Tersteegen, Gerhard – Briefe in Auswahl - Das innere Leben ist die Seele des wahren Christentums.
Geliebter Bruder!
Deinen lieben Brief habe ich richtig erhalten. Es freute mich sehr von zwei Freunden zu gleicher Zeit Briefe zu erhalten, worin ich die Wahrheit enthalten fand, nach der mein ganzes Herz durch Gottes Gnade trachtet, nämlich den schönen Weg zum inneren Leben, der da besteht in der Einkehr und in dem Bleiben im Geiste unseres Gemüts, um darin die göttliche Majestät im dunklen Heiligtum zu beschauen und im Geiste und in der Wahrheit anzubeten. Solche innere Übung ist gewiss die Seele des wahren Christentums und die Quelle aller Heiligung, sowie auch der ebene und einzige Weg zum gründlichen und festen Seelenfrieden, indem er uns zu Gott führt und mit Gott, der das höchste Gut, das wahre Vaterland und der einzige Ruheort unsres Geistes ist, vereinigt. Niemand kann aber innerlich in Gott leben, der seine Ruhe, sein Leben in etwas andrem, als in Gott sucht. Darum müssen wir trachten unsere Sinne eingezogen, unsre Begierden ertötet, unsre Leidenschaften unterdrückt, unsren Willen ergeben, unsre Absichten in allem aufrichtig zu erhalten. Alles, was wir tun und leisten, darf nicht gezwungen geschehen, sondern freudig, aus Liebe zu unserm Seelenfreunde, der uns so nahe ist und aus inniger Hingabe an ihn. Zwar wird es nicht an äußerem und inneren Kreuz auf diesem Wege fehlen, aber alles wird zum Guten mitwirken. Eine Viertelstunde solchen Lebens ist gewiss mehr wert als ein ganzes Jahrhundert voll weltlicher Genüsse. Wie herrlich ist das inwendige Leben, das aus so vielen Ertötungen geboren wird!
Mein lieber Bruder! Gott schenke Dir und mir festes Halten an der unschätzbaren Gnade, durch die Er uns auf diesen Weg geführt hat, auf dass wir uns nicht kümmern um alles Geschrei außer uns: „Hier ist Christus! Da ist Christus!“ Nicht Christus hier oder da, sondern Christus in uns ist die Hoffnung der Herrlichkeit (Kol. 1,27). Dies allein hilft und tröstet in Not und Tod. Denen, die auf diesem Wege danach streben, mit Gott und der Ewigkeit vertraut zu werden, wird die Ewigkeit nicht fremd und bang auf ihrem Sterbebette vor Augen stehen.
Ich schreibe dies, werter Bruder, nicht um Dich zu belehren, sondern um meine Übereinstimmung mit Deinem Brief zu bezeugen und meine Herzensmeinung auszusprechen. Der Herr Jesus sei selbst unser beständiger Führer und Hirte! Amen. In Ihm und in seiner Liebe grüße ich Dich von Herzen und bleibe durch die Gnade
Dein Bundes Bruder.