Thiersch, Heinrich Wilhelm Josias - Die Gleichnisse Jesu Christi - Das Gleichnis vom verlornen Sohn. Lk 15, 11-32
11 Und er sprach: Ein Mensch hatte zwei Söhne. 12 Und der jüngste unter ihnen sprach zu dem Vater: Gib mir, Vater, das Teil der Güter, das mir gehört. Und er teilte ihnen das Gut. 13 Und nicht lange darnach sammelte der jüngste Sohn alles zusammen und zog ferne über Land; und daselbst brachte er sein Gut um mit Prassen. 14 Da er nun all das Seine verzehrt hatte, ward eine große Teuerung durch dasselbe ganze Land, und er fing an zu darben. 15 Und ging hin und hängte sich an einen Bürger des Landes; der schickte ihn auf seinen Acker, die Säue zu hüten. 16 Und er begehrte seinen Bauch zu füllen mit Trebern, die die Säue aßen; und niemand gab sie ihm. 17 Da schlug er in sich und sprach: Wie viel Tagelöhner hat mein Vater, die Brot die Fülle haben, und ich verderbe im Hunger! 18 Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen und zu ihm sagen: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir 19 und bin hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße; mache mich zu einem deiner Tagelöhner! 20 Und er machte sich auf und kam zu seinem Vater. Da er aber noch ferne von dannen war, sah ihn sein Vater, und es jammerte ihn, lief und fiel ihm um seinen Hals und küßte ihn. 21 Der Sohn aber sprach zu ihm: Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, daß ich dein Sohn heiße. 22 Aber der Vater sprach zu seinen Knechten: Bringet das beste Kleid hervor und tut es ihm an, und gebet ihm einen Fingerreif an seine Hand und Schuhe an seine Füße, 23 und bringet ein gemästet Kalb her und schlachtet’s; lasset uns essen und fröhlich sein! 24 denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden. Und sie fingen an fröhlich zu sein. 25 Aber der älteste Sohn war auf dem Felde. Und als er nahe zum Hause kam, hörte er das Gesänge und den Reigen; 26 und er rief zu sich der Knechte einen und fragte, was das wäre. 27 Der aber sagte ihm: Dein Bruder ist gekommen, und dein Vater hat ein gemästet Kalb geschlachtet, daß er ihn gesund wieder hat. 28 Da ward er zornig und wollte nicht hineingehen. Da ging sein Vater heraus und bat ihn. 29 Er aber antwortete und sprach zum Vater: Siehe, so viel Jahre diene ich dir und habe dein Gebot noch nie übertreten; und du hast mir nie einen Bock gegeben, daß ich mit meinen Freunden fröhlich wäre. 30 Nun aber dieser dein Sohn gekommen ist, der sein Gut mit Huren verschlungen hat, hast du ihm ein gemästet Kalb geschlachtet. 31 Er aber sprach zu ihm: Mein Sohn, du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, das ist dein. 32 Du solltest aber fröhlich und gutes Muts sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist wieder gefunden.
Die Sorge des Hirten um ein verirrtes Schaf, die Bemühung der Hausfrau um eine verlorene Silbermünze dient uns zur Beschämung, wenn wir ähnlich den Pharisäern gleichgültig bleiben, wo es gilt, unsterbliche Seelen, die in Gefahr stehen, zu retten und abhanden gekommene himmlische Güter wieder zu gewinnen.
Beide Gleichnisse geben uns zugleich eine Andeutung dessen, was Christus, der gute Hirte, für die Verirrten fühlt und für uns, die Irre gegangenen, getan hat.
Das nun folgende Gleichnis gewährt uns eine noch tiefere und herrlichere Eröffnung dessen, was in dem Herzen Jesu Christi und unsers himmlischen Vaters vorgeht. Denn dieses Gleichnis ist von dem Besten und Edelsten hergenommen, was sich in der gefallenen Menschheit noch findet, nämlich von der Vater- und Mutterliebe. Auf diese verweist uns der HErr, um in unserem trägen und ungläubigen Herzen eine Ahnung von der göttlichen Liebe zu erwecken, indem Er sagt: „Wenn ihr, wiewohl ihr böse seid, euern Kindern gute Gaben geben könnet, wie viel mehr wird der Vater im Himmel Gutes geben denen, die ihn bitten.“
Und hier zeigt Er uns in der Großmut und Milde eines Vaterherzens, als in einem wiewohl unvollkommenen Spiegel, wie Gott gegen uns Menschen, auch gegen ganz herabgekommene und ausgeartete Menschen, gesinnt ist.
O tröstlicher Aufschluss, der uns hier zu Teil wird, mehr wert als alle Weisheit und Wissenschaft der ganzen Welt! Wir dürfen wissen, wie Gott gegen uns gesinnt ist, wir erfahren, wie wir zu Ihm kommen, wie wir Ihn suchen und finden dürfen; wir vernehmen es aus der besten Quelle, von dem, der allein vom Himmel gekommen ist.
Er offenbaret, was kein Mensch uns sagen, was kein Verstand ausfindig machen kann, wovon wir aus dem eigenen Herzen nie eine Überzeugung schöpfen können: die Liebe Gottes zu uns. Denn niemand hat Gott je gesehen, aber der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist, hat Ihn uns verkündigt und diese Verkündigung lautet: Gott ist Liebe.
Niemand kennt den Vater, denn nur der Sohn und wem Ihn der Sohn will offenbaren, und der Inhalt dieser Offenbarung ist: Seine Barmherzigkeit ist so groß als Er selbst.
Unser HErr will in diesem Gleichnis zunächst sein eigenes Verfahren gegen die damit unzufriedenen Pharisäer erläutern und rechtfertigen, also ist Er selbst in dem Vater der beiden Söhne abgebildet. Aber Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit Ihm selber. Die Liebe Christi ist die Liebe des ewigen Vaters; wird uns das Herz Christi eröffnet, so dürfen wir in das Herz Gottes schauen, das Erbarmen des Vaters und das Erbarmen des Sohnes gegen uns ist ein Erbarmen, wie der HErr zu Philippus sagt: „Glaubest du nicht, dass der Vater in Mir ist und Ich im Vater? Wer Mich gesehen hat, der hat den Vater gesehen“, oder wie der heilige Irenäus lehrt: „Der Sohn ist das Sichtbare des Vaters, der Vater ist das Unsichtbare des Sohnes.“
Einige wollten aus diesem Gleichnis den Beweis führen, dass der Mensch ohne Versöhnungsopfer zu Gott kommen könne, und dass Gott verzeihe, ohne eine Genugtuung für die Sünde der Welt zu verlangen; aber sie haben den Sinn des HErrn nicht erkannt. Sie meinen, der Mensch könne ohne Heiland zu Gott kommen; sie wollen den Vater finden, indem sie am Sohne vorbeigehen.
Aber der Sohn spricht: Niemand kommt zum Vater, denn durch Mich; und Er, der dies von Sich sagt, ist das Versöhnungsopfer für unsere Sünden.
Er ist von Ewigkeit her ausersehen und bestimmt als das unschuldige Lamm, das der Welt Sünde tragen soll, darum hatte Er Macht auf Erden, Sünden zu vergeben.
• Er ist es, der damals den Zöllnern vergalt, • Er ist es, über den die Schriftgelehrten murrten, • Er ist es, der dieses Gleichnis vorträgt, • Er weist uns in demselben auf Sich selbst und lehrt uns, durch Ihn dem Vater zu nahen und in Ihm den Vater zu finden.
In dem verirrten Sohn erkennen wir vor allem jene Verlorenen aus dem Hause Israel, welche damals zu Jesu kamen und Annahme bei Ihm fanden.
In dem älteren Sohne erkennen wir die Pharisäer, welche ihre ausgearteten Brüder aus ihrem Herzen ausgeschlossen hatten.
Der HErr Jesus ist es, der wie ein treuer Vater jene ausgearteten Kinder noch immer auf dem Herzen getragen und nie vergessen hat. Der Vater kommt heraus zu dem trotzigen und zornigen Sohn, der nicht ins Haus eintreten und sieh nicht mit freuen will, und er antwortet auf die hässlichen Vorwürfe dieses Sohnes:
„O Kind, du bist ja allezeit bei mir, und alles, was mein ist, das ist dein, du solltest dich aber freuen und fröhlich sein, denn dieser dein Bruder (den du nicht mehr Bruder nennen willst) war tot und ist wieder lebendig geworden.“
Es ist die Anrede Jesu an die Pharisäer, die wir hier hören. Er erkennt das Löbliche in ihnen, ihren Eifer im Gottesdienst, ihre Sorgfalt im Beobachten der Gesetze an; Er bestätigt, dass sie Teil haben an den Gütern Seines Hauses; Er will nur das eine große Unrecht, nämlich ihre Lieblosigkeit gegen die Brüder, ihnen zum Bewusstsein bringen und die Kälte ihrer Herzen durch den Hauch Seiner Liebe erwärmen.
Anstatt diese unfreundlichen Brüder von sich zu weisen, ladet Er sie in herablassender Weise ein, sich mit Ihm und ihren wiedergefundenen Brüdern zu freuen.
Auch in diesem Gleichnis beweist sich der HErr als der große Prophet, und enthüllt die tiefverborgenen Ratschlüsse Gottes mit der Menschheit und mit der Kirche.
Wer erkennt nicht in den beiden Söhnen das Volk Israel und die Heidenwelt? Es ist Ein Gott und Vater über alle. Er ist nicht allein der Juden Gott, sondern auch der Heiden. Die Juden sind, wie der ältere Sohn, bei Ihm und in Seinem Hause geblieben. Sie haben die uralte Offenbarung und Erkenntnis Gottes bewahrt. Der wahre Gottesdienst hat sich von den Erzvätern der grauen Vorzeit her bei ihnen erhalten. Sie haben Jahrtausende lang dem HErrn gedient und Sein Gesetz mehr und mehr in Ehren gehalten.
Die Heidenvölker dagegen haben, wie der jüngere Sohn, das Vaterhaus verlassen und sind ihre eigenen Wege gegangen. Sie haben ihr Teil der Güter mitgenommen. Auch sie hatten anfangs noch Erkenntnis Gottes, Opfer und uralte heilige Gebrauche, ehrwürdige Sitten und Gesetze.
Aber indem sie nicht unter göttlicher Leitung blieben, ihr Herz von Gott abwandten, das ursprüngliche Licht nicht treu bewahrten, haben sie, wie der verlorene Sohn, ihr mitgenommenes Erbgut nach und nach verschwendet, von Geschlecht zu Geschlecht sind sie immer weiter von Gottes Wegen abgekommen, ihr unverständiges Herz ist verfinstert und sie sind in die Knechtschaft der schrecklichsten Laster geraten.
Der Mensch, der anfangs das Bild und die Ähnlichkeit Gottes an sich trug, ist zuletzt bis zu einem Sklaven des Teufels herabgesunken und zu einem Sauhirten geworden, er sucht den Hunger seiner Seele durch die Pflege böser Lüste zu stillen und kann ihn doch nicht stillen.
Fern von seinem himmlischen Vater, in der tiefsten Entwürdigung seiner selbst, verschmachtet er vor innerem Elend und fühlt in sich das Feuer, das nicht verlischt, den nagenden Wurm, der nicht stirbt.
So weit kommt es mit den von Gott Abgefallenen, dies war und ist der schreckliche Zustand der Heidenwelt. Aber über dieser armen Heidenwelt hat noch immer Gottes Vaterauge gewacht. Sie haben Gott vergessen, aber Er hat sie nicht vergessen.
Wie im Gleichnis die Liebe und Treue des bekümmerten Vaters in verborgener Weise aus weiter Ferne auf das Gemüt des verlorenen Sohnes einwirkte, so hat die zuvorkommende Gnade Gottes an der Heidenwelt gearbeitet und die Zeit der Heimsuchung ist gekommen.
Der Sohn Gottes gedenkt ihrer. Im Blick auf die Heidenwelt sagt er zu den Juden: „Ich habe noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stalle sind, und auch jene muss Ich herzuführen und sie werden Meine Stimme hören.“
Er hat Wort gehalten, denn als Er auferweckt war von den Toten, sandte Er, der große Hirte der Schafe, Seine Apostel aus mit dem Befehl, die Heidenvölker zu Seinen Jüngern zu machen.
Sie haben Seine Stimme gehört. Der Zug des Vaters zum Sohne ist an ihnen nicht vergeblich gewesen. Die Heiden sind, als das Evangelium zu ihnen kam, wie der verlorene Sohn zum Bewusstsein ihres tiefen Verderbens erwacht: die Erinnerung an den himmlischen Vater, und die Sehnsucht nach ihm und nach der wahren Heimat des Menschen bei Gott ist in ihnen lebendig geworden. Sie haben sich wie der verlorene Sohn aufgemacht, ihre großen Sünden bekannt und eine über alles menschliche Erwarten liebevolle Aufnahme gefunden.
Als der heilige Paulus zu den Heiden gesandt worden war, dann als unsere heidnischen Vorfahren (und wir mit ihnen) in das Vaterhaus, die christliche Kirche, eingeführt und mit der Christenwürde bekleidet wurden, da ging die Freude, von der der HErr prophetisch redet, in Erfüllung.
Was ist aber unterdessen mit dem älteren Sohne geworden? Als die Heiden in das Vaterhaus aufgenommen wurden und durch die göttliche Barmherzigkeit die vollen Kindesrechte empfingen, freute sich das Volk Israel darüber nicht, sondern im Gegenteil, die Berufung der Heiden durch Paulus und seine Mitarbeiter gereichte ihnen zum größten Anstoß. Selbst die an Christus gläubigen Juden konnten sich nur schwer darein finden, dass die Heiden so hoch begnadigt wurden, ohne erst Israeliten zu werden und sich dem Gesetze Moses zu unterwerfen.
Die Menge der Juden wurde ganz eigentlich zum Hass gegen die bekehrten Heiden und zum Murren und Widerstreben gegen die wunderbaren Wege Gottes gereizt. Anstatt in das Vaterhaus mit einzutreten und sich mit zu freuen, blieben sie draußen vor der Türe der christlichen Kirche stehen; und da stehen sie noch, immer noch voll arger Gedanken gegen den Christus-Glauben, immer noch unzufrieden mit dem Walten Gottes, der uns Heiden ein so großes Heil zugewendet hat.
Aber dürfen wir nun ihren Hass mit Hass, und ihren Zorn mit Zorn vergelten? Wer so etwas tut, der hat nicht den Sinn Christi, denn hier im Gleichnis lehrt uns der HErr ganz anders.
Wenn der Vater so freundlich mit dem murrenden, älteren Sohne spricht, sollte nicht auch der jüngere Bruder seinem Bruder freundlich entgegenkommen und ihn durch Liebe zu gewinnen suchen?
So sollen auch wir das Gute, das an den Juden ist, an erkennen und nicht vergessen, dass ihnen zunächst die Güter des Heils zugedacht waren, deren wir uns jetzt erfreuen.
Wir sollen, wie Paulus, sie lieb haben um ihrer Väter willen, und der Stellung, die Gott ihnen angewiesen hat, gedenken, auf ihre Bekehrung und künftige Wiederaufrichtung hoffen.
Der HErr hat mit prophetischem Blick auch auf uns Christen gesehen und die Wege Gottes mit der christlichen Kirche angedeutet. Das Gleichnis enthält Aufschluss sowohl für die einzelnen Christen wie auch für die Kirche als Ganzes.
Auch unter uns, denen die Taufe und christliche Erziehung zuteil geworden ist, sind, ach, so viele, die wie der jüngere Sohn das Vaterhaus verlassen und die edle Mitgabe der Unschuld und Tugend, des Glaubens und der christlichen Erkenntnis verschwendet haben, die der christlichen Kirche entfremdet, fern von Gott und ohne Gott in der Welt leben.
Auch ihnen widerfährt es, dass sie, die freigeborenen Kinder des himmlischen Vaters, in die Knechtschaft der Sünde geraten und das Joch des Fürsten dieser Welt tragen, der sie als seine Werkzeuge und für die finstern Zwecke seines Reiches missbraucht und dafür noch mit Elend, Tod und Verderben belohnt.
Wie der getaufte Christ eine höhere Würde besitzt als der Heide, so ist bei ihm, wenn er zum Sauhirten herabsinkt, d.h. zu einem Pfleger und Diener niedriger Lüste, die Entwürdigung und Selbstentweihung noch ärger als bei dem Heiden, seine Sünden wiegen schwerer, ihre Wirkung auf ihn selbst ist verderblicher, der Jammer seiner Seele und die Aussicht aus die Ewigkeit ist noch schrecklicher als bei dem Heiden.
Jeder Getaufte, der in Sünden lebt, befindet sich in solchem Elend und in solcher Gefahr.
Aber noch ist die Gnadenzeit nicht abgelaufen; auch über den abtrünnigen Christen waltet bis heute noch göttliche Geduld, und der himmlische Vater wartet noch auf die Wiederkehr Seiner verirrten Kinder. Wer dürfte wagen, von sich aus so etwas zu behaupten oder nur zu hoffen!
Aber siehe, das Wort Jesu Christi verbürgt es uns. Er hat Gaben empfangen auch für die Abtrünnigen, Er breitet noch Seine Arme aus nach dem widerspenstigen Volk, Er bezeugt uns vom Himmel aus durch Seinen Geist, dass die göttliche Liebe und Barmherzigkeit noch kein Ende hat. O, dass dies Zeugnis durch Schaaren von Friedensboten zu allen Verirrten gelangen und ihre Herzen zu ihrem himmlischen Vater bekehrt werden möchten!
Die zuvorkommende Gnade Gottes wirkt bei verschiedenen Gelegenheiten und durch mancherlei Mittel auf die Herzen der verlorenen Kinder, besonders durch Leiden und durch erschütternde Ereignisse, dadurch wird das Gewissen aufgeweckt und ein Verlangen nach Rückkehr zu dem Glauben der Kindheit und in den Schoß der Kirche angeregt.
Aber noch immer hat der arme Mensch, wenn er schon die ersten Schritte tut um zu seinem Vater zurückzukehren, ängstliche und teilweise finstere Gedanken von Gott. Da er sich unwürdig erkennt, Gottes Kind zu heißen, ist das Höchste, was er zu hoffen wagt, eine Annahme als Tagelöhner oder Knecht im Hause seines Vaters.
So naht er sich seiner Heimat; verarmt, entstellt und unkenntlich kommt er wieder. Es scheint im Gleichnis, dass niemand von dem Hausgesinde den Fremdling erkannt hat. Nur Einer hat ihn von ferne schon wahrgenommen und erkannt: das war sein Vater. Dieser sah in ihm noch den Sohn; dieser erbarmte sich bei dem Anblick; dieser eilte ihm entgegen, umarmte und küsste ihn und als der Sohn sein demütiges Bekenntnis ablegte, ließ er ihn die Worte: „mache mich zu einem deiner Taglöhner“, nicht ausreden, sondern beschenkte ihn aufs neue mit seiner väterlichen Liebe und setzte ihn als seinen Sohn wieder ein. Er tut an ihm über Bitten und Verstehen. Mit Bewunderung, mit heiliger Scheu und mit Freude sind die Hausgenossen Zeugen dieses Vorgangs und der Großmut, welche der Vater gegen sein Kind beweist.
Ist jemand unter uns, den eine Sünde geschieden hat von seinem Gott, der lasse sein Herz erweichen durch dieses Zeugnis von der göttlichen Liebe aus dem Munde Jesu Christi, er lasse sich bewegen, alle seine Sünden zu bekennen, so lange es noch Zeit ist, und er wird die unaussprechliche Barmherzigkeit unsers himmlischen Vaters erfahren.
Die Zeit ist gekommen, wo diese göttliche Barmherzigkeit in besonderer Weise gegen die christliche Kirche sich offenbart.
Nicht nur einzelne Seelen gleichen dem verlorenen Sohn, sondern wir haben alle die Gelübde unserer Taufe aus die eine oder andere Art gebrochen, die Würde unseres Christenstandes verleugnet, das selige Vorrecht der Kinder Gottes vergessen, unsere Herzen gegen den himmlischen Vater verschlossen und sie der Welt geöffnet, der Zucht des Geistes uns entzogen, nach einer falschen Freiheit getrachtet und unserem Eigenwillen mehr als den Geboten Gottes Folge geleistet.
Die himmlischen Güter, mit welchen Anfangs die christliche Gemeinde reichlich ausgestattet war, haben wir verwahrlost, und ganze Kirchengemeinschaften sind geistlich verarmt und herabgekommen. Der Verfall des Gottesdienstes, die Auflösung der Einheit und Ordnung, die Abschwächung des Glaubens, das Erkalten der Liebe und das Ermatten der Hoffnung, woran wir die ganze Kirche leiden sehen, hat die traurigsten Folgen auch für den Seelenzustand und das geistliche Gedeihen der Einzelnen, auch der gläubigen Christen, so dass sie im Geiste abnehmen, anstatt gemeinschaftlich zu wachsen und zur Vollkommenheit heran zu reisen.
Wer ein Herz für die christliche Kirche hat, der fühlt auch für sie und in ihrem Namen etwas von dem Hunger, von der Verarmung und Entwürdigung, die uns in dem Bilde des verlorenen Sohnes vorgestellt wird. Das, woran wir alle am meisten leiden, ist, dass wir die Kindschaft aus dem Sinne verloren haben: wir haben die Verpflichtung der Kinder Gottes zur Heiligung des Sinnes und Wandels vergessen, und das kindliche Vertrauen durch Jesum zum Vater verloren. Dies ist der Grund des vielgestaltigen Abfalls in der Christenheit und die Quelle mannigfachen geistlichen Elends.
Aber während wir unsern himmlischen Vater vergaßen, hat Er uns nicht vergessen. Wir waren aus Seinem Bunde gewichen, aber siehe, Er gedenkt Seines Bundes und erbarmt Sich wieder Seines Volkes, wie einst, da Er dem Moses im feurigen Busch erschien und sprach: „Ich habe gesehen das Elend Meines Volkes in Ägypten (in der Knechtschaft der Welt und des Fleisches), Ich habe ihr Seufzen erhört, Ich habe ihr Leid erkannt“ (2 Mos 3, 7).
Der HErr sendet uns eine Botschaft vom Himmel durch Seine Knechte und siehe, Er redet uns an als Seine Kinder. Das Kindesrecht, welches wir nicht festgehalten haben, erkennt Er noch an, und die Taufgnade, die wir so wenig achteten oder für verloren hielten, hat Er uns vorbehalten und Er entbietet Sich uns als unser Vater in Jesu Christo. Er kommt uns liebevoll entgegen und sucht in uns die Erinnerung an das, was Er in der heiligen Taufe an uns getan, zu wecken, damit wir unsere Entfremdung von Ihm mit tiefer Reue empfinden und uns mit aufrichtigem Herzen und völligem Vertrauen zu Ihm bekehren.
Er schließt uns Sein Herz, Er schließt uns zugleich Sein mit himmlischen Gütern versehenes Vaterhaus, Seine heilige Kirche wieder auf und führt uns in dieselbe ein, nicht als Tagelöhner und Knechte, wie wir es uns dachten, sondern als begnadigte und vollberechtigte Söhne und Töchter, wie es uns der HErr in diesem Gleichnis in bedeutungsvollen und tröstlichen Bildern vor Augen stellt.
Der Vater sprach zu seinen Knechten: „Bringet das beste Kleid heraus und zieht es ihm an.“
Er kleidet den wiederkehrenden Sohn, der in zerrissenem und unreinem Gewande zu ihm gekommen ist, mit einem reinen und schönen Gewande, wie er es früher, vor seiner Verirrung, im Vaterhause trug. Das ist das Kleid der Unschuld Christi, das weiße Gewand, das uns einst in der Taufe angetan wurde und das uns nun, gewaschen und hell gemacht im Blute des Lammes, aufs neue dargereicht wird als ein köstliches Geschenk aus den Gnadenschätzen unseres Vaters.
Wir empfangen es durch die Handreichung der Diener des HErrn, die durch Wort und Tat uns zur Reinigung unseres Gewissens und zur Erneuerung unseres Taufgelübdes behilflich find.
Der Vater sprach weiter zu seinen Knechten: „Gebt einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße.“
Der goldene Ring, den die Knechte und die geringen Leute nicht tragen, sondern die Söhne der Edlen, ist das Zeichen der freien Geburt und des Erbrechts: es ist die Gabe des heiligen Geistes, der den Kindern des Höchsten und sonst niemand gehört, der das Unterpfand unseres Erbteiles im Himmel und das Angeld der zukünftigen Herrlichkeit ist. Auch diese Gabe wird uns durch den Dienst der Knechte Gottes in einer heiligen Handlung dargereicht und zugesichert.
Der verlorene Sohn bekommt neue Schuhe an seine Füße:
wir werden ausgerüstet mit neuer Kraft, um von nun an als gehorsame Kinder im Hause unseres himmlischen Vaters aus und einzugehen und auf Seinen Wegen zu wandeln.
„Bringet das gemästete Kalb und opfert es und lasst uns essen und fröhlich sein.“
Man vernimmt aus diesen Worten, dass der Vater im Gleichnis während der Abwesenheit des Sohnes für den Fall seiner Rückkehr ein Gelübde getan hatte und ein Opfertier zum Dank- und Friedensopfer bereit hielt. Dieses freudige Opfermahl wird nun bereitet und im Vaterhause mit Gesang, Musik und Reigentänzen gefeiert.
Hat nicht Gott diese freudenvolle Feier auch uns bereitet in dem heiligsten Dienste, in dem himmlischen Opfermahl, dem neutestamentlichen Passah, der heiligen Eucharistie?
Er gibt uns Gnade, den Tag des HErrn wieder in rechter Weise als einen Tag heiliger Freude zu feiern, in die Lobgesänge der Engel einzustimmen und an dem Altare, den Er aufrichtet, uns zu erquicken. Hier sind wir in Seinem Hause als Seine Gesegneten versammelt und dürfen die Erfüllung der prophetischen Worte Jesu erleben. Die Freude im heiligen Geist, welche uns hier umgibt, ist der Jubel über die Wiederkehr der Verlorenen und über die ewige Liebe und Treue unseres Gottes, der den Seinigen allen zuruft: „ Lasset uns freuen und fröhlich sein, denn dieser Mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wiedergefunden.“
Noch können es manche unserer Brüder, die es wie der ältere Sohn nur von ferne hören, nicht fassen, was hier vorgeht, und sich nicht darein finden, dass der HErr so groß und so gütig gegen die Unwürdigen ist; anstatt mit hereinzutreten und an den Segnungen Teil zu nehmen, bleiben sie draußen stehen und sind unzufrieden. Wie wir diesen begegnen sollen, das lasst uns aus dem Gleichnisse lernen, nämlich mit Milde, mit Geduld und Zuvorkommenheit und mit freundlicher Einladung, wie wir sie in den Worten des Vaters an den älteren Sohn vernehmen. Denn Er liebt auch diese, und auch wir sollen sie lieben, nachdem wir viel Gnade empfangen haben, sollen wir uns als Schuldner unserer Mitbrüder betrachten, und was der HErr Gutes an uns getan hat, sollen wir an ihnen zu vergelten suchen. Ihm aber, der so großmütig und väterlich an uns gehandelt hat, lasst uns von nun an mit Freuden dienen, in Ihm bleiben und alle Tage unseres Lebens mit unwandelbarer Treue Ihm folgen.