Tauler, Johannes - Medulla Animae - Neuntes Kapitel. Wie wir die wahre Demut und Liebe erlangen und üben, und Gottes Güte und unsere Verdorbenheit gründlich erkennen können.
Die Demut ist das Fundament und die Schützerin aller Tugenden; sie hat unser Herr Jesus Christus, Der der Spiegel und das Wesen aller Tugend ist, zur Bekämpfung und Tilgung der Hoffart des Teufels besonders ausgewählt, und uns dieselbe als Sein teuerstes Unterpfand und als den sichersten Weg zum ewigen Heile empfohlen und gezeigt, da Er sagt1): „Lernt von mir, denn ich bin sanftmütig, und demütig vom Herzen;“ deswegen nennt sie auch Paulus die Tugend Christi; „ich will mich gerne meiner Schwachheit rühmen,“ sagt er2), „auf dass die Kraft - die Tugend - Christi in mir wohne.“ Darum schäme dich nur deiner Selbstverachtung und deiner in den Augen der Welt geringe scheinenden Werke nicht, so wirst du ja dem Könige der Ehre ähnlich. Ohne Demut arten alle andere Tugenden in Untugenden aus.
Was ist nun aber die wahre Demut? Die Demut ist ein Niedermut oder Tiefmut, ein Niederneigen und Beugen des Herzens und Gemüts vor der Majestät und Hochwürdigkeit Gottes; die Gerechtigkeit gebietet sie uns, und die Liebe zwingt uns dazu; sie ist aber zweifach, die Demut. Die eine wird von der Wahrheit geboren, hat aber keine Wärme; die andere, von der Liebe erzeugt, ist klar, heiß und brünstig. Die erste wird mehr aus Ursachen, als aus Liebe geübt; denn erwägt der Mensch Gottes Größe, und ihr gegenüber seine Geringfügigkeit, Gottes Treue, und dagegen seine Treulosigkeit, bedenkt er, wer Gott, und wie gnädig und gütig Er gegen ihn schon gewesen sei; im Gegenteile, wer er ist, und wie böse er sich schon gegen den Gütigen betragen habe: dann wird es ihm wohl sehr helle und klar, aber auch tief sein Herz treffend, einleuchten, welche hohe und wichtige Gründe da seien, sich vor Ihm zu demütigen und zu erniedrigen; da waltet aber immer noch keine Liebe, da spricht nur die natürliche Vernunft ihre Gründe aus, und diese Demut ist nur, wie gesagt, eine kalte, sie hat zwar einen Ton und Laut, aber den reinen nicht. Wo entdecken wir nun diesen Misston? Nirgends anders als in der noch lebendigen Eigenliebe; dieser Demütige verachtet sich aus den erst angeführten Gründen wohl selbst sehr, ja, er kann nicht anders, er muss sich verachten; aber wage du es einmal, und verachte du ihn, - das wird er nicht gleichgültig und ruhigen Gemüts ertragen; sieh demnach, hier ist er misstönend, hier ist nicht die echte Demut; die fremde Verachtung empört ihn, die Ursachen seiner Demut sind vergessen, er weiß augenblicklich nichts mehr davon, was er doch so klar einsah und sich redlich bekannte, dass er seiner Verderbtheit wegen die Verachtung Aller verdiene. Die Demut ist, wahrlich! wie alle andere Tugenden ein Werk des Willens, und wie wir durch die Vernunft die Tugenden zwar erkennen, so macht doch die Liebe allein dieselben uns schmackhaft, und übernatürlich; denn die andere Demut, die wir die klare, heiße oder brünstige nennten, äußert sich mehr aus Liebe als aus Gründen, obgleich sie keineswegs grundlos ist. Wenn ein wahrhaft demütiges Herz, getrieben durch die Liebe, alle seine Kräfte sammelnd, und gänzlich sich zu Gott wendend, von Ihm Selbst geleitet und angetrieben wird zur Betrachtung und Erwägung, wer und was Gott ist, wie übergroß und wunderbar, wie über alle Begriffe der Geschöpfe erhaben Er sei, wie Er der Alleinmächtige Alles aus Nichts erschaffen habe, wie Er nach Seiner Allmacht Alles vermöge, was Er wolle, und dieser Allmächtige und Erhabene aus einer uns wahrhaft unbegreiflichen Liebe zu dem Menschengeschlechte dieses zu einer solchen hohen Würde erhoben, dass wir uns dessen, wozu Er uns gemacht und erwählt hat, nie zu denken hätten erkühnen dürfen, so, dass, wenn es uns freigestanden wäre, uns selbst eine Stufe in Seiner Schöpfung zu wählen, wir keine erhabenere uns hätten erdenken können, als die, auf welche Er uns gestellt hat; denn da Er uns als Seine Geschöpfe Sich nicht gleich machen konnte, so schuf Er uns, wahrlich! zu Götter aus Gnaden, weil wir solche nach unserer Natur nicht, d. i. Ihm nicht gleich sein konnten; nur dass wir gleiche Seligkeit, gleiche Freude und ein gleiches Reich in ewiger Liebe mit Ihm besitzen könnten und sollten, darum schuf Er uns zu Seinem Bilde und Gleichnis, um in dieser Ähnlichkeit Seiner empfänglich, und in der Tugend Ihm ähnlich zu werden. Er schuf Himmel und Erde, und alles, was darin ist, zum Dienste des Menschen, dass wir, erhaben über Alles, Niemand, denn Ihm allein, dienen, und nur Seine Gebote halten, und so ewig selig mit Ihm sein sollten. Aber, weil wir, leider! Ihm nicht gehorsam waren, und mit Wissen und Willen aus eigener Bosheit Seine Gebote übertreten haben, so haben wir diese ewige Seligkeit verwirkt und das Feuer der Hölle verdient. Diesen unsern unseligen Fall, aus dem uns Niemand aufhelfen und retten konnte, sah der erhabene Gott, und es jammerte Ihn, Er sandte Hilfe, und welche? Er schonte des eingebornen Sohnes nicht, der da ist jene unbegreifliche Klarheit, in welcher der Vater Sich Selbst und alle Dinge erkennt, Der im Wesen und Natur Eines mit Ihm ist, durch Den Alles geschaffen ist, Der das Vorbild ist aller Kreaturen, ein reiner unbefleckter Spiegel der Majestät Gottes, „dieses eingebornen Sohnes schonte Er nicht, sondern hat Ihn für uns in den Tod des Kreuzes gegeben3),“ um uns wieder jene ewige Seligkeit zu verschaffen, wozu Er uns vom Anfange her bestimmte.
Wenn nun, wie wir oben sagten, ein demütiges und gottliebendes Herz mit dem geöffneten Auge der Liebe diese Größe und Majestät Gottes und Seine Treue bedenkt, und überlegt, wer Er ist, was und warum Er so vieles für uns getan, und dass Er Alles aus reinster Liebe für uns getan, und er nicht deshalb seliger wurde, wohl aber wir; und dann sich als Gegenteil erblickt in seinen gegen den unendlichen Gott und treuesten Vater begangenen vielen Sünden: dann wird sich sein Herz über sich selbst so entrüsten, und sich so verabscheuen, dass er nicht weiß, was er nur denken soll; die tiefste Niedrigkeit, die verächtlichste Stelle wird ihm in Hinsicht seiner Unwürdigkeit und Verworfenheit noch immer zu gut, noch immer zu hoch scheinen; er wird es nicht begreifen können, warum er sich nicht noch tiefer verachten und verabscheuen könne, und was er ferner zu seiner Demütigung noch tun solle. In dieser schmerzlichen Erwägung weiß er sich nun keinen Rat, und keine Hilfe als bei Dem, von Dem alle Hilfe einzig zu erwarten ist, bei seinem Herrn und Heilande, bei eben diesem seinem getreuesten Freunde und Vater; dem klagt er seine Not und seine Schmerzen, er übergibt sich Ihm unbedingt in Seinen heiligsten Willen, mit gänzlicher Verzichtleistung seiner selbst überlässt er es Ihm, was der Allmächtige und Huldvolle mit ihm und allen Menschen tun und vornehmen wolle. Nun findet er den wahren Frieden, einen unzerstörlichen Frieden; denn in eine solche Tiefe und Niederung hat er sich gesenkt, dass ihn keine Kreatur finden mag, und fände man ihn auch da, und verschmähte und verachtete ihn, und es ginge ihm nahe (denn ganz gefühllos gegen innere Schmerzen und Kränkung sind kaum einige): so würde er doch die kränkende Behandlung nicht so ansehen, als geschähe sie ihm vom Menschen, über den er sich entrüsten könnte, sondern als ein besonderes ihm von Gott zu seinem Besten zugeschicktes Ereignis; nicht des Menschen würde er zürnen, vielmehr die Hand des Herrn darin erkennen, Der den Menschen hier nur als Werkzeug Seines Willens gebraucht; danken würde er vielmehr dem allmächtigen Gott in tiefer Demut seines Herzens, und sich freuen der gütigen Hand des Herrn, Der ihm ein Zeichen gibt, dass Er an ihn denke, und ihn nicht vergessen wolle; denn es ist, wahrlich! ein selig Ding, gedrückt werden hienieden und leiden, „denn der Herr ist nahe denen, die betrübten Herzens sind4),“ und Leiden lehrt Kenntnis seiner selbst.
Wird nun der demütige und gottliebende Mensch auf erstgenannte Weise von Gott berührt und so zum Lob und Dank gegen Ihn erregt, und merkt er, dass gerade das der Weg sei, auf dem er seinen Gott verherrlichen könne, dann ergreift die göttliche Flamme der Liebe sein ganzes Herz, er will diesem Liebes-Drange nun aus allen Kräften genug tun, sein inneres Auge wirft den Blick der Liebe auf den im Fleische ehemals auf Erden wandelnden Herrn; jetzt erkennt er, was der Herr der Herrlichkeit der Menschen wegen ausgestanden und erlitten hat, wie er unsertwegen der Ärmste, der Niedrigste, der Verschmähteste seiner Zeit geworden und gewesen ist; er erwägt Sein liebendes Heilands-Herz, das keine Bitte versagen konnte, Sein demütiges, treues Leben voll Wahrheit, Milde und Tugend; hier findet er einen Schatz, ja, einen Abgrund unaussprechlicher und unbeschreiblicher Wunder, die die aufmerksame Liebe alle findet. Er erwägt, wie dieser sein Herr und Gott den bittersten, schändlichsten und schmählichsten Tod bis zur Vergießung des letzten Blutstropfens erlitten, und Sein heiliger Leib so sehr verwundet und zerrissen war, dass keine gesunde Stelle mehr an Ihm zu finden gewesen, und dass Er alles das von jenen erlitten habe, die Er aus Nichts erschaffen, zu großen Ehren bestimmt, und ihnen gleiche Seligkeit mit Sich zugedacht hat; dass Er das alles erlitten aus Liebe, für die Sünden, mit welchen sie gegen Ihn misshandelt haben. Wie er Ferner mit unendlicher Treue und Liebe in Seinem heiligen Herzen unter großer, bitterer Schmach mit ausgespannten Armen, Seine Feinde zu umfangen; mit geneigtem Haupte, sie zu küssen; mit offenem Herzen, uns darein aufzunehmen; unter häufiger Vergießung Seines Blutes, um uns damit zu waschen und zu reinigen, und mit allen möglichen Zeichen der Liebe gegen uns am Kreuze gehangen. Er bedenkt, wie er und wir Alle für diese unzählbaren Wohltaten Ihm nicht nur nicht gedankt, sondern Ihn vielmehr so oft wieder mit unseren Sünden aufs neue gekreuzigt haben, dass Er unserer Undankbarkeit ungeachtet uns dennoch in unsern Sünden verschont, und Sich nach Seiner Barmherzigkeit begnügt hat, uns durch innere Einsprechungen, Ermahnungen, Beispiele und Lehren zu Sich zu rufen, die wir aber alle, ertrunken in schnöden Lüsten, und hingegeben unsern wilden Leidenschaften, verachtet, ja sogar getötet haben.
Wenn denn nun ein demütiges gottliebendes Menschenherz alle diese Wunder in sich findet, und bedenkt, wie groß der allmächtige Gott in Seiner Liebe und Treue zu uns, wie klein und geringe wir aber und unsere Treue gegen Ihn seien (obgleich unser Denken von Seiner Treue Gottes-Treue, wie sie in der Wahrheit ist, nimmer erreichen kann; denn Seine Treue ist so groß, als Er Selbst, und er Selbst ist die Treue, und wir sind so beschränkt, und obgleich das Werk unserer Erlösung groß ist, so ist es doch nur gewissermaßen gering in Vergleichung der unermesslichen Liebe und Treue, die Ihn dazu bewogen hat); wenn nun, wiederholen wir, die Demut diese ihre Geringfügigkeit mit der Majestät Gottes vergleicht, und ihre vielfältigen Sünden erkennt, und sich doch unfähig fühlt, ihre ganze Schnödigkeit und eigene Unwürdigkeit, wie sie in sich selbst ist, zu erkennen: dann versinkt sie in so tiefes Schamgefühl, in solchen Ekel und Verabscheuung ihrer selbst, dass sie sich ihres Daseins schämt und staunt über die grässliche Entehrung Gottes von Seite der Menschen; sie überzeugt sich, dass, wenn sie allein Gott so verehren und lieben könnte, wie alle Kreaturen zusammen, es doch nichts wäre gegen das, was sie Ihm schuldig ist, und würden sie die ganze Welt und alle Menschen verachten, so fühlt sie zu tief, dass alle diese Schmach noch wenig genug wäre gegen das, was sie verdient, da ein so armer, ekelhafter Wurm den großen, heiligen und gütigen Gott, Der uns so liebt, so oft und schwer entheiligt und beleidigt hat. Diese ernstliche Erwägung erfüllt die Seele mit innigster Ehrfurcht gegen Gott, dagegen mit aufrichtiger Verachtung ihrer selbst; ein Gedanke gedeiht nun in ihr zur Reife: durchaus auf sich zu verzichten, vom Grund aus sich zu verleugnen, und in Gott zu sterben. Dieses Sterben, dieses Entwerden ist das neue selige Leben, ist der Vorgeschmack des Himmels, dessen nur die empfänglich und fähig sind, die durch Selbstverleugnung, der Sünde und allen Gebrechen durch Gott und in Gott gestorben sind. Dahin fördert uns die Liebe, sie erhebt uns zu Gott, sie vereinigt uns mit Gott; die Demut senkt uns ein in Gott, wir entsinken uns, und sind in Gott; wir sind unserer entworden, und sind gestorben in Ihm, nicht als hörten wir auf, Geschöpfe zu sein; die werden wir immer bleiben, aber durch die Gnade werden wir ein Leben mit Gott, wo die Liebe uns über uns selbst in Gott erhebt, die Demut uns in Ihn versenkt. Diese Höhe und diese Tiefe ist eine Höhe, sie ist Gott Selbst, denn er ist so hoch über uns, als er unter uns ist, obgleich die Wege zu Ihm, und die Übungen gegen Ihn verschieden und vielfach sind.
Eine erprobte und höchst tröstliche Übung ist die Betrachtung der göttlichen Majestät, der Liebe und Treue Gottes gegen uns im Gegensatz unserer Geringfügigkeit, Undankbarkeit und Untreue, so, dass man sich wundern muss, wie solche Übung je könne vergessen und außer Acht gelassen werden; wir wenigstens wollen sie nie bei Seite sehen, denn es gibt wirklich kein besseres und zweckdienlicheres Mittel, gewisser und eher zur wahren Demut und allen anderen Tugenden zu gelangen, als diese Übung; der Anfang derselben ist freilich schwer, es ist sogleich die Rede von Selbstverachtung, und wer hört gerne davon, und wer entschließt sich sogleich dazu? Doch fahren wir nur fort, die fortgesetzte Übung bringt uns denn doch bald an das nötige Überlassen unserer an Gott, und sind wir einmal so weit, dann greift es auch schon nicht so tief und schmerzlich in unser Herz, wenn uns von Andern Unrecht geschieht; wir blicken nämlich hin auf den Sohn Gottes, und gedenken, was Er für uns gelitten, wie Er Sich so tief erniedrigt, wie Er gleich einem verachteten Erdwurme, den man mit Füßen tritt, Sich misshandeln ließ, und wir sollten uns jetzt nicht schämen, und uns verachten, das Wenige geduldig und gerne auf uns zu nehmen aus Liebe Seiner, Der für uns so vieles getan und ertragen hat? wird uns bei Seinem Anblicke nicht der beschämende Gedanke finden, dass wir Schwächlinge sind, die sich schämen müssen vor sich selbst, und nun sollten wir's noch hoch anschlagen, wenn Andere uns verachten, oder sonst Widriges uns zufügen?
Diese Übung aber muss mehr aus wahrer Liebe, und einzig der Ehre Gottes wegen geschehen und fortgesetzt werden, als dass wir nur die Früchte der Tugenden für uns im Auge hätten, die uns durch diese Übung zu statten kämen, denn Liebe üben in Gott, ist köstlicher, als Tugenden üben wegen Gott; der kürzeste Weg, der uns gerade und ohne Aufenthalt zu Gott führt und bringt, ist, die Liebe, und eine Tugend ohne Liebe hat keinen übernatürlichen Wert, Liebe muss der Tugend Wesen und Gestalt sein. Diese Liebe nun und die Übung derselben bringt uns zu dieser Verschmähung unserer selbst, sie macht es uns nicht nur möglich, ja leicht, nicht nur uns selbst zu verachten, sondern sie kräftigt uns, ohne Widerwillen es anzunehmen, wenn es Andere gegen uns tun; und nicht nur das, wir freuen uns sogar der Schmach, die uns widerfährt, in so ferne wir nur nicht selbst daran schuld sind; alles Leiden, jede Widerwärtigkeit schwindet in Nichts dahin, es soll ja unseres Gottes ewige Ehre dadurch an uns erhöht, und befördert werden; darum, je größer das Leiden, je lieber, je besser, je tröstlicher ist es uns; denn das bringt uns eben in die Ähnlichkeit mit dem Sohne Gottes, in das höchste Wohlgefallen Gottes, weil auf der weiten Erde nichts edler ist, als Leiden und Dulden aus Liebe zu Gott; gäbe es was Besseres als leiden um Gottes willen, und unverdient, dann hätte der Vater Seinem Sohne dieses Edlere und Erhabenere wohl angewiesen.
Darum lasst uns leiden, lasst uns gerne leiden, um unserem treuesten Gott und Heilande gleichförmig zu werden, lasst uns Schmach und Verachtung nicht nur ohne Widerwillen annehmen; als einen Sewinn wollen wir sie betrachten, den uns Gott geben will, indem Er uns würdig achtet, aus Liebe Seiner leiden zu dürfen. Im Leiden gelangen wir zur wahren Kenntnis unserer Nichtigkeit, und beweinen unser voriges sündliche Leben; jetzt wird's uns klar, wie Nichts wir und alle Dinge, außer Gott, sind, die wir doch ehemals so hoch gehalten, und unser Herz durch sie gefesselt hatten. Aus dieser Erkenntnis unserer Nichtigkeit geht aber die wahre Demut hervor; denn so lange wir uns selbst noch wichtig erscheinen, und irgend eine Zurücksetzung oder Verachtung unserer nicht mit ruhigem unbewegtem Herzen ertragen können, oder, wenn man uns ehrt, wir uns dessen erfreuen: so lange werden wir doch von wahrer Demut des Herzens in uns nicht sprechen, nicht ausgeben wollen, als missfielen wir uns selbst; sitzt ja die Wurzel der Hoffart noch so feste und tief in uns? oder spricht die wahre Demut wohl selbst von sich als solcher, will der wahre Demütige dafür angesehen sein? wenn man ihn für den hält, für wen er sich selbst erkennt, für einen Unwerten und Geringen, das freut ihn, und die Achtung, die man ihm erweiset, ist Qual für ihn, denn nur er weiß, wie unwert er derselben ist5); da er weiß, dass er auf der weiten Erde keinen gefährlicheren und größeren Feind habe, als sich selbst, so hasst er sich so ernstlich als die Welt die hasst, die ihr zuwider sind; weiß er doch, dass, wenn der Satan und die Welt ihn angehen wollen, sie sich an ihn selbst, an sein Ich, wenden, darum strebt er, sich selbst zu besiegen, wissend, dass nach diesem Siege alle seine Feinde besiegt seien.
Wer aber die Tugend der Demut vollkommen erreichen will, der lerne zuvor, Gott inbrünstig lieben, und Ihn um diese Gabe der Liebe unausgesetzt und innigst anzuflehen, denn die edelste Gabe die Gabe der Liebe ist eine besondere Gabe Gottes, die er vorzüglich geben muss. Nun ist aber die Liebe die Mutter der Demut, und je mehr diese Liebe Gottes in uns zunimmt, so viel größer wird der heilige Hass unserer selbst in uns; denn nun lehrt uns diese, wie unrecht wir uns bisher geliebt haben, und wie in Zukunft wir uns lieben sollen; denn nur da lieben wir uns acht und wahrhaft, wenn wir uns vor dem hohen Gott erniedrigen und demütigen, und je tiefer wir uns um Gotteswillen demütigen können, um so vielmehr wird Gott in uns erhaben und verherrlicht, uns so geht denn wirklich die Erniedrigung in Erhöhung, und diese in Erniedrigung über. Denn je mehr wir uns durch Hoffart und Eigenliebe erheben, um so weniger wirkt Gott in uns, nämlich nach Seiner Gnade in uns; im Gegenteile, je tiefer und lieber wir uns um Seiner willen erniedrigen, und geringe achten, je herrlicher und kräftiger wirkt er nun mit Seiner Gnade in uns.
Die Demut, die echte und lange geübte, trägt in sich selbst schon die Neigung nach Erniedrigung; sie findet sich so lange nicht in ihrem Ruhepunkte, bis sie die Tiefe, den untersten Ort errungen hat; jetzt ist sie ruhig und zufrieden, denn was bisher tugendliches Streben war, ist nun zum Wesen geworden. Diese Tiefe aber und diese unterste Stelle ist: jeder sündlichen Eigenheit ledig sein, und da wir dieser sündlichen Eigenheit, so lange wir leben, immer genug abzulegen finden, so haben wir wohl Ursache, allzeit diese Tiefe, diese niedrigste Stelle zu suchen, und da Niemand so demütig ist, dass er nicht noch demütiger werden, und Niemand Gott so liebt, dass seine Liebe nicht wachsen und zunehmen könne, darum können und sollen wir niemals aufhören, uns tiefer und tiefer zu erniedrigen und immer nach dem untersten Ort zu streben.
Ja, dieser unterste Ort, dieser demütige Grund ist zur Empfangung und Bewahrung der göttlichen Gnaden das bequemste, reinste und dauerhafteste Gefäß, in welches Gott Seine Gnade gerne gießt; darum bitte ich euch, seid demütig, denn die Demut ist eine so vortreffliche Sache, dass Gott Sich würdigt, sie das zu lehren, was mit Worten nicht auszusprechen ist, und ihr zu geben, was nie erlernt werden kann. Haben wir Gott durch die Sünde beleidigt, und die Liebe verletzt, so söhnt einzig die Demut uns mit Ihm wieder aus; denn eine demütige Erkenntnis und Bekenntnis gefällt dem Herrn so wohl, dass Er uns Alles verzeiht.
Endlich macht die Demut uns Alles zum Gewinn; sind wir krank, die Demut nimmt es von der Hand Gottes mit Dank an; gibt der Herr Gesundheit, wir danken Ihm, und suchen in Seinem Dienst desto eifriger zu sein; trifft uns Verachtung, wir danken dem Herrn, und wissen, dass wir Mehreres verdient haben; ehrt man uns, wir kennen unsern Unwert, und demütigen uns desto mehr; übe nur jeder sein Recht gegen uns aus, wir räumen es ihm ein, machen aber auf andere durchaus keinen Anspruch; und damit wir Alles ins Kurze fassen: gegen sich selbst ist der Demütige schlau und klug, sein Gutes zu verdecken und unscheinlich zu machen, seine Gebrechen hingegen und Sünden keineswegs zu bemänteln, sie vielmehr offen darzulegen; aber gegen den Nächsten ist er gütig, schonend und barmherzig; auch das geringste Gute weiß er herauszustreichen, über seine Fehler und Gebrechen leicht hinwegzuschreiten; wo sich das nicht wohl tun lässt, entschuldigt er möglichst, erinnert an menschliche Übereilung und Schwäche, an möglichen Irrtum entweder in der Meinung, oder im Wissen, oder zeigt wohl gar, wie er sich und den Fehler längst gebessert habe.