Schopf, Otto - Wir wollten Jesum gerne sehen.
Es waren aber etliche Griechen unter denen, die hinauf kommen waren, daß sie anbeteten auf das Fest. Die traten zu Philippus, der von Bethsaida aus Galiläa war, baten ihn und sprachen: Herr, wir wollten Jesum gerne sehen. Philippus kommt und saget’s Andreas, und Philippus und Andreas sagten’s weiter Jesus. Jesus aber antwortete ihnen und sprach: Die Zeit ist kommen, daß des Menschen Sohn verkläret werde. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Es sei denn, daß das Weizenkorn in die Erde falle, und ersterbe, so bleibt’s allein; wo es aber erstirbet, so bringet’s viel Früchte.
Joh. 12,20-24.
An dem Verlangen der Griechen, Jesum zu sehen, erkennt der Herr, daß die Stunde der Verherrlichung des Menschensohnes gekommen ist.
Im Gehorsam gegen den Vater hat er seine Tätigkeit, mit wenigen Ausnahmen, nur auf die verlorenen Schafe vom Hause Israel beschränkt. Nun zeigt es sich, daß die Heiden herzukommen und nach ihm fragen. Nach der Wurzel Isai werden die Heiden fragen (Jes. 11,10). Ich werde gesucht von denen, die nicht nach mir fragen (Jes. 65,1). Diese Weissagungen erfüllen sich hier anfangsweise. Darin lag eine Verherrlichung Jesu. Darin lag aber wohl ein Hinweis, daß jetzt auf dieser Entwicklungsstufe alles erreich war, was durch Wort und Tat erreicht werden konnte, daß seine Zeugen- und Wundertätigkeit ihrem Höhe- und Endpunkt nahe war und daß jetzt das größte Zeugnis und das höchste Wunder bevorstand, nämlich das von Golgatha.
Der unmittelbare Anschluß des Wortes: Es sei denn, daß das Weizenkorn in die Erde falle und ersterbe, so bleibt es allein, wenn es aber erstirbt, so bringt es viele Frucht, läßt uns fragen: Wie hängt dieses Wort zusammen mit dem eben vorausgehenden von der Verherrlichung Jesu? Ist Sterben denn nicht Vernichtung? Nein, darauf antwortet Jesu Wort: Sterben ist der Weg zur Fruchtbarkeit, zu reicher Fruchtbarkeit. Ja noch mehr, das Erhaltenwollen des Lebens führt zum Verlust des Lebens, während das Hassen des Lebens in dieser Welt zu einem Gewinnen des Lebens in einer höheren Daseinsform, d.h. zum ewigen Leben führt. Aus diesem Zusammenhang ergibt sich, daß die Verherrlichung Jesu zusammenfällt mit dem Sterben. Dazu paßt auch sein Wort im 32. Vers unseres Textes: Wenn ich erhöht werde von der Erde, will ich sie alle zu mir ziehen. Auch hier diese merkwürdige Doppeldeutigkeit, die es uns doppelt deutlich macht, daß alle unsere Begriffe einer Umwälzung, Umwertung und Umschmelzung, ja einer Umkehrung in ihr Gegenteil bedürfen. Das ist aber auch verständlich, wenn wir bedenken, daß durch die Sünde eine völlige Verkehrung unseres Wesens erfolgt ist.
Klein, reif, edel, einsam ist das Weizenkorn, das gesät wird, aber es ist lebendig, d.h. es hat einen Lebenskeim, eine Lebenskraft in sich. Der Keim ist angelegt auf ein Gewächs, das viele Weizenkörner tragen soll, die ihrerseits wieder ins unzählbare sich vervielfältigen können oder als Lebensträger und –beförderer andern zur Nahrung dienen. In diesem Gebilde sieht der Heiland ein Abbild seiner selbst. In dem Gesetz und dem Prozeß, dem das Weizenkorn unterworfen ist, sieht er dasselbe Gesetz und denselben Prozeß, dem er unterworfen ist, oder doch ein Gleichnis, eine Aehnlichkeit seines Leidens- und Verherrlichungsweges.
Hat er recht? Wir können’s ihm aufs Wort glauben und glauben es ihm aufs Wort, wenn wir ihnen kennen. Wir können aber auch sein Wort prüfen, es verträgt sicher die weitestgehende und sorgfältigste Untersuchung, die anspruchsvollste und schärfste Auslegung und Ausdeutung.
Fällt seine Verherrlichung wirklich zusammen mit seinem Sterben? Wir wollen die Frage scheinbar beiseite legen, indem wir fragen: Wissen wir etwas wichtigeres in seinem Leben, war er irgend einmal uns größer als an seinem Kreuz? Gewiß, in der Taufe ist er groß, als er dort, alle Gerechtigkeit erfüllend, selbst ohne Sünde als Gotteslamm der Welt Sünde auf sich nimmt. Aber es ist nur ein Anfang dessen, was wir am Kreuz vollendet sehen. Er offenbarte in Kana seine Herrlichkeit zuerst, aber so groß er uns auch dadurch ist, daß er dies in so schlichtem Kreis und Rahmen tut, empfinden wir doch alle, daß uns dies nur einen charakteristischen Zug des Bildes Jesu zeigt, der auf ein Größeres hinweist. Es ist ein Vorbild und eine Vorahnung dessen, was er auf Golgatha tat, als dort seine Stunde gekommen war, sich in den Dienst der Menschheit zu stellen. Gedenken wir irgendeiner Krankenheilung, gedenken wir irgendeiner Rede, die er gehalten hat, gedenken wir der Tempelreinigung, der Stillung des Sturmes auf dem Meer oder der Auferweckung des Lazarus. Wir empfinden sofort, daß, wenn Matthäus das Wort: Fürwahr er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen, bei seinen Krankenheilungen erfüllt sieht, die Worte auf Golgatha erst recht ganz erfüllt werden. Soviel köstliches sein Mund auch redete, köstlicheres hat er nicht ausgesprochen als die Worte am Kreuz, und das Wort „Vollbracht“ ist der Gipfel und die Summe aller seiner Worte. Hier, wo die ganze Höllen- und Todesmacht auf ihn einstürmt, hat einen andern Sturm zu beschwören, als einst am See Genezareth. Hier ist er ernster, anklagender, und alles Unreine und Unrechte wird heller geoffenbart und weiter weggeschleudert als etliche Tage vorher im Tempel. Die Auferweckung des Lazarus war diejenige Tag, die seinen herrlichen Empfang am Palmsonntag herbeiführte, die seine ganze Wundertätigkeit krönte. Aber hier am Kreuze sehen wir ein Wunder, das alle Wunder in den Schatten stellt. Hier sehen wir ihn als den Herrn des Lebens und des Todes, dem niemand sein Leben nehmen kann, der Macht hat, es von sich zu lassen, nicht wann der Tod will, sondern wann er will. Und so selig und herrlich und von weittragender Bedeutung die Auferstehung und die Himmelfahrt ist, unser Auge und unser Herz bleibt gefesselt durchs Kreuz auf Golgatha.
Ich bin durch alle Zeiten, ja wohl durch Ewigkeiten
In meinem Geist gereist.
Nichts hat mir’s Herz genommen, als da ich angekommen
Auf Golgatha! Gott sei gepreist.
Nirgends hat er größeres vollbracht, nirgends ist er schöner als hier, nirgends wird mehr offenbar, was in ihm ist, als hier am Kreuz. Hier wird es wirklich klar, hier wird er also verklärt. Hier wird es in seiner ganzen Herrlichkeit offenbar, das Herz Jesu. Hier wird es verherrlicht. Er war demütig als zwölfjähriger Jüngling, demütig als Zimmermannssohn, demütig in seiner Armut, da er nicht hatte, wo er sein Haupt hinlegte, demütig bei der Fußwaschung, aber am Kreuz, wo er den Sklaventod starb, da fühlen wir’s, hier gilt es am völligsten: „Er erniedrigte sich selbst“, und wir müssen noch mehr als an der Krippe anstimmen: „Sehet dies Wunder, wie tief sich der Höchste hier neiget.“
Er war seinen Eltern untertan in Nazareth, war dem Geist gehorsam, so oft er einem heiligen „Muß“ folgte, und er redete und tat, was er den Vater reden hörte und tun sah, aber die Schrift sagt: „Er hat an dem, das er litte, Gehorsam gelernt,“ und die höchste Stufe seines Gehorsams bezeichnet sie mit den Worten: „Er war gehorsam bis zum Tode am Kreuz.“
Ist seine Sanftmut, sein Erbarmen, seine priesterliche Stellung jemals heller offenbar geworden, als da er, der eben ans Kreuz Geheftete, als erste Antwort auf die namenlose Pein, die ihm bereitet wird für Leib und Seele, den Seufzer zum Vater aufschickt: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“?
In Kana war er zartfühlend, in seinen Gleichnissen zeigt er, daß er auf das kleinste achtet, seine Besorgnis für seine Jünger, die ein wenig ruhen sollten, sein Mitleid mit dem gekrümmt zu ihm kommenden 18 Jahre lang kranken Weiblein zeigt, wie er auf alle Einzelheiten unseres Empfindens in herzlicher Liebe eingeht, aber die Höhe seines Zartgefühls zeigt sich doch in dem Wort am Kreuz an seine Mutter und an seinen Jünger.
Er hat manchmal das Evangelium verkündet den Armen, er hat Sünder angenommen und ist bei Bettlern stehen geblieben, um ihre Not sich sagen zu lassen, aber Matthäus und Zachäus und Bartimäus oder die große Sünderin haben nicht so süß und mit so holdseligen Worten, so in letzter Stunde das selige Heute, die völlige Vergebung, die völlige und freudige Gemeinschaft mit den Elenden und Sündern aussprechen hören, als der namenlose Schächer, dem er ankündigt: „Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein.“
Vom Stalle in Bethlehem mit seinem Kripplein und von der Reise nach Aegypten an, auf dem Werkplatz der Bauleute in Nazareth, bei vierzigtägigem Fasten in der Wüste, als er am Jakobsbrummen, ein müder Wanderer, saß, als er nicht essen konnte wegen der ihn drängenden Menge, als er am unfruchtbaren Feigenbaum keine Frucht fand, und als er am Grabe des Lazarus und beim Anblick Jerusalems weinte, als sein Rücken von Geißelhieben zerfleischt und seine Stirn von Dornen zerrissen war, hat er in Elend, in Schwachheit, in Mangel und Schmerz seine wahre Menschheit bewiesen und gelitten, was wir gelitten und nicht gelitten haben, aber am ergreifendsten ist und bleibt sein Ruf am Kreuz: „Mich dürstet.“
Er hat in der Versuchungsstunde in der Wüste und als die Versuchung in der Person Petri an ihn herantrat, er hat unter der Schwachheit seiner Jünger, unter der Herzenshärtigkeit und Falschheit der Pharisäer, als er Judas Kuß und Petri Verleugnung voraussah, er hat, wenn ihn Scharen von Sündern und Kranken umdrängten, schauerliche Blicke getan in das menschliche Verderben, in Satans Macht und in alle Gottesferne, in die die Sünde uns Menschen brachte, aber daß er willig sei, in diese schreckliche Dunkelheit freudig herabzusteigen, ungeahnten Leidenstiefen sich auszusetzen, sein herrlichstes, sein alles zu entbehren und daran zu geben, um ein Fluch für uns Sünder zu werden, das erkennen wir erst hier am Kreuz. Lang schon sah er mit immer zunehmenden Schauern die Taufe nahen, vor der ihm so bangte. Als sie ganz nahe kommt, sagt er, wie wir oben hörten: „Jetzt ist meine Seele bestürzt.“ In Gethsemane hören wir, daß seine Seele betrübt ist bis in den Tod, und wir sehen ihn zittern und zagen und sein Schweiß rinnt wie Blutstropfen, die fallen auf die Erde. Aber am Kreuz vernehmen wir atemlos und von Schauer durchbebt bei der Ahnung der unverstandenen und unverständlichen Leidenstiefen in seiner Seele von seinen bebenden Lippen den erschütternden Ruf: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?!“ Verlassen, von Gott verlassen, von dem Verständnis verlassen, wenn Gott es tat, und doch sagt er „mein Gott“, und doch fleht er jetzt nicht „Vater, rette mich aus dieser Stunde.“
Hier müssen wir verstummen und schweigend anbeten, und ohne daß wir es ausmalen und ausreden und ausdenken können, wissen wir deutlich, tief und klar: Herrlicher ist seine Gemeinschaft mit dem Vater und herrlicher ist seine Gemeinschaft mit uns Sündern nie offenbar geworden, als hier. O namenlose Liebe Jesu, o namenlose Liebe Gottes, o namenloser Abgrund, aus dem heraus er uns rettete, o namenloser Preis, den er für uns bezahlte. Ja, die Stunde ist hier, daß des Menschen Sohn verherrlicht werde. Was brauchen wir weiter Zeugnis. Ja, Jesu Kreuz und Jesu Verherrlichung gehören zusammen, wenn auch schon auf dem Berge der Verklärung ihn Himmelsherrlichkeit umfloß, als er mit Mose und Elias redete von dem Ausgang, den er zu Jerusalem, d.h. am Kreuze nehmen werde. Möchtet ihr ihn lieber auf Tabors Höhen oder auf Golgatha sehen? Ja, Vater, hier hast du deinen Namen verherrlicht; hier ist uns Jesu Kreuz und in Jesu Herz dein Herz offenbar geworden.
Und nun verstehen wir es, wie Paulus das ganze Evangelium nennen kann das Wort vom Kreuz, und wie er, als er in die allerfleischlichste und allerweichlichste, die weisheitsstolze und vergnügungssüchtige griechische Stadt kam, bei sich beschloß, alledem gegenüber das himmlische Licht, das er ihnen zu bringen hatte, hell aufstrahlen zu lassen, indem er ihnen Jesum zeigte, aber Jesum, wie er am offenbarsten und herrlichsten ist, jesum, den Heiland der Welt, Jesum, der der Welt Sünde getragen hat, Jesum, den Gekreuzigten, der Frieden gemacht hat durch das Blut an seinem Kreuz, der die getrennte Menschheit vereinigt und einen neuen Menschen geschaffen hat an seinem Kreuz; Jesum, der am Kreuz einen Triumph über alle Fürsten und Gewaltigen davontrug und die Handschrift, die wider uns war, zerriß; Jesum, durch welchen uns die Welt gekreuzigt ist und wir der Welt.
Und als diese Worte vom Kreuz am Pfingsttage zum erstenmal von geisterfüllten Menschen verkündigt und Israel der gezeigt wurde, den sie durch die Hand der Gesetzlosen ans Kreuz geheftet und umgebracht hatten, da ging es 3000 Zuhörern durchs Herz. Und als wiederum diese Botschaft erscholl, da wurden noch 2000 weitere hinzugetan zu der Schar derer, die da glaubten. Und ehe drei Jahrzehnte vergangen waren, da hatte das Evangelium vom Kreuz die Grenzen Palästinas längst überschritten, die Städte Kleinasiens mit seinem Schall erfüllt, die großen Handelsstätte des römischen Reiches erreicht und endlich gar in der Hauptstadt des Weltreiches, des Kaisers, eine Stätte gefunden. Zehntausendfache Frucht hat es getragen, das Evangelium von dem dorngekrönten König. Und in den mehr als 1800 Jahren hat das Evangelium vom Kreuz millionenfache Frucht gebracht, die Botschaft von dem auf dem Kreuzaltar herrlich vollbrachten Opfer, durch das in Ewigkeit vollendet sind, die geheiliget werden, die Botschaft von der Sühnung unsrer Sünden durch das am Kreuz vergossene Blut. Ja, wunderbare Frucht hat es getragen, das Wort von der Versöhnung, die durch Jesum Christum geschehen ist, das Zeugnis von der Reinigung unsrer Sünden, die er gemacht hat durch sein Blut, die selige Kunde von dem Preis, um den er uns erkauft hat als Zeugnis von der ewigen Erlösung, von der ausgetilgten Handschrift und von der Freiheit von dem Gesetz, dessen Ende Jesus, der Gekreuzigte, ist.
Er hat nicht sein Leben geliebt, aber er hat uns geliebt und uns gewaschen mit seinem Blut. Er hat uns geliebt und sein Leben für uns hingegeben. Er ist vom Himmel gekommen, damit die Welt erkenne, daß er den Vater liebt und also tut, wie er ihm befohlen. So hat er des Vaters Namen verklärt und verherrlicht, und so hat ihn der Vater verherrlicht und hat ihn um seines Todes willen zum König erhöht und ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist.
Quelle: Gärtner - Eine Wochenschrift für Gemeinde und Haus 1913