Steinmeyer, Franz Ludwig - Maria, die Mutter des Herrn.
Wenn das Bild der gesegneten, nach Gottes Ratschluss unter Tausenden erwählten Jungfrau vermöge einer Holdseligkeit, welche selbst der Mund des Engels anerkannte, begehren darf, den Lesern zur sinnenden Anschauung dargeboten zu werden: so hat die früher mitgeteilte Betrachtung über „die Verkündigung Mariä“ einem so begründeten Anspruch schon genug getan. Dagegen könnte es nicht ohne einen Schein des Rechts bezweifelt werden, ob ein eigentliches Lebensbild der holdseligen Mutter sich den übrigen Darstellungen dieser Sammlung passend anreihen würde. Sehen wir nämlich auch von dem Umstande ab, dass uns die Schrift mit einer auffallenden Beharrlichkeit alle die Aufschlüsse vorenthält, welche einen befriedigenden Überblick über ihr äußeres Leben bedingen: so scheint es in dem vorliegenden Falle auch hinsichtlich der inneren Geschichte an alledem zu fehlen, was einem christlichen Lebensbilde seinen Reiz verleiht und unsere Teilnahme für dasselbe erweckt. Da beruht unser Gedächtnis entweder auf den Werken, welche die Rüstzeuge des Herrn in ihrem mehr oder minder umfassenden Berufe ausgeführt und dadurch ihren Beitrag zu dem Bau des Himmelreichs geleistet haben; oder wenn das nicht, so verfolgt der Blick bewundernd und anbetend die Wege der Weisheit, auf welchen die Gnade Gottes die Herzen gewann, sie zum Glauben erzog und für den Eingang in die Herrlichkeit zubereitete: aber nach beiden Richtungen hin scheint Marias Leben der Betrachtung keinen reichen und dankbaren Stoff darzubieten. Zwar einen Beruf hatte auch sie empfangen, und wohl einen schönen, ehrenvollen Beruf. Das Kind, in welchem der Welt das Heil erschienen war, sollte sie pflegen, nähren, behüten und seinem Auge jedes Ärgernis entrücken: aber ehe denn das Himmelreich auf Erden in Erscheinung trat, da hatte sie dies Amt bereits vollendet; in dessen wirkliche Geschichte war ihr besonderer Dienst mithin nicht wesentlich verwebt. Zwar der Züchtigung in der Gerechtigkeit, der Vollbereitung zum ewigen Leben war auch sie wie jedes andere Kind des sündhaften Geschlechts bedürftig, es galt für sie nicht minder wie für Alle anderen, hindurchzudringen durch die enge Pforte: aber besonderer Führungen, welche sie in die Kämpfe der Buße hätten leiten oder aus den Anfechtungen des Zweifels erledigen müssen, sind wir bei ihr von vorn ab nicht gewärtig; wir meinen, dass sie ungleich leichter, als irgend eine andere Seele in Israel, sich in die neuen Gotteswege habe finden können. Und doch ist eben hier der Punkt, welcher unser Auge fesselnd auf sich zieht. Sehen wir mit schärferem Blicke zu, so finden wir uns zu einer Teilnahme gedrängt, wie wir sie keinem Märtyrer schenken, und zu der Anbetung einer Gottesweisheit, wie wir sie nirgends anders in einem gleichen Strahle der Verklärung schauen. Wir fragen, wie Maria glauben lernte!
Verständen wir unter dem Glauben, zu welchem sie hindurchdringen sollte, nur überhaupt die Überzeugung von der göttlichen Gestalt des Herrn, so könnten wir freilich, von keiner selbstverleugnenden Mühe reden, mit welcher sie ihn sich erringen und bewahren musste. In diesem Sinne war er ihr geschenkt, ja aufgedrängt. Wer anders wusste es mit einer so zuversichtlichen Gewissheit, dass das Heilige, das sie geboren hatte, der Sohn des lebendigen Gottes sei; wer anders hatte in der Rückerinnerung an die unmittelbar erlebten Weihnachtswunder eine so siegreiche Kraft, die leisesten Anwandelungen des Zweifels schon im Entstehen zu ersticken! Was sie dem Engel auf seine Botschaft entgegnet, wovon ihr Lobgesang bei jedem frischen Griffe in die Saiten wiederklang: das stand als beständige Hut an der Pforte ihres Herzens, der Boden unter ihren Füßen wäre ihr gesunken, wenn sie an diesem Glauben auch nur augenblicklich hätte können irre werden. War aber das ihr vorgestecktes Ziel, dass sie in Jesu ihren Herrn und Heiland fände, dessen Wort ihre Speise, dessen Vorbild ihre Regel war, der auch für sie sein Blut vergossen, auch ihr zu Gute der Pfleger der wahrhaftigen Hütte geworden, ja hingegangen war, um auch ihr die Stätte in dem Vaterhause zu bereiten: wohlan, den Glauben musste sie sich unter Kämpfen, unter Seelenschmerzen erringen, wie sie in dieser Art, mit solchem Weh nie eine andere Brust ergriffen haben. Nicht sowohl darin war diese Schwierigkeit für sie begründet, dass sie den Herrn als armes schwaches Kind gesehen, und dass sich also auch an ihr vermöge ihres täglichen Verkehrs mit ihm die oft bewährte Erfahrung rechtfertigen konnte, „ein Prophet gilt nirgends weniger, als in seinem Hause und bei den Seinen“: sondern sie beruhte viel vollständiger auf demselben Umstande, welcher ihr sonst den Glauben wesentlich erleichterte, auf ihrer mütterlichen Stellung zu dem Heiland aller Welt! Haften wir indes nicht bloß an dem, was uns zunächst vor Augen tritt.
„Geboren von dem Weibe und unter das Gesetz getan“, hatte sich der Herr auch dem Gebote unterworfen, welches eine Ehrfurcht gegen seine Mutter von ihm forderte. Was uns von dem Knaben ausdrücklich erzählt wird, „und er ging mit ihnen hinab und kam gen Nazareth, und war ihnen untertan“, das ragte ohne Zweifel - wenn auch vielleicht unter anderen Formen - noch in die Zeit seiner späteren Gemeinschaft mit der Maria hinein. Manches andere Gemüt hätte dadurch zu irrigen Schlüssen, zu falschen Übergriffen verleitet werden können: sie hatte das Herz dazu, in dieser Unterwerfung ihres Kindes mit Leichtigkeit die freie Selbsterniedrigung des Sohnes Gottes zu erkennen. Nun aber wurde mehr von ihr begehrt. Von der Stufe, zu welcher sie die Gnade erhoben hatte, sollte sie in Selbstverleugnung herabsteigen; sie sollte es vergessen, dass sie die Mutter des Erlösers war; dies Leben sollte sie verlieren, um das wahre Leben einer Jüngerin des Herrn dafür zu finden. Gewiss ist es in allen Fällen eine harte Forderung, um des Herrn willen Vater und Mutter, Weib und Kind zu verlassen: aber für Maria spannte sich dieselbe bis zur allerhöchsten Spitze ihrer Herbigkeit und Schwierigkeit. Denn in ihrem Falle war es derselbe, welchen sie verlassen musste, und wiederum derselbe, um dessentwillen sie das Opfer bringen sollte; verlassen sollte sie das Kind ihres Leibes, um an der Stelle des Verlassenen den Heiland zu gewinnen, an dessen Gnadenthrone wie für alle anderen Sünderinnen also auch für sie Barmherzigkeit zu finden war. Gewiss ist es unter allen Umständen ein bitteres Geschäft, die Güter der Natur gegen die Gaben der Gnade daranzugeben: aber für Maria war der Tausch mit einer unerhörten Bitterkeit verknüpft. Denn hier streifte die Natur so nahe an die Gnade, dass die Grenze zwischen beiden kaum recht festzuhalten ist; da war das natürliche Band so zart und rein, ja fast so seligmachend, dass die Beharrlichkeit und Zähigkeit des Widerstrebens - aufs Mildeste gesagt erklärlich, wenn nicht geradezu verzeihlich war. Gleichwohl es musste überwunden werden, sonst „hatte sie an Jesu keinen ewigen Teil.“ Und die Weise, wie sie jenen schönen Kampf des Glaubens stritt und endlich das Kleinod errang, sie macht den wesentlichen Inhalt ihrer inneren Geschichte aus; es ist der goldene Faden, welchen wir verfolgen.
Zu hoch und schwer war die Aufgabe, die sich der Maria stellte, als dass sie aus sich selbst die Kraft zu deren Lösung hätte schöpfen können. Allerdings wir kennen ihre tiefe Herzensdemut, „siehe, ich bin des Herrn Magd, mir geschehe, wie du gesagt hast“; und wir kennen ihren gläubig frommen Sinn, „O selig bist du, die du geglaubt hast“: aber selbst die allerglücklichste Ausstattung des Gemüts machte hier die Hilfe von außen nicht entbehrlich. Von wannen musste sie ihr kommen? Ob irdische Schicksale, vielleicht ein früher Tod des Mannes, welchem sie vertraut war, und die dadurch bedingte Witweneinsamkeit ihr Auge für das Eine Notwendige mehr und mehr geschärft: wir wissen es nicht. Das aber wissen wir, dass der Kreis, in welchem sie sich zu bewegen pflegte, ihr mehr zum Anstoß, als zur Förderung gereichen konnte. Denn „auch die Brüder Jesu“ - so erzählt das Evangelium - „glaubten nicht an Ihn“; - aber freilich selbst aus einer günstigeren Umgebung würde ihr zu ihrer inneren Arbeit keine bessere Stärkung zugeflossen sein, als dem großen Kämpfer in Gethsemane aus der Gemeinschaft mit den auserwählten Jüngern. Sie bedurfte der Seelsorge von oben her; die Kraft und Weisheit dessen musste sich an ihr verherrlichen, der jedes guten Streiters Beistand ist. Sehen wir, wie das geschah! - Nicht leicht hat sich das Schriftwort von der Freude des Weibes, wenn sie den Menschen zur Welt geboren hat, an irgend einer Mutter herrlicher bewährt, als an der auserkorenen Jungfrau selbst. Ihr eigener Mund strömte von der Fülle dieser Empfindung über: „von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder, denn der Herr hat große Dinge an mit getan“. Und in dem Maße, als das Kind wuchs und zunahm an Alter und Weisheit, an Lieblichkeit vor Gott und den Menschen, gewann der Jubel ihres Herzens neuen Stoff und Halt. Die natürliche Teilnahme mag ihr diese unbefangene Mutterfreude gönnen: das hellere Auge erkennt die Gefahr, die ihr von hier aus drohte und ihr als ernstliche Versuchung nahe trat. Wie leicht konnte ihr die Unmittelbarkeit der Freude die wahren Aufgaben verdecken und sie zu dem Wahne verleiten, als hätte sie bereits was sie doch erst erringen sollte, als wäre Mutterseligkeit die wahre Seligkeit des gläubigen Gemüts! Und so hören wir denn schon wohl, wo Menschen und Engelzungen sich zum Preise der ihr widerfahrenen Huld vereinigen und wo der volle Strom des Hochgefühls derselben ihre Brust durchwogt, ein Warnungswort vom Himmel her herniedertönen. Sie erscheint das Kind auf ihren Armen vor dem Herrn in seinem Heiligtume; sie will das Opfer ihres Danks bezahlen und die wahre Weihe ihrer Freude heimnehmen. Und ein Greis, welcher bis zum Rande des Grabes auf den Trost Israels geharrt hatte, war auf Anregen des Geistes in den Tempel gekommen. Segnend lässt er seine Hände auf Marias Haupt ruhen, aber in der Kraft des Geistes entbietet er ihr zugleich das Wort: „es wird ein Schwert durch deine Seele dringen.“ Allerdings tritt uns im Lichte dieser Weissagung sofort das Bild der „tränenreichen Mutter“, da sie an dem Fuße des Kreuzes stand, vor Augen: aber schwerlich geht in diesen bloßen Blick auf Golgatha der wahre Sinn der Geistesworte auf. Nicht den Eindruck bringen sie hervor, als würde dereinst ein harter Schlag urplötzlich und zermalmend herniederfahren, sondern sie deuten viel vollständiger einen Schmerz und Kampf, der schon von dieser Stunde ab beginnen sollte. Der Apostel redet später von dem zweischneidigen Schwerte, welches durchdringe, bis dass es scheide Seele und Geist, auch Mark und Bein, und richte die verborgenen Gedanken des Herzens: nach seiner Regel denken wir in diesem Falle an ein Schwert, welches alle mütterliche Wonne in der heiligen Freude an den Heiland Gottes sollte untergehen, ja sterben lassen. Maria behielt die Worte, die Symeon zu ihr geredet hatte, und bewegte sie in ihrem Herzen, wohl ohne sie noch völlig zu verstehen: es schlug die Stunde, da der Keim des Samenkorns zum Durchbruch kam.
„Da Jesus zwölf Jahre alt war, gingen seine Eltern mit ihm hinauf gen Jerusalem nach der Gewohnheit der Ostern.“ Wir kennen den Verlauf des Festbesuchs. Die Mutter suchte das verlorene Kind; sie fand es in demselben Tempel, in welchem ihr das Wort vom Schwert geweissagt war. Und eben hier erlitt sie dessen ersten schneidend scharfen Streich. Gewiss ruht ein jedes Auge mit unbedingtem Wohlgefallen, um nicht zu sagen mit inniger Rührung auf der Erscheinung des Knaben, und nicht Worte genug kann man finden, um die Herrlichkeit seiner Antwort, „was ist es, dass ihr mich gesucht habt? wusstet ihr nicht, dass ich sein muss in dem, das meines Vaters ist?“ nach allen Seiten hin ins rechte Licht zu stellen. Aber Eine Seele wurde dadurch nicht erbaut. Mit Entsetzen sieht ihn Maria mitten unter den Lehrern sitzen, ja seine rechtfertigende Frage steigert ihr anfängliches Befremden zu einer ungleich schmerzlicheren Empfindung. Da achtet der Knabe kaum auf die eintretende Mutter, die Unterbrechung ist ihm beinahe ungelegen; er macht keine Miene, ihr entgegen zu eilen, das aufgeregte Gemüt zu begütigen und eine Freude über die Wiedervereinigung zu äußeren; er scheint so kalt, er tut wie fremd! Kann einer Mutter, welche ihr Kind mit ungeteiltem Herzen umfasst, schon überhaupt die Entdeckung nicht wohltuend sein, dass es noch von anderen Empfindungen erfüllt sei, als von der Zuneigung zu ihr, dass es von einem anderen Verlangen getrieben werde, als von der Sehnsucht nach Gemeinschaft mit ihr, dass eine höhere Liebe seine Kindesliebe in den Sieg beschloss: wie empfindlich musste sie vollends das schneidende und scheidende Wort aus seinem Munde berühren, „in dem muss ich sein, das meines Vaters ist“! Da mischt sich das Salz eines Ernstes in ihr Verhältnis zu ihm, von welchem sie zuvor noch nichts verspürt, und es zeigt sich ihrem Auge eine Kluft, die ihr das Kind - wir sagen nicht aus dem Auge oder aus dem Herzen rückt, aber um so vollständiger der Unbefangenheit und Unmittelbarkeit der bisherigen Gemeinschaft entzieht. In dem Augenblicke, wo sie den schmerzlich Gesuchten äußerlich gefunden hat, verliert sie ihn in einem tieferen Verstande; aber auch die Ahnung dämmert in ihr auf, dass vermöge einer neuen Herzensstellung zu dem Sohne ein reichlicher Ersatz für den erlittenen Verlust zu finden sei. „Und Maria behielt alle diese Worte in ihrem Herzen.“ Nein, sie ließen sich nicht leicht vergessen, selbst die Welle des bewegtesten Lebens hätte sie nicht verwischen können: und so bleiben sie bei ihr als eine gute Beilage, damit sie die köstliche Perle jener höheren Gemeinschaft mit Jesu in unverdrossenem Eifer suchte und - wie kostbar der Preis derselben immer war, erstände! Aber fällen wir wohl ein richtiges Urteil. Als der Herr sein Prophetentum begann, als er umherziehend in Israel mächtige Taten vollbrachte, Schulden erließ und Sünden vergab, Worte der Kraft und des ewigen Lebens redete: da stellte er sich auf eine Höhe, zu welcher jedes aufrichtige Gemüt in tiefster Herzensehrfurcht aufsehen musste; - wir könnten fragen, ob nicht vor Allen anderen „die demütige Magd“ dazu befähigt war. Schon recht; nur Eine Gefahr dürfen wir nicht übersehen, die gerade ihr vorhanden kam! Die Geschichte der Schrift schildert sie selbst.
„Und es begab sich, da Jesus eine Rede vollendet hatte, erhob ein Weib im Volke ihre Stimme und sprach zu ihm: selig ist der Leib, der dich getragen hat, und die Brüste, welche du gesogen hast.“ Konnten solche Empfindungen ein teilnehmendes fremdes Gemüt durchgehen; wie hätte sich nicht Marias eigene Brust in der Kraft des Gedankens heben mögen: Dieser viel und allgemein Bewunderte, auf welchen Aller Augen sehen, mit seinen holdseligen Lippen, mit seinem mächtigen Arme, - er ist mein Sohn! Der natürliche Mutterstolz war die Klippe, an der ihr Glaubensschifflein schon im Anfang seines Laufes hätte scheitern können. Fühlte sie sich bei den Regungen desselben bis zum Himmel erhoben: so musste sie durchaus von dieser Höhe herniedersteigen, denn dort war kein Gedeihen für die Pflanze ihres Glaubens zu erwarten. Aber wie treu hat ihr der Herr geholfen, diesen Niedergang der Demut zu vollziehen! Was er jenem Weibe entgegnete, „ja, selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren“: dasselbe ist die Regel, die er auch an ihr befolgt, - und seine Arbeit blieb nicht ohne Frucht. Geschah es nur selten, dass er während seiner öffentlichen Wirksamkeit mit seiner Mutter in Berührung trat, so war auch das berechnet und bedacht; aber diese wenigen Begegnungen, wie sie uns das Evangelium erzählt, - von welcher Weisheit tragen sie das Zeugnis in sich selbst!
Dem natürlichen Gefühle mögen seine Worte hart und strenge lauten, aber „sie haben ausgerichtet was ihm gefiel, und es ist ihnen gelungen, wozu er sie sendete.“ Auf der Hochzeit zu Kana finden wir den Sohn und die Mutter. Sie spricht zu ihm: sie haben nicht Wein. Und er antwortet: Weib, was habe ich mit dir zu schaffen? meine Stunde ist noch nicht gekommen! Lassen wir es unentschieden, ob Maria hier ihre Mutterrechte zu einer leisen Bitte geltend macht, oder ob sie ohne eigentliche Absicht nur überhaupt die eingetretene Verlegenheit berührt: darüber kann kein Zweifel sein, der Heiland scheidet sich von ihr, nicht minder scharf, wie später von dem Jünger, welchem er gebietet, hinter ihm zu gehen; Er sei von oben her, sie von unten her; Er meine was göttlich, sie was menschlich ist; Seine Gedanken seien nicht ihre Gedanken und Seine Wege nicht ihre Wege. Aber auch das steht fest: indem sie zu den Dienern spricht: „Was Er euch sagt, das tut“, so fügt sie sich vor Allem selbst in diese ihr gewiesenen Schranken und sie bescheidet sich in wahrer Herzensdemut.
„Und es begab sich, als Er lehrte, da kam seine Mutter und seine Brüder und standen draußen und ließen ihn rufen. Er aber antwortete ihnen und sprach: meine Mutter und Brüder sind diese, die Gottes Wort hören und tun.“ Wir ahnen es in teilnehmendem Mitgefühle, wie tief dies scharfe Wort in ihre Seele schnitt. Da stellt sie der Herr mit allen anderen Gliedern seines Volks auf eine und dieselbe Stufe, ohne ihr irgend welche besonderen Ansprüche einzuräumen; er will auch sie nach jenem Einen Maßstab messen, der allen wahren Wert erprobt; und befand es sich, dass andere Herzen inniger als sie das Wort der Wahrheit liebten und bewahrten: so war ein rücksichtsloses: „Weiche diesen!“ ihr gewisses Teil. Das hieß, den Stolz der Mutter brechen, ja die Art an dessen Wurzel legen. Aber wollen wir uns von ihr das Bild gestalten, dass sie sich etwa tief gekränkt, eine Träne des Unmuts im Auge, vielleicht bedauert von dem umherstehenden Volke zurückgezogen habe? Setzen wir eine solche fleischliche Empfindlichkeit nicht mehr bei ihr voraus; wir haben alle Ursache zu der Annahme, dass sie ungeachtet ihres Wehs gleichwohl in einem neuen und gewisseren Geiste das alte Wort in ihrem Herzen sprach: „Siehe, ich bin des Herrn Magd, mir geschehe, wie du willst!“ - So dürfen wir sie denn wohlvorbereitet nennen, den Rest des Kelches, welcher ihr beschieden war, zu leeren.
„Es stand aber bei dem Kreuze Jesu seine Mutter.“ Aber nicht das können wir als die Bitterkeit dieser letzten Tropfen erachten, was uns zunächst unfehlbar in Gedanken kommt. In dem gerechten Mutterschmerze der Maria sehen wir vielmehr die letzte und höchste Gefahr, die es zu vermeiden galt. Gemessen nach dem Maßstab der natürlichen Empfindung war allerdings ihr Schmerz gerecht; denn der Tod entriss ihr ihren „ersten“ Sohn - und sie war eine Witwe; und welch ein Tod - der Tod der Missetäter! Aber hätte sie diesen Gedanken ausschließlich nachgehangen, wären das ihre Karfreitagsgefühle geblieben: so wäre der glimmende Docht ihres Glaubens unausbleiblich verlöscht und um die wahre Hoffnung wäre sie gekommen. Nein, nicht das war das Schwert, von welchem Symeon zu ihr geredet hatte. Sondern hier unter dem Kreuze sollte sie es im tiefsten Sinne und im ganzen Umfange verlernen und vergessen, dass der Zerschlagene und Sterbende der Sohn ihres Leibes sei; hier lernen, dass er als das Lamm Gottes auch ihre Sünde trage, auf dass sie in dem Glaubensblick auf den Versöhner Vergebung und das ewige Leben fände. Auch darin war der Herr ihr treuer Helfer.
„Da nun Jesus seine Mutter sah, und den Jünger dabei stehen, den er lieb hatte, spricht er zu seiner Mutter: Weib, siehe, das ist dein Sohn!“ Wir wehren es Niemanden, hier von einer rührenden Trennungsszene zu reden; selbst das räumen wir bereitwillig ein, dass dem gebeugten Weibe in ihrem überströmenden Schmerze ein Ersatz verliehen werde, wie er nur immer auf Erden möglich war: dass man aber darüber nicht den wesentlichen Inhalt dieses Abschiedswortes versäume! Spricht der Herr: das ist dein Sohn, - so erklärt er ihr unumwunden, er sei es selbst hinfort nicht mehr. Und so entlässt er sie aus ihrer mütterlichen Stellung. „Geboren von dem Weibe und unter das Gesetz getan“: das Beides hat der Apostel unzertrennlich mit einander verbunden, eins steht und fällt mit dem anderen. Als Jesus mithin den Fluch des Gesetzes erduldete, so dass es fürder keinen Teil an ihm hatte: so war die Stunde gekommen, wo er auch das andere Band zerschnitt. Gleichsam befreit von demselben und von seinem mannichfachen Zauber sollte die Maria nun gleich allen anderen sündhaften Töchtern Jerusalems auf den zu ihrer Seligkeit erhöhten Gottessohn emporsehn. Sie starb unter dem letzten Streiche des geweissagten Schwertes; aber weil sie durch Jesum gestorben war: so hatte sie den Anspruch auf die österliche Freude. Ihr Ostern war das selige Erwachen zu dem Leben einer gläubigen Jüngerin des Herrn.
Der einzige Blick, welchen uns die heilige Geschichte in den noch übrigen Teil ihrer irdischen Tagesstunden verstattet, zeigt die Maria als ein schlichtes Mitglied der Gemeinde Jesu Christi.
„Die Jünger alle waren einmütig bei einander mit Beten und Flehen, samt den Weibern und Maria, der Mutter Jesu.“ Zu dieser bescheidenen Stelle war sie herabgestiegen, - sagen wir vielmehr emporgelangt. Dass sich ihr Bild im ganzen Umfange der Ostergeschichte dem suchenden Auge entzieht: das befremdet uns nicht. Aber wir finden den Grund nicht in der Größe eines Schmerzes, dem die tiefste Einsamkeit Bedürfnis war, sondern er liegt in der Treue der Seelsorge zu Tage, die der Herr noch wohl an ihr bewährte. Mit Absicht hat der Auferstandene sie vermieden. In einer viel strengeren Weise würde er ihr haben wehren müssen, „rühre mich nicht an!“ als wie er jene andere Maria von sich wies; - sie sollte nicht gestört werden in dem Aufgang zu der Höhe, welche der Apostel erreicht zu haben versichert und welche für sie viel schwerer zu erklimmen war, als für irgend ein anderes Gemüt: und ob ich Jesum gekannt habe nach dem Fleische, so kenne ich ihn nun nicht mehr! Bis zu einem gewissen Grade sind wir es im Stande, uns eine Vorstellung von ihrem Leben im Schoße der erblühenden Gemeinde zu gestalten, und in der Tat nicht bloß in Kraft der Phantasie! Es ist Niemand, so verheißt der Herr, der um meinetwillen sein Kind verlässt, welcher es nicht in dieser Zeit hundertfältig wiederfände. Maria, die ihr Kind um ihres Heilandes willen verlassen hatte, wird jenen hundertfältigen Ersatz unter den Gotteskindern gewonnen haben, welche das Kreuz des Erlösers gesammelt hatte und vereinigt hielt. Einen Sohn hat sie insonderheit gefunden. Siehe, das ist deine Mutter: so sprach der Gekreuzigte zu Johannes.
„Und von der Stunde an nahm sie der Jünger zu sich.“ Was später ein Apostel an die ihm äußerlich noch fremde Römische Gemeinde schreibt, „mich verlangt, euch zu sehen, auf dass ich euch mitteile etwas geistlicher Gabe, euch zu stärken, das ist, dass ich samt euch getröstet würde durch euren und meinen Glauben, den wir unter einander haben“: das wird der Inhalt der besonderen Gemeinschaft gewesen sein, welche diese Mutter und dieser Sohn im Herrn gepflogen haben. Wie lange sie währte, wie lange überhaupt Maria noch in dem irdischen Kanaan weilte: wir wissen es nicht; das aber glauben wir, als ihre Todesstunde schlug, da ist die demütige Magd des Herrn in Frieden dahingefahren, denn im tiefsten und umfassendsten Verstande hatten ihre Augen den Heiland Gottes geschaut. Reden manche Christen von einer Himmelfahrt der Maria: in Einem Sinne vermögen auch wir uns mit diesem Gedanken zu befreunden. „In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen; ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten; und ob ich auch hingehe, will ich doch wieder kommen und euch zu mir nehmen, auf dass ihr seit, wo ich bin.“ Auch Maria hat er heimgeholt in seines Vaters Haus! Und wiederum, sehen manche Christen im Geiste eine Krone auf ihrem Haupte: in Einem Sinne, aber freilich nur in diesem Einen, spricht auch unsere Kirche dazu ihren Beifall aus. „Hinfort ist mir beigelegt“, so sagt der Apostel, „die Krone der Gerechtigkeit, welche mir der Herr, der gerechte Richter, geben wird an jenem Tage, nicht aber mir allein, sondern auch Allen, die seine Erscheinung lieb haben.“ Allen, die seine Erscheinung lieb haben -: in diesem Kreise hat Maria ihren sicheren Platz! Als sie zur Mutter des Herrn war erwählt worden, da griff sie in die Harfe und fang: Er stößt die Gewaltigen vom Stuhle und erhöht die Niedrigen. Jetzt hat sie das Ende ihres Glaubens davongetragen, wohl die Gnade, welche den Demütigen verheißen ist, in ihrer letzten, höchsten Entfaltung erlangt, - und diese Krone wird ihr Niemand nehmen.