Thiersch, Heinrich Wilhelm Josias - Die Anrede: "Vater unser, der Du bist im Himmel."

Aus den Geboten Gottes erkennen wir die Notwendigkeit, in der wir uns befinden, Seine Gnade im Gebet zu erflehen. Der Glaube an Gott, der uns geliebt und sich uns in Seinem Sohne geoffenbart hat, erwärmt unsere Herzen und schließt sie auf, so dass wir Gott als Vater anrufen können. Hierzu hat uns der Herr Jesus Christus ermächtigt, indem Er zu Seinen Jüngern sprach: „Ihr sollt also beten.“

Wir nennen das Vaterunser das Gebet des Herrn, nicht nur weil Er es uns vorgeschrieben hat, sondern weil Er es uns vorgebetet hat. Es ist Sein Gebet, hervorgegangen aus Seinem Herzen, der Inbegriff dessen, was Er selbst im verborgenen Umgang mit Seinem Vater gebetet hat. Dort im Allerheiligsten ist es entstanden, von dort aus hat es uns der Herr mitgeteilt. Dies ergibt sich aus dem heiligen Evangelium, da gesagt ist:

„Es begab sich, da Er war an einem Ort und betete. Und da Er aufgehört hatte, sprach einer Seiner Jünger zu Ihm: Herr lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger lehrte. Er aber sprach zu ihnen: Wenn ihr betet, so sprecht: Unser Vater im Himmel usw.“ (Luk 11,1-4.)

Johannes der Täufer teilte das, was sein Herz erfüllte und bewegte, seinen Schülern mit; so tat auch der Herr Jesus.

Wer außer Ihm durfte zu dem allmächtigen Gott sagen: Vater - im vollen Sinne des Wortes, mit kindlicher Zuversicht! Gott ist der Vater unseres Herrn Jesu Christi und „Niemand kennt den Sohn denn nur der Vater, und Niemand kennt den Vater denn nur der Sohn, und wem Ihn der Sohn will offenbaren.“ Mat. 11,27.

Und nun nimmt Er Seine Jünger, die an Ihn glauben und ihn lieben, zu sich, und erlaubt ihnen, dass sie mit Ihm zu Gott nahen und mit Ihm sprechen: Abba, Vater! Denn „welche Ihn aufnahmen, denen gab Er Macht, Gottes Kinder zu werden, denen, die an Seinen Namen glauben.“ Joh 1, 12. „Sehet, welch' eine Liebe hat uns der Vater erzeigt, dass wir Gottes Kinder sollen heißen!“ 1 Joh 3, 1.

Es ist das Gebet der Kinder Gottes, das wir hier lernen. Es ist das Gebet, das der Wiedergeborene nach Empfang der heiligen Taufe sprechen darf.

Es ist wahr, auch der Heide kann beten; aber er betet im besten Falle zu dem unbekannten Gott. Die Fähigkeit ist noch da, die Überreste der Uroffenbarung und die Wirkungen der zuvorkommenden göttlichen Gnade machen es ihm möglich, in der Not Gott anzurufen und dem Ewigen für Seine Wohltaten zu danken. Aber was ist solches Beten im Vergleich mit dem Gebete der Kinder Gottes? Es ist wie ein Fünklein gehalten gegen das helle Licht der Sonne.

Im alten Bund war der Geist des Gebets mächtig. Die Gebete in den Psalmen und Propheten sind von Gott eingegeben, denn der Geist Christi war in den Männern Gottes und gab ihnen mehr auszusprechen, als sie selber verstanden. In der christlichen Gemeinde leben ihre Gebete fort, und wenn sie die Psalmen sich aneignet, so versteht sie dieselben nach Christi Sinn, und bringt sie in diesem Sinn vor Gott

Das höchste und vollkommenste Gebet bleibt aber dieses, das wir von dem geliebten Sohn unmittelbar empfangen haben. Es ist das Gebet des Kindes, das die Unmündigen lernen und auf Gott gefällige Weise darbringen können. Es ist das Gebet der vollkommenen Gerechten, dessen Tiefe niemand ergründen kann und das auch im Reiche der Himmel noch forttönen wird.

Wir beten in Jesu Namen, wie Er uns angewiesen hat. „Was ihr den Vater bitten werdet in Meinem Namen, das will ich tun.“ Joh 14,13.14.

Was bedeutet dies?

Wir berufen uns auf Ihn, auf Sein Gebot, Seine tröstliche Verheißung, Sein teures Verdienst, auf Ihn, der allein würdig ist vor dem Vater zu erscheinen und mit Ihm zu reden. Wir wollen beten in Jesu Sinn, in Unterwerfung unter Gottes Gebote, in Beugung unter Gottes Willen. Doch ist mit dem allen die Bedeutung des Gebets „Im Namen Jesu“ noch nicht erschöpft. Die Jünger konnten schon damals, da Er auf Erden wandelte, in diesem Sinne beten, und doch sagte Er ihnen: „Bisher habt ihr nichts gebeten in Meinem Namen.“ Joh 16, 24.

Was fehlte ihnen noch? Sie standen noch nicht in der mystischen Einheit mit Ihm, der um unserer Sünde willen dahingegeben und um unserer Gerechtigkeit willen auferweckt ist. Sie waren noch nicht wiedergeboren und mit dem Heiligen Geiste begabt. Der Herr konnte noch nicht zu ihnen sagen: „Ihr in Mir und Ich in euch.“ Sie waren noch nicht mit Ihm lebendig gemacht und mit Ihm in das himmlische Wesen versetzt. Eph 2,6.

Dies geschah erst, nachdem Er vollendet war; es geschieht durch die Taufe und die Innewohnung des Heiligen Geistes. Nun erst stehen wir in der vollen Einheit mit Ihm; und in dieser Einheit beten, das heißt wahrlich im Namen Jesu beten. Seit Er durch die Himmel gegangen und in das Allerheiligste eingetreten ist, waltet Er Seines Amtes als Hoherpriester nach der Weise Melchisedek. Nun bringt Er Seine Fürbitte im Himmel dar, und an solches Sein Gebet dürfen sich Gottes Kinder, wiewohl sie dem Leibe nach noch auf Erden sind, anschließen. So dürfen sie mit Ihm und gleich Ihm sprechen: Abba, Vater! Denn Er hat uns gesagt: „Er selbst, der Vater, hat euch lieb,“ und uns bezeugt, dass uns der Vater liebt, gleichwie Er Ihn liebt. Joh 16,27; 17,23.26.

Dies Gebet geschieht im Heiligen Geist. Verstand und guter Wille des Menschen reicht hierzu nicht aus. Es muss uns von oben gegeben werden, und der es uns lehrt, ist der Geist des Vaters und des Sohnes. „Der Geist hilft unserer Schwachheit auf, denn wir wissen nicht, was wir beten sollen, wie sich's gebühret; sondern der Geist selbst vertritt uns aufs Beste mit unaussprechlichen Seufzen. Der aber die Herzen erforschet, weiß, was des Geistes Sinn sei; denn Er vertritt die Heiligen nach dem, was Gott gefällt.“ Röm 8,26,27.

Es gibt Augenblicke, wo in dem Herzen des betenden Christen der Geist Gottes selbst das Wort nimmt und in einer Weise für uns und mit uns bittet, die unser Verständnis übersteigt. 1 Kor 14, 15. Es gibt geheimnisvolle geistliche Erfahrungen in dem Gebetsleben der Kinder Gottes; Erfahrungen, von denen wir ein Wörtlein vernehmen aus den Liedern der wahrhaft geistlichen Dichter.

„Du bist ein Geist, der lehret, wie man recht beten soll; Dein Beten wird erhöret, Dein Singen klinget wohl, Es steigt zum Himmel an, es steigt und lässt nicht ab, bis Der geholfen habe, Der allen helfen kann.“

„Und wenn an meinem Orte
sich Furcht und Schwachheit findt,
so seufzt und spricht Er Worte,
die unaussprechlich sind
mir zwar und meinem Munde,
Gott aber wohl bewusst,
der an des Herzens Grunde
ersieht Seine Lust.“

Dies ist das Gebet „im Geist und in der Wahrheit“ , wovon der Herr mit der Samariterin gesprochen hat. Wie armselig werden Seine Worte meist ausgelegt, als bedeuteten sie etwa so viel wie: mit dem rechten Verständnis und in Aufrichtigkeit. Gewiss wird dies verlangt, aber die Worte sagen weit mehr als das: im Heiligen Geist und in Wirklichkeit, in voller Kraft, so dass das Gebet durch die Wolken dringt und Gottes Segen herabholt; das Gebet steigt empor, und das Erbarmen Gottes steigt herab (ascendit oratio, descendit Dei miseratio. S. Augustinus.)

Die den Herrn lieben, richten Gebete an Jesum. Dies steht nicht im Widerspruch mit der Anweisung, die Er selbst gegeben hat. Als Er gen Himmel gefahren war, da beteten die Jünger Ihn an. Es war das Kennzeichen der ersten Christen, dass sie den Namen des Herrn Jesus anriefen. Dadurch unterschied man sie von den Juden. So haben auch wir das selige Recht, Gebete an den Sohn Gottes zu richten. Dies ist uns allezeit erlaubt bei unserem Gebet im Kämmerlein. Dies Gebet hat seine rechte Stelle auch im kirchlichen Gottesdienst bei den heiligen Handlungen, wo der Sohn Gottes besonders hervortritt, beim heiligen Abendmahl, bei der Konfirmation, bei der Ordination. Auch gibt es feierliche Augenblicke, wo es sich geziemt, dass die Kirche in Gesang und Gebet den Heiligen Geist anredet. Doch im Ganzen soll im kirchlichen und häuslichen Gottesdienst diese Weise, die uns der Herr im Vaterunser angegeben hat, das Gebet zum Vater, vorwalten.

Es muss beides, das Gebet zum Vater und das Gebet zum Sohne mit erleuchtetem Verständnis und im rechten Sinne geschehen. Wenn wir sprechen: Vater unser - so ehren wir damit den Sohn, durch welchen wir zum Vater kommen. Wenn wir beten: 0 Herr Jesus - so ehren wir den Vater im Sohne. Denn allezeit gelten die Worte des Herrn: „Wer mich gesehen hat, der hat den Vater gesehen. Glaubest du nicht, dass ich im Vater bin und der Vater in mir ist?“ Joh 14, 9. 10.

„Ich und der Vater sind Eins.“ Joh 10, 30.

Unwissenheit und schwere Verirrung ist es, wenn jemand meint, man könne zum Vater beten anders als durch den Sohn, oder man dürfe nur den Vater anbeten und nicht den Sohn. Irrtum ist es, wenn man meint, der Sohn habe uns lieber als der Vater, wenn man ausschließlich den Heiland im Gebet anredet, weil man sich nicht getraut oder sich abgewöhnt hat, zum Vater zu beten.

Unser Vater - so hat der Herr uns vorgebetet. Es liegt darin eine Unterweisung zur Liebe und Einigkeit. Es ist bedeutungsvoll, dass im ganzen Gebet des Herrn die Worte: mir, mich und mein nicht vorkommen, sondern nur uns und unser. Es hat also der Herr selbst im Gebet sich nicht von uns abgesondert, nicht für sich allein gebeten, sondern mit uns armen Menschen gemeinsame Sache gemacht. Er scheut sich nicht, Seine Gläubigen Seine Brüder zu nennen, und in Seinem Gebet zum Vater nimmt Er uns mit und schließt uns mit ein. Welche Lehre für uns, die wir so selbstsüchtig und engherzig sind, und auch im Gebet so viel an uns und so wenig an andere denken! Der Herr hat uns ein gemeinsames Gebet gelehrt, und wer es im Stillen und Verborgenen darbringt, soll es doch tun in der Gemeinschaft der Heiligen und im Mitgefühl mit der ganzen leidenden Menschheit. Das Vaterunser ist Fürbitte, und die Fürbitte ist Erweisung der Liebe. Wo die Fürbitte fehlt, da ist auch die Liebe nicht, und ohne die Liebe kann kein Gebet Gott gefallen. Darum gilt hier das Wort: Einer für Alle und Alle für Einen.

„Der Du bist in den Himmeln.“

Der Herr selbst erhob, als Er das hohepriesterliche Gebet sprach, Seine Augen gen Himmel, und hier lehrt Er uns Auge und Herz zum Himmel erheben, weg von dem Irdischen und Nichtigen, hoch über alles Vergängliche, zu dem, der Himmel und Erde geschaffen hat, der in ewiger Herrlichkeit thront, den alles himmlische Heer anbetet und vor dem alle Kreatur sich in den Staub beugen muss.

Es sind diese Worte eine Anerkennung der Majestät unseres Gottes, ein Ausdruck der Ehrfurcht.

„Indem wir hinblicken auf Deine göttliche Herrlichkeit, verabscheuen wir uns selbst.“

Wir mahnen damit uns selbst, dass wir aller Heuchelei und aller Oberflächlichkeit entsagen müssen. Wir dürfen uns nicht erfrechen, anders zu nahen als mit wahrhaftigem Herzen. Denn: „wo ich Unrechtes vorhätte in meinem Herzen, würde der Herr nicht hören.“ Psalm 66, 18. „Wer sein Ohr abwendet, zu hören das Gesetz, des Gebet ist ein Gräuel.“ Spr 28, 9. „Sintemal ihr den als Vater anruft, der ohne Ansehen der Person richtet nach eines jeglichen Werk, so führet euren Wandel, solange ihr hier wallet, mit Furcht.“ 1 Petrus 1, 17.

So beugend für uns, aber ebenso erhebend, ist diese Anrede, die uns der Herr in den Mund gelegt hat. Ihn, den aller Himmel Himmel nicht zu fassen vermögen, dürfen wir Vater nennen und als Seine Kinder mit Ihm reden. Herrliches Zeugnis von der Christenwürde! Seliger Stand der Kinder Gottes! Denn ist unser Vater im Himmel, so sind auch wir himmlisch. Vom Himmel stammt dies neue Leben und dieser Geist, in dem wir beten. Der Himmel steht uns offen, seitdem Jesus als unser Vorläufer in denselben eingegangen ist und dort vor dem Angesicht Gottes für uns erscheint. Im Himmel ist unsere wahre Heimat, dorthin sind wir berufen, dort werden wir die Stätte finden, die uns Jesus bereitet hat.

Wir merken auf die sieben Bitten, die wir vorbringen dürfen, und wir bekommen eine heilsame Lehre. Denn die ersten drei Bitten zielen allein auf die geistlichen und himmlischen Güter; erst in der vierten und dann in der siebenten Bitte sind auch irdische Anliegen mit inbegriffen. So wird uns ins Herz geschrieben und eingeprägt, was der Herr gesagt hat:

„Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach Seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles“ (was uns für dies irdische Dasein notwendig und unentbehrlich ist) „zugefügt werden“. Mat 6, 33.

Wir folgen dem Beispiel des Jünglings Salomo, der nicht um Reichtum, um langes Leben, um Sieg über seine Feinde bat, sondern um die Weisheit von oben, damit er seinen hohen, von Gott verliehenen Beruf erfüllen könne; sie wurde ihm gegeben, und das andere dazu geschenkt. 1 Kön 3, 5-15.

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