens auf Erden. Solches Seine Jünger zu lehren, war und ist Sein Anliegen.

Denn wie ohne den Atem das leibliche Leben des Menschen nicht bestehen kann, so auch sein geistliches Leben nicht ohne die Übung des stillen Gebetes. Dieses ist ganz eigentlich der Atemzug des neuen Menschen; wo das Gebet unterbleibt und erstickt wird, da erstirbt auch das innere Leben.

Mit stillem Gebet soll jeder Christ seinen Tag beginnen und beschließen. Dies sei das erste nach dem Aufstehen, das letzte ehe er sich niederlegt. So wird unsere Arbeit, so wird unsere Ruhe geheiligt. Diese Lebensregel sei uns unverletzlich. Denn wer ohne Gebet seinen Tag anfängt, der wandelt auch ohne Gott und verliert einen Tag der unersetzlichen Gnadenzeit. Wer ohne Gebet sich niederlegt, der schläft ohne göttlichen Schutz und in Satans Gewalt. Jeder Aufschub, jede Vernachlässigung ist vom Übel und bringt Schaden für die Seele mit sich. Ist man doch sorgsam darauf bedacht, dem sterblichen Leib zur rechten Zeit die irdische Nahrung zukommen zu lassen; wie darf man die unsterbliche Seele verwahrlosen durch Versäumnis des Morgen - oder Abendgebetes. Wie man die Zeit einhält, so tut man wohl, sich auch an eine bestimmte Form zu binden und jedesmal mit dem Vaterunser zu schließen.

Indem der Herr sagt: „Geh in dein Kämmerlein“ - gibt Er uns Seine Willensmeinung zu verstehen, dass jeder Seiner Jünger einen Ort haben soll, wohin er sich zurückziehen könne zu ungestörtem Gebet. Wir bedürfen der Stille, um uns zu sammeln, und jeder sollte nach einer geeigneten Zufluchtsstätte sich umsehen. Wer sie zu Hause nicht finden kann, dem sollte früh und spät das Haus Gottes offen stehen, damit er dort sein Herz vor Gott ausschütten könne, wie die fromme Hanna tat. 1 Sam 1, 10-13. Auch sollte der Christ sich nicht scheuen, wenn er mit anderen in einem Raum übernachten muss, seine Knie zu beugen und sein stilles Gebet zu verrichten.

Doch die äußeren Hindernisse des Gebetslebens sind nicht so schwer zu besiegen wie die inneren, und dieser Hindernisse, die durch unsere eigene Schuld oder durch die Arglist des Feindes uns in den Weg geworfen werden, sind viel.

Denn alles, was unser Gewissen beschwert, was den Frieden Gottes stört oder den Heiligen Geist in uns betrübt, ist zugleich ein Hemmnis des Gebets. An der Unlust zum Gebet werden wir inne, dass etwas in unserm Innern nicht richtig sei. Wenn jemand leiblich krank ist, so fragt man vor allein: woher kommt es? Ebenso muss auf dem geistlichen Gebiet, wenn sich jemand unfähig zum Beten fühlt, die Krankheitsursache entdeckt und weggeschafft werden. Dies geschieht, indem wir uns erforschen und, wo wir etwas Unrechtes entdecken, uns schuldig geben, uns unwürdig bekennen, und zum Thron der Gnade flüchten. Die Unreinheit des Herzens, die Lieblosigkeit, der Geiz und die ängstliche Sorge um das Zeitliche sind schwere Hindernisse. Darum ist es eben des Christen Lebensaufgabe, über sein Herz und seine Lippen zu wachen, damit er nicht den Zugang zu Gott verliere. Wenn auf ein schönes neues Feierkleid ein Flecken kommt, wie eilt man da, ihn auszuwaschen! So soll der Christ, wenn je sein Taufgewand einen Flecken bekommen hat, sei es auch nur durch innerliche Versündigung, eilen und nicht ruhen, bis er der Reinigung durch Christi Blut versichert ist. Für uns selbst haben wir, so oft wir uns Gott nahen, auch jene Bitte nötig, welche uns der Herr gnadenvoll gestattet hat: „Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern.“

Und wer sollte nicht in die Worte des Psalmisten einstimmen:

„Herr, wer kann merken, wie oft er fehle! Verzeihe mir auch die verborgenen Fehler.“ Psalm 19, 13.

Doch es müssen nicht nur jene groben Steine des Anstoßes entfernt werden. Gesetzt, wir haben uns keinen besonderen Fehler vorzuwerfen, so haben wir doch die natürliche Trägheit und Zerstreutheit unseres Herzens zu bekämpfen.

Es ist ein arger Selbstbetrug, wenn man zu der für das Gebet bestimmten Zeit sagt: ich bin jetzt nicht dazu aufgelegt; es hat so doch keine Art, ich will lieber die rechte Stimmung abwarten. Aber dadurch kommt die rechte Stimmung nicht; es wird dir später wahrscheinlich nur noch schwerer werden, sie zu gewinnen und dein Herz zur Andacht zu erwärmen. Es ist wahr, das unruhige Gedankenspiel ist eine arge Plage; es zu mäßigen, den zerstreuten Geist zu sammeln und auf das Göttliche zu richten, und darauf gerichtet zu erhalten, das kostet oft viel Mühe.

Die Andacht ist eine Wirkung der göttlichen Gnade, nicht ein Erzeugnis der menschlichen Natur. Darum lässt sie sich nicht erkünsteln, sie muss uns von oben gegeben werden. Sie lässt sich auch nicht erzwingen auf dem Weg der Forderung und des Gesetzes. Wenn wir uns noch so ernst vorhalten: Du sollst andächtig sein im Gebet, so ist es doch damit allein noch nicht erreicht. Vergessen wir es nicht: der Geist der Kindschaft ist der Geist des Gebets. Er ist es, der uns beten lehrt: Abba, lieber Vater - und ohne Ihn ist unsre Anbetung, mag sie noch so feierlich sein, nicht rechter Art. Pflegen wir den kindlichen Sinn, fassen wir das völlige Vertrauen zu Gott, wozu Er durch das Evangelium uns auffordert und ermächtigt, so wird unser kaltes Herz zur Andacht erwärmt. Der Geist der Anbetung ist der Geist der Dankbarkeit. Ach, wie oft ertappt sich der Christ darüber, dass er bei seinem stillen Gebet die Danksagung vergessen hat! Wenn diese unterbleibt, so ist unser Gebet überhaupt nicht rechter Art. Nicht umsonst ermahnt uns der Apostel so dringend: „Haltet an am Gebet und wachet in demselbigen mit Danksagung.“ Kol 4, 1.

„Sorget nichts, sondern in allen Dingen lasset eure Bitte im Gebet und Flehen mit Danksagung vor Gott kundwerden.“ Phil 4, 6.

„Betet ohne Unterlass; seid dankbar in allen Dingen“ (in allen Lagen), „denn das ist der Wille Gottes in Christus Jesus an euch.“ 1 Thess 5, 17. 18.

So genau und unzertrennlich soll nach dem Worte Gottes beides verbunden sein, das Bitten und das Danken.

Wenn der Apostel sagt: „Betet ohne Unterlass“, so ist leicht einzusehen, dass er damit nicht ein fortwährendes mündliches Beten verlangt, denn unsre Aufgabe in diesem Leben ist beten und arbeiten, und auch die Ruhe und Erholung, die Ausspannung sowohl des Geistes als des Körpers, hat ihr Recht. Was der Apostel meint, und was die Kinder Gottes erreichen können, ist ein Gebetsleben ohne Unterbrechung. Das heißt: auch während der Arbeit und der Erholung soll das Gewissen rein gehalten und das Herz nicht beschwert werden; die Richtung des Gemüts auf Gott soll bleiben, so dass die Rückkehr zum Gebet ohne Schwierigkeit vor sich geht.

Die göttliche Unterweisung lässt uns nicht ohne Hilfsmittel zur Erfüllung einer so heiligen Aufgabe wie die Pflege des Gebetslebens. Die Weisheit von oben zeigt uns den Weg, was wir zu vermeiden und woran wir uns aufzurichten haben.

„So seid nun mäßig und nüchtern zum Gebet.“ 1 Petr 4, 8.

Jede Überladung mit Speise, jedes Übermaß im Trinken beschwert den Geist, zieht ihn ins Fleisch herab und legt ihn lahm für die Erhebung zu Gott. Wie denn der Herr selbst sagt:

„Hütet euch, dass eure Herzen nicht beschwert werden mit Fressen und Saufen und mit Sorgen der Nahrung, und komme dieser Tag schnell über euch.“ Luk 21, 34.

Der Apostel sagt: „Saufet euch nicht voll Weins, daraus ein unordentlich Wesen folgt, sondern werdet voll Geistes.“ Eph 5, 18.

Die Nasiräer des alten Bundes enthielten sich infolge ihres Gelübdes gänzlich von Wein und starkem Getränk. Allerdings ist die völlige Enthaltung der Nasiräer (die auch im alten Bunde etwas Freiwilliges war) uns Christen nicht auferlegt. Wohl aber sollen wir als Gottverlobte, die Christi Geist haben, uns vor jeder Aufregung durch sinnliche Genüsse hüten, damit der Geist des Gebets in uns Sein Werk ungestört haben könne.

Darum gehört zur Förderung des Gebetslebens das Fasten. Es ist befremdend, wie einem Teil der Christen dieses eine unbekannte Sache geworden ist. Zwar ein Gebot ist uns im Neuen Testament nicht gegeben; aber eine Verheißung hören wir aus dem Munde des Herrn, und diese sollte mehr anfeuern als eine gesetzliche Vorschrift. Denn der Herr spricht: „Wenn du fastest, so salbe dein Haupt und wasche dein Angesicht, auf dass du nicht scheinst vor den Leuten mit deinem Fasten, sondern vor deinem Vater, der verborgen ist; und dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird dir's vergelten öffentlich.“ Mat 6, 17. 18.

Diese Belohnung besteht in einem reicheren Maß der Andacht, in erhöhter Kraft des Gebets, woraus dann andere geistliche Segnungen fließen.

Es gibt ein strenges Fasten, das aus tiefer Traurigkeit entspringt, an Tagen der Buße und der Demütigung, wie die Israeliten es übten am großen Versöhnungstag. Dieses ist uns am Karfreitag und am Samstag vor Pfingsten empfohlen. Daneben gibt es noch ein anderes, ein gelinderes und nicht minder heilsames Fasten, welches in Abbruch und Schmälerung der gewohnten Genüsse besteht, welches als Übung in der Selbstbeherrschung dient, welches durch fortgesetzte Gewohnheit den Sieg über die fleischlichen Lüste erleichtert, welches dadurch schweren Versuchungen und Sündenfällen vorbeugt, welches zu anhaltendem herzinnigem und feurigem Gebet mächtige Hilfe leistet. Die fortgesetzte Selbstbeschränkung in sinnlichen und, setzen wir hinzu, in geistigen Genüssen kommt dem Gebet und den Wirkungen des Heiligen Geistes zustatten. Dies ist die christliche Askese; hier ist den Christen eine Aufgabe gestellt, an der wir lebenslänglich zu lernen haben.

Es ist notwendig, noch vor einer Unmäßigkeit zu warnen, welche dem Gebet und dem geistlichen Leben schädlich ist. Darauf deuten Worte der Schrift, die den Eheleuten gesagt sind: „Ihr Männer, wohnt bei euren Weibern mit Vernunft“ (mit Selbstbeherrschung und mit Schonung) „und gebt dem weiblichen als dem schwächeren Werkzeuge seine Ehre als auch Miterben der Gnade des Lebens“ (behandelt sie nicht als Tiere, nicht als willenlose Werkzeuge zur Ausübung wilder Lust, nicht als Sklavinnen, sondern als geheiligte Wesen), „auf dass euer Gebet nicht verhindert werde.“ 1 Petr 3, 7.

„Entziehe sich nicht eines dem andern, es sei denn aus beider Einwilligung, auf dass ihr zum Fasten und Beten Muße habt.“ 1 Kor 7, 5.

Dies sind Vorbedingungen für die Pflege und das Gedeihen des Gebetslebens. Hierzu kommen nun die positiven Förderungsmittel, welche uns zu täglichem Gebrauch zu Gebote stehen.

Das köstlichste ist das Wort Gottes, das unerschöpflich reiche, das des Herzens Grund bewegt, durch welches der Heilige Geist bald strafend, bald tröstend zu uns spricht. Ein geeigneter Abschnitt der Bibel, mit Aufmerksamkeit gelesen und betrachtet, bereitet die Seele zum Gebet. Unmittelbare Anleitung dazu, wie wir unser Herz vor Gott ausschütten sollen, ist uns gegeben in den Psalmen. Sie stammen von dem Geiste Christi, der in den Propheten der alten Zeit war und voraus verkündigte die für Christus bestimmten Leiden und die darauf folgenden Herrlichkeiten. Die Psalmen sind das Gebetbuch der Kirche und sie dienen dem einzelnen Gläubigen zur Förderung der Andacht.

„Hier siehst du allen Heiligen ins Herz.“ (Luther).

Die Bußpsalmen (Ps 6. 32. 51. 69. 130. 143), die Psalmen der Sehnsucht nach Gott (Ps 25. 42. 43. 62. 119), die Lob - und Dankpsalmen (Ps 92. 103. 104. 146 u. a.) sind der vollkommene Ausdruck auch unserer inneren Erlebnisse, wenn wir anders unter der Leitung des guten Geistes stehen; nachgebetet oder gesungen entzünden sie die entsprechenden heiligen Regungen. Ihnen nahe stehen an Segenskraft die Hymnen und geistlichen lieblichen Lieder, die in der Kirche entstanden sind; was wäre geeigneter, das Herz zur Andacht zu erwärmen, als die Passionslieder, die Pfingstlieder, die Abendmahlslieder! Die alten Gebetbücher von Arndt und Stark sind nicht gering zu achten. Es gibt Zeiten, wo sie zur Nahrung des inneren Lebens dienen. Doch sind sie nur als Hinüberleitung zu betrachten zu jenem Gebet, das unter der Einwirkung des Heiligen Geistes frisch aus dem Herzen quillt.

Es ist noch ein Hilfsmittel der Andacht zu nennen, jetzt wenig beachtet und wohl selten benützt, aber unseren frommen Vorfahren wohl bekannt und in ihrer Erfahrung bewährt; es ist der Katechismus. Fühlst du dich arm und schwach zur Zeit, da du dein Morgen - und Abendgebet tun solltest, hast du schlaflose Stunden des Nachts, möchtest du dein Herz zu Gott erheben und es gelingt dir nicht, was ist zu raten? Sprich langsam und mit Bedacht die heiligen zehn Gebote oder das Glaubensbekenntnis. Daran suche zu knüpfen deine Beichte, deine Danksagung, deine Fürbitten, und der Geist Gottes wird dir zu Hilfe kommen; Er wird das Gebet in dir lebendig machen, Er wird selbst das Wort nehmen, und wenn Er dich beten lehrt, so folge Ihm; Sein Gebet wird köstlicher sein als alles, was Menschen dich lehren können.

Die Bewunderung der Größe und Güte Gottes und das kindliche Vertrauen zu Ihm durch Jesus, das sind die zwei Flügel, auf denen die christliche Seele zum Gebet sich aufschwingt. Es gibt ein Gebet im Heiligen Geist. Dieses zu erfahren, dieses zu üben ist jedes Kind Gottes berufen. Dies Gebet erwacht insbesondere in den Stunden tiefer Leiden. Da geschieht, was der Apostel sagt: „Der Geist vertritt uns aufs Beste mit unaussprechlichem Seufzern.“ Da kann es geschehen, dass der Heilige Geist, in welchem wir rufen: Abba, lieber Vater, in neuen Zungen, in Worten, die das Menschenverständnis übersteigen, unsere Anliegen vor Gott bringt und uns in die selige, geheimnisvolle Gemeinschaft mit Gott einführt.

Die Hausandacht oder das Gebet der Familie, das seit uralter Zeit und bei den frommen Israeliten geübt wurde, ist durch unsern Herrn Jesus Christus nicht aufgehoben, sondern bestätigt. Das Passahmahl war die schönste und feierlichste Ausführung des Hausgottesdienstes, und diesen hat der Herr geheiligt, indem Er als Knabe und Jüngling daran teilnahm, und indem Er als Mann im Familienkreise Seiner Jünger selbst den Vorsitz führte und die Passahgebete sprach. So soll nun der christliche Hausvater in der Mitte der Seinigen und in ihrem Namen Gebet darbringen, wie der Apostel sagt: „Die Männer sollen beten an allen Orten und aufheben heilige Hände, ohne Zorn und Zweifel.“ 1 Tim 2, 8.

Es gibt ein Priestertum, welches schon in der Zeit der Patriarchen der Hausvater verwaltete, indem er wie Abraham, wie Hiob Opfer und Gebet für die Seinigen darbrachte. Dieses ist nie erloschen; es besteht, wiewohl unterschieden von dem Priesteramt der christlichen Kirche, in jeder christlichen Haushaltung fort. Recht und Pflicht, Würde und Bürde dieses Priestertums kommt dem Haupte des Hauses zu. Es ist ein heiliger und lieblicher Beruf; wohl dem Manne, der ihn erkennt und mit dem Beistand des Herrn erfüllt!

Daniel lebte im Heidenlande und wusste von dem bekannten Verbot, das gegen seinen Gottesdienst ausgegangen war. Er ließ sich dadurch nicht einschüchtern.

„Er ging hinauf in sein Haus (er hatte aber an seinem Sommerhause offene Fenster gegen Jerusalem); und er fiel des Tages dreimal auf seine Knie, betete, lobte und dankte seinem Gott, wie er denn vorhin zu tun pflegte.“ Daniel 6, 10.

Er tat dies, wie es scheint, umgeben von seinen Hausgenossen. So soll der christliche Hausvater mit den Seinen das Morgengebet, das Tischgebet und das Abendgebet halten. Er selbst soll das Gebet sprechen, nicht seiner Frau oder einem Kinde es überlassen. Weil, wie der Apostel sagt, die Kreatur Gottes geheiligt wird durch das Wort Gottes und Gebet (1 Tim 4, 5), weil wir ermahnt werden:

„Lasset das Wort Christi unter euch reichlich wohnen in aller Weisheit“ (Kol 3, 16),

so soll der Hausvater vor dem Morgen - und Abendgebet mit den Seinigen einen mit Weisheit ausgewählten Abschnitt aus dem Worte Gottes lesen. Wohl die allermeisten, doch nicht alle Kapitel der Bibel eignen sich dazu.

Sein Gebet soll nicht seine geheimen persönlichen Anliegen aussprechen, auch nicht umfassend wie das Gebet der Gemeinde sein, sondern die Anliegen der Familie, in welche alle Anwesenden einstimmen können, vor Gott bringen. Am Abend wird die Demütigung, die Bitte um Vergebung und Reinigung vorwalten, am Morgen die Danksagung, doch weder das eine noch das andere ausschließlich. Jedesmal wird er den Schluss machen mit dem Gebet des Herrn und dem Segensspruch. Kann dem Gebet oder der Lesung ein lieblicher geistlicher Gesang vorangehen, desto besser. So erfüllen wir in geistlicher Weise Hiobs Vorbild, der seine Kinder auf dem Herzen trug, der seine Verantwortlichkeit für sie fühlte. Er versammelte sie, „heiligte sie und machte sich des Morgens frühe auf und opferte Brandopfer nach ihrer aller Zahl. Also tat Hiob alle Tage.“ Hiob 1, 5.

Auch keines der abwesenden Glieder der Familie werde vergessen.

An diesem Hausgottesdienst nehmen nicht nur die Frau und die Kinder teil, auch die Hausangestellten werden zur Teilnahme, zwar nicht genötigt, aber eingeladen, und die Hausgeschäfte werden so geordnet, dass auch die Hausangestellten Zeit hierfür finden.

Es gibt geschriebene und gedruckte Gebete für den Hausgottesdienst, die nicht zu tadeln sind. Doch ist ihre Anwendung nicht das Vollkommene, nach dem wir streben. Sie sind gleichsam Krücken für den, der nicht auf eigenen Füßen stehen kann. Jeder christliche Hausvater sollte danach trachten, dass er dieser Hilfsmittel nicht mehr bedürfe. Er nehme zu an freudigem Vertrauen zu Gott, an Verständnis seiner Aufgabe, an Weihe und Andacht, und wenn er aus dem Herzen betet und also die Bitten und Danksagungen seiner Familie in lebendige und tiefempfundene Worte fasst, so ist es um so köstlicher und segensreicher. So sind ja auch die Gebetsversammlungen einer Gemeinde dazu bestimmt, dass sich in den Männern des Laienstandes die Gabe des Gebetes entfalte. Mit diesen Gebetsstunden hat die Familienandacht eine nähere Verwandtschaft als mit dem liturgischen Gottesdienst der Kirche.

Dem Willen des Herrn entspricht endlich auch die dritte Weise des Gebets: Der gemeinsame feierliche Kultus der Gemeinde unter der Leitung des von Ihm eingesetzten geistlichen Amtes. Da gewinnt die Anbetung Gottes „im Geiste und in der Wahrheit“, von welcher der Herr prophetisch geredet hat (Joh 4, 24), ihre vollkommenste Gestalt. Da erscheint das höhere geistliche Gegenbild des mosaischen Kultus, der ein „Schatten der zukünftigen Güter“ war. Heb 8,5; 10,1.

Hiervon ist an einem andern Ort zu reden; an dieser Stelle des Katechismus werde nur darauf hingewiesen, in welchem Sinn und Geist der Einzelne an dem kirchlichen Gottesdienst teilnehmen soll. Denn daran ist das Meiste gelegen. Nicht die Gebete, die Gesänge und heiligen Handlungen an sich sind das, was Gott verlangt, sondern die gläubigen und heiligen Seelen, die sich zu diesem Kultus vereinigen. Der Herr sagt bedeutungsvoll: „denn der Herr will solche haben, die Ihn also anbeten“ (Joh 4, 23), um die Anbeter ist es Ihm mehr zu tun als um die Anbetung.

Glücklich sind die Christen, welche teilnehmen dürfen an einem rechtmäßigen, mit der Heiligen Schrift übereinstimmenden liturgischen Gottesdienst, unter der Leitung von wahren „Geistlichen“, d. h. von Dienern Christi, welche Christi Geist haben. Gottesfürchtige, die unter der Verkümmerung des öffentlichen Gottesdienstes darben, kennen die Sehnsucht nach einer wahren Anbetung Gottes; den vollen Segen derselben kennen nur, die ihn erfahren.

Sollen nun, die dieses Vorrecht genießen, auch des Segens teilhaftig sein, so ist die rechte Vorbereitung des Herzens unerlässlich. Der christliche Gottesdienst ist für solche bestimmt, die wirklich mit Gott versöhnt sind. Das heilige Abendmahl ist für Gereinigte, die nach dem Geiste wandeln. Wer darf also dem trüglichen Wahn sich hingeben, als wäre, wenn man in reichem Maße Zutritt hat zu den Gottesdiensten und Sakramenten, das verborgene Gebet des Einzelnen im Kämmerlein weniger nötig? Es ist um so nötiger, damit unser Herzenszustand der heiligen Feier, an der wir teilnehmen, entspreche. Denn was ist die Folge, wenn unsere Gesinnung nicht im Einklang steht mit den Gebeten und Handlungen, die im Heiligtum stattfinden? Wenn man in das Sündenbekenntnis einstimmt ohne Verabscheuung der Sünde, wenn man zu dem Gebet der Hingebung Amen sagt ohne Hingabe des Herzens an Gott? Wir verfallen damit in Heuchelei, und diese ist das Schlimmste, in das ein Christ geraten kann. Auf unwürdigen Genuss des heiligen Abendmahls folgen Rückschritte im christlichen Leben und schwere Züchtigungen Gottes.

Einst musste der Herr klagen: „Dies Volk naht sich Mir mit seinen Lippen, aber ihr Herz ist ferne von Mir. Vergeblich dienen sie Mir.“ Jes 29, 13.

Dies war der elende Zustand, in welchem der Herr, als Er in Sein Eigentum kam, die Mehrheit des Volkes Israel fand. Dies ist das Unheil, welches in die christliche Kirche auch da, wo die schönsten alten Anordnungen und Feierlichkeiten bestehen, eingeschlichen ist. Vor diesem Schaden der Seelen können wir uns selbst und andere nicht genug warnen.

Beten und zugleich sündigen ist frevelhaft. Besser steht es um den Weltmenschen, der im Bewusstsein seiner Unwürdigkeit dem Heiligtum fernbleibt. Mitbeten ohne ein kindliches Vertrauen zu Gott, ohne ruhiges Gewissen, ohne gesammelten Sinn, ist entweder eine leblose Form oder eine vergebliche Selbstqual. Alles ist daran gelegen, dass wir dem Thron der Gnade nahen mit „wahrhaftigem Herzen und völligem Glauben“. (Heb 10, 22.)

Darüber muss ein jeder wachen, dies ist die innere Bereitschaft, die er mitbringen soll. Wem sie nicht gelingt, der kann noch Hilfe finden, wenn er sie bei einem treuen Seelsorger sucht.

Auf ein freudiges Eintreten folgt dann wie von selbst eine gesegnete Teilnahme an dem ganzen Gang des heiligen Dienstes.

Die Gebete der Heiligen fließen gleichsam zusammen in der Wolke des Weihrauchs, welche von der Erde zum Himmel aufsteigt; Christus, der Herr ist es, der an der Spitze Seines Volkes steht, die Gebete aller Gläubigen aufnimmt, sie durch Sein Verdienst vollkommen macht und dem Vater darbringt. Offb 8, 3. 4. Von diesem himmlischen Dienst ist der Gottesdienst auf Erden ein Abbild, der sichtbare Kultus schließt sich an den unsichtbaren an. So gewährt er auch unsern Privatgebeten einen Halt. Können wir in den heiligen Stunden nicht anwesend sein, so ist es wohltuend für unser Herz, fördernd für unsere Andacht, wenn wir im Geist uns anschließen. Im stillen stimmen wir ein in die Demütigung, trösten uns der Vergebung und des Segens, senden unser Seufzen empor für alle Leidenden, bitten um Segen für alle Ordnungen Gottes, sprechen ein Wort des Dankes und gehen mit ein in die Bitte um die Vollendung. Zu einer solchen Mitfeier des Morgen- und Abenddienstes ist ein nach Gott verlangendes Gemüt befähigt. Auch mitten im Geschäft und auf dem Wege kann man mit einigen stillen Seufzern das Herz zu Gott erheben. So darf auch der vereinzelte Gläubige gleichsam ein Körnlein Weihrauch mit einlegen in die goldenen Schalen des kirchlichen Gottesdienstes.

Haben wir, wie es nicht anders sein kann, draußen etwas von den Leiden und den Sünden der Mitmenschen wahrgenommen, so ist es recht, diese ernsten Eindrücke mitzubringen, einen Inhalt in die Gebete, welche da vorkommen, zu legen, und jene Erfahrungen in liebevolle Fürbitten zu verwandeln. Auch ist es eine Liebespflicht, die jedem Gemeindeglied obliegt, den Diener, welcher die Predigt zu halten hat, im Geist durch ein stilles Gebet zu unterstützen. Wir kommen zum Hause Gottes, nicht nur um etwas für uns hinzunehmen, sondern auch um etwas zur Ehre Gottes beizutragen.

Was ist der wahre kirchliche Gottesdienst anderes als eine Entfaltung des Gebetes, das der Herr mit wenig Worten Seine Jünger gelehrt hat? Das Vaterunser ist der Höhepunkt unserer Gebete, und es fasst alles zusammen, was das Herz der Christen bewegt. Von jener Unterweisung ausgehend hat der Geist Christi, der der Geist des Gebetes ist, dem christlichen Kultus diese Gestalt gegeben in den reichen und mannigfaltigen Formen, die derselbe schon im Altertum gewonnen hat.

Wie die einzelnen Bitten des Vaterunsers eben so viel Verheißungen sind, so ist auch das Gebet des Herrn zugleich eine Weissagung. Die Erfüllung kommt. Der Name Gottes wird geheiligt werden, das Reich der Himmel wird erscheinen, der Wille Gottes wird geschehen auf Erden, wie er im Himmel geschieht. Die Erlösung der Kinder Gottes von allem Bösen naht. Das Reich Gottes in seiner Vollendung wird die Antwort sein auf das aus dem Herzen der Kinder Gottes aller Zeiten zum Himmel aufgestiegene Vaterunser.

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