Tauler, Johannes - Medulla Animae - Sechstes Kapitel. Eine Sünde ist der anderen Mutter, und eine Tugend gebiert die andere.
Da wir gewiss glauben, dass Gott in uns sei und wohne, ja, uns näher sei, als wir uns selbst, so muss sich uns die Frage entgegenstellen, warum fühlen wir Seine Gegenwart in uns nicht? ist es nicht deswegen, weil Seine Gnade in uns nicht wirken kann? und was hindert diese Wirkung der Gnade in uns? gewiss nur das, weil wir mit einem demütigen Herzen, mit inniger Sehnsucht zu wenden, nach ihr nicht verlangen; und warum ermangeln wir dieses demütig bittenden Herzens? wir lieben unsern Gott nicht von ganzem Herzen und aus ganzer Seele; dieser Mangel solcher Liebe, entstehet er nicht aus unserer Unkenntnis Gottes? und woher entspringt diese Unkenntnis Gottes? allerdings daher, dass wir uns selbst nicht kennen; und dass wir unsere eigenen Fremdlinge sind, kommt von der Unachtsamkeit auf uns selbst, auf unseren Wandel her; woher nun diese Fahrlässigkeit über uns selbst? gewiss von unserer inneren Verblendung, und woher diese? Staub und Unrat der vergänglichen Dinge hat sich eingedrungen; und ist die unordentliche Liebe und Neigung zu uns selbst, zu den Kreaturen, zur Welt und dem Fleisch, nicht dieser Licht raubende Staub? und wie kam dieser Staub in unser inneres Auge, wer trieb ihn hinein? unsere Sinnlichkeit, der wir nicht absterben wollen, und die uns immer hindert, uns mit ganzer Seele zu Gott diese ist es. Sehet, das ist die schlimme Kette, das ist die böse Geburt, wo eine Sünde die andere gebiert, die zusammen die Ursache sind, dass das Licht der Gnade in uns nicht wirke, und nicht wirken könne. Lasst uns nun dieser Sündenkette jenen tröstlichen Zusammenhang der Tugenden entgegenstellen.
Verlangen wir von Gott das göttliche Gnadenlicht und die reine Gabe der Unterscheidung, der echten Bescheidenheit, dann müssen wir der Welt Liebe, ihrer Lust und Afterweisheit durchaus entsagen; denn so viele dieser göttlichen erstgenannten Gaben in mir sind, so viel verzichte ich meiner selbst, und liebe das, was die Welt hasst, weil es ihr bitter ist; je mehr ich nun das liebe, was die Welt hasst, um so mehr gehorche ich Gott; je größer nun dieser mein Gehorsam gegen Gott ist, um so größer ist der Friede meines Herzens, um so ruhiger ist mein Gewissen; je friedlicher mein Herz und je ruhiger mein Gewissen ist, um so reiner ist mein innerer Sinn, um so erleuchteter meine Vernunft; je gereinigter meine Vernunft ist, um so gewisser erkenne ich meinen Gott; um so viel ich ihn erkenne, um so richtiger wandele ich vor Ihm in heiliger Ehrfurcht; je reiner nun dieser ehrfurchtsvolle Wandel vor Ihm ist, um so mehr wächst im Herzen die Liebe zu Ihm; je aufrichtiger nun diese Liebe, je gewissenhafter ist meine Erfüllung und die Beobachtung Seiner Gebote und Seiner Lehre; je strenger und unwandelbarer diese Beobachtung, desto sorgfältiger fliehe ich die Sünde; so viel ich die Sünde fliehe, so viel bleibe ich in mir selbst. Diese Einkehr in mein Inneres gibt mir die Kenntnis meiner selbst; je mehr ich mich kenne, um so tiefer verachte ich mich; je aufrichtiger ich mich selbst verachte, um so weniger strebe ich nach Welt-Ehre und ihren Gütern; je weniger ich danach strebe, um so weiter bin ich zur wahren, freiwilligen Armut vorgeschritten; je weiter ich in dieser gekommen bin, um so weniger klage ich über einen Mangel; je weniger Klage nun, je größer die Geduld; je größer diese, um so tiefer die Demut; je tiefer diese, um so weniger verschmähe ich die, die mich verschmähen; je weniger ich nun die verschmähe, die mich verschmähen, um so gewisser bin ich ein Armer im Geiste; bin ich der, dann habe ich ja auch den Eigenwillen nicht mehr; ist dieser getötet, dann lebt einzig Gottes Wille in mir; will ich nun einzig das, was Gott will, dann will auch Gott, was ich will, und so ist Sein Licht das meine, ich bin ein Geist mit Gott geworden! Das ist nun allerdings die höchste Stufe, dahin führt nur ein gänzliches Sterben, ein völliges Absterben und Abscheiden von allen Kreaturen, und der Mensch steht zwischen Zeit und Ewigkeit, und hängt von beiden ab; so viel er nun hingeht auf die Zeit, und was sie bringt, und sich mit diesem einlässt, um so weiter entfernt er sich von der Ewigkeit und ihren Gütern; je weiter er nun von diesen zurückgeht, um so kleiner und geringer erscheinen sie ihm, denn jedes weit Entfernte stellt sich dem natürlichen Auge schon klein und gering dar, und er wird zu dem wahren Seelenfrieden nicht gelangen; sein innerer Mensch wird erblinden, die Liebe Gottes nach und nach in ihm erkalten; unstet, unruhig, unersättlich, wie die Dinge selbst sind, denen er sein Herz hingegeben hat, wird auch er selbst werden. Willst du demnach der Sünde und der sündlichen Gebrechlichkeit los und ledig werden, so schaffe die schnöde Liebe und Anhänglichkeit an das Irdische zuvor aus deinem Gemüt, denn Liebe Gottes und zeitlicher Reichtum stehen nicht wohl beisammen; die Liebe ist ein verzehrendes Feuer, das alles Zeitliche hinwegnimmt, und den Menschen alles Vergänglichen entledigt; allem Zeitlichen aber ausgehen, ist ein Eingehen in das Ewige.