Schopf, Otto - Ein jegliches nach seiner Art.

Jeder Prediger und jeder Aelteste, ja jeder Jünger Jesu, der nicht mit Kain sprechen will: „Soll ich meines Bruders Hüter sein?“, muß individualisieren können. Individualisieren heißt, ein jegliches nach seiner ihm eigentümlichen Art erkennen, achten und behandeln. Wir reden hier vom Individualisieren, sofern es sich um die Behandlung von Gläubigen handelt, mit denen wir zusammengeführt werden. Wie bei allen Fragen und Aufgaben unseres Lebens, so fragen wir auch hier: „Was sagt die Schrift?“ Nun, die Schrift zeigt uns in mannigfachen Aussprüchen, daß jeder Mensch und besonders jeder Gläubige eine Pflanze, von Gott gepflanzt, ist, und zwar eine Pflanze, die hervorgewachsen aus dem Samen des schaffenden und wiedergebärenden göttlichen Geisteswortes. So ist denn jede Individualität eine Pflanze, die schon im Keim die Anlage zu allem in sich trägt, wozu sie sich entwickeln wird. Und zwar trägt sie bei aller Gleichartigkeit mit andern ihre einzigartige Eigenart in sich und damit ein ihr innewohnendes lebendiges Gesetz ihres Lebens, dem sie nur treu zu sein braucht, um zu werden, wozu sie geschaffen ist.

Weil jede Persönlichkeit eine Pflanze ist, ist sie dem Gesetz des Wachsens und Reifens unterworfen. Diese einfachen Wahrheiten fordern nun von uns vor allem Ehrfurcht vor jeder Pflanze von Gott gepflanzt und Sorgfalt in ihrer Behandlung. Sie fordern von uns ein Studium ihrer Eigenart, ihrer Geschichte und ihrer Verhältnisse. Wir werden suchen müssen, einen Einblick darin zu gewinnen, wie der Herr selbst jeden einzelnen angelegt und begabt, geführt und behandelt hat, und werden dieselbe Behandlungsmethode einschlagen müssen, die der Herr bei ihm einschlug.

Weil jedes Kind Gottes eine Pflanze ist, werden wir wohl danach zu trachten haben, daß wir, gedrungen von der Liebe Christi, mit Freudigkeit und Kraft selbst unter Tränen den Samen des Wortes ausstreuen. Wir werden die Leute ermahnen und bitten an Christi Statt: Lasset euch versöhnen mit Gott. Aber wir werden, weder um das neue Leben hervorzubringen, noch um es zu fördern, mechanische Mittel gebrauchen, selbst auf die Gefahr hin, weniger erfolgreich zu erscheinen als andere.

Weil es sich um Wachstum handelt, werden wir Geduld bedürfen, und da bei den höchsten Lebewesen das Wachstum am langsamsten sich vollzieht, so werden wir des höchsten Grades von Geduld bedürfen. Wir dürfen ja erwarten, daß sich aus der geistgeborenen Wurzel des Glaubens mit Naturnotwendigkeit alles entwickelt, was wir von einem Jünger, und gerade von diesem Jünger Jesu erwarten dürfen. Aber wir dürfen nichts anderes tun, als den Boden rein und nahrhaft erhalten, die Pflanze reinigen, anbinden und begießen, damit sie gerade wächst und nicht vom Winde geknickt wird. Später werden wir sie stützen, aber im übrigen gilt es wachsen lassen, wie sie wächst und was wächst. Wer einem Pflänzlein mit Winden und Hebeln zum Wachstum verhelfen, wer die Knospen aufreißen und durch ein Feuer unter dem Baum das langsame Reifen beschleunigen wollte, wäre ein lächerliches und gefährliches Exemplar von einem Gärtner.

Bettex erzählt einmal von einem beinahe entwickelten Falter, dem er helfen wollte, das enge Gefängnis der Puppe zersprengen, die der Falter schon ein wenig geöffnet hatte. Er schnitt die Puppe auf, und herauskam der Falter – aber mit verkrüppelten Flügeln, die sich eben durch das Drängen aus der hindernden Umhüllung vollends hätten entwickeln sollen. Wieviel Gefahr besteht, daß mancher wohlumsponnene kirchliche Bruder, der die Flügel recken möchte und sich aus den beengenden Formen herauszuarbeiten sucht, durch einen voreiligen Helfer vor der Zeit befreit wird. Und die Folge ist, daß er nachher kränkelt und die Schuld an der Freiheit sucht, statt an der Art, wie er dazu kam.

Damit haben wir bereits eine andere Schriftwahrheit berührt, welche aus dem Begriff der ihr Lebensgesetz in sich tragenden Pflanze hervorgeht, nämlich die Wahrheit, daß die Pflanze nur dann gesund bleiben kann, wenn sie alle Freiheit hat, sich ihrem innewohnenden Gesetz treu zu entwickeln. Die Praxis des Herrn und seiner Apostel liefern uns reichlichen Stoff zur Erkenntnis dieser Wahrheit. Seht, wie der Heiland seine Jünger gewinnt! Bei jedem offenbart sich seine besondere Eigenart, jeder muß Jesum erst kennen lernen, die Kosten überschlagen und dann früh oder spät sich entscheiden. „Wer will,“ wie manchmal kehren diese und ähnliche Worte wieder. Und wie der Herr, so verlangt und gewährt auch Paulus Freiheit. Nicht gezwungen will er den Titus beschneiden, nicht gezwungen soll Markus mitziehen, er kann heimgehen, wenn er nicht mehr weiter mit will. Nicht gezwungen sollen die Korinther für Palästina beisteuern; fröhliche Geber will er und keine solchen, die murrend ihre festgestellten Kirchensteuern zahlen, und so bekommt er Leute, die nach Vermögen und über Vermögen tun.

So weit, wie meines Bruders Erkenntnis reicht, so weit darf er gehen (1. Kor. 8) im Essen und Trinken, Freien und Ledigbleiben. Derselbe Mann, der in 1. Kor. 7 gern möchte, jeder wäre ledig wie er, bekämpft im Kolosserbrief die, die verbieten, ehelich zu werden. Kein Gesetz darf sämtliche Heidenchristen binden. Wo jemand in etwas anders gesinnt ist, erwartet der Apostel, daß Gott es ihm offenbare, aber in dem, wozu man gelangt ist, möge man in denselben Fußstapfen wandeln, bis man hinankommt zu einerlei Glaube und Erkenntnis. Daß der eine einen Tag achtet vor dem andern und die andern alle Tage gleich, daß der eine alles ißt und der andere nicht, das veranlaßt den Apostel nicht, einzelne oder Gemeinden auszuschließen, die im Wesen untereinander eins sind. Nicht einmal im Jüngerkreis ist Uniformität. Der eine nimmt Geldunterstützung und heiratet, der andere erwirbt selbst seinen Unterhalt und bleibt ledig. Und wenn einer sich untersteht, über Tun und Lassen der Brüder oder über ihn selbst zur Gericht zu sitzen, so erklärte der Apostel, daß ihm das ein Geringes sei, und aß vielmehr Gottes Richterstuhl seine ausschlaggebende Instanz sei. „Was richtest du deinen Bruder?“ „Verachte deinen Bruder nicht,“ ruft er den Richtern zu.

Welche Unbehaglichkeit erweckt das Fehlen einer Schablone, nach der der Herr und seine Apostel die Leute behandelt hätten, in unserer Brust, solange wir Gesetzesmenschen und Konsequenzenmacher, d.h. Leute sind, die meinen, jede biblische Wahrheit könne jedem Gläubigen jederzeit wie ein Rechenexempel erklärt und bewiesen werden. Aber die biblischen Wahrheiten werden nur auf dem Wege lebendigen Zeugnisses in der Hörer Herzen gezeugt oder wiedergezeugt; sie werden verschiedenartig und nicht alle in gleicher Reihenfolge von den Herzen der empfänglichen Hörer aufgenommen. Gottes Plan mit jedem einzelnen und die Eigenart jedes einzelnen kommen dabei beide zu ihrem vollen Recht, aber nicht unsere engherzige Meinung, die, wie Naemann dem Elisa, sogar dem Herrn vorschreiben möchte, wann und wie er jede einzelne Wahrheit einem jeden beibringen soll. Sowie aber unser Auge geöffnet ist für das königliche Gesetz der Freiheit, bewundern wir die „mancherlei“ (wörtlich: „vielbuntfarbige“) Gnade Gottes, die ein jegliches nach seiner Art sich entwickeln läßt und heißt.

Wenn man nur sieht, wie in der Luft der Freiheit und unter dem Einfluß der Person und des Wortes Jesu bei einem Nathanael die Bedenken wie Schnee vor der Sonne schmelzen, wie die Samariterin unter Jesu Wort von Satz zu Satz der Wahrheit näher kommt; wie dem Blindgeborenen, den der Herr nach seiner Heilung sich selbst, ja gar den Händen seiner Gegner überläßt, sein Katechismus von Minute zu Minute wächst, so daß ihm aus dem „Menschen, der Jesus heißt“, ein Prophet wird, der kein Sünder sein kann, und den er schließlich als Sohn Gottes anbetet, wenn man das alles sieht, so gewinnt man Mut, die Leute nicht zu binden, sondern dem Herrn und dem Wort seiner Gnade zu überlassen.

Wir haben oben gesagt, daß die Pflanze, weil sie auf Wachstum angelegt ist, Geduld von uns verlangt. Weil sich aber dieses Wachstum nur in der Sphäre der Freiheit vollziehen kann, so bedarf der, der ihr dienen will, auch ein Anpassungsvermögen, eine Beweglichkeit und Fähigkeit, ab- und zuzugeben, je nach ihrem Standort und ihrer Eigenart. Ist solche Beweglichkeit auch zunächst eine nicht jedem Menschen beschiedene Charaktereigenschaft, so gibt es doch hinreichend Aussicht, daß jeder Gläubige das nötige Quantum davon erhält, denn in der Tat enthält die Liebe, wie sie uns der Apostel in 1. Kor. 13 schildert, alles Wesentliche, was wir an heiliger Beweglichkeit bedürfen. Die Liebe ist langmütig, d.h. urteilt nicht schnell, gibt nicht schnell auf, sie ist freundlich, d.h. sie tritt mit den besten Voraussetzungen und einem tiefen Wohlwollen an den Nächsten heran. Sie kann es ertragen, daß jemand reicher, größer, besser ist, kurz, sie läßt dem Nächsten Gerechtigkeit widerfahren ohne Eifersucht. Sie blähet sich nicht auf, sie stellt sich nicht ungebärdig und will nicht glänzen, nicht recht haben, belehren oder sich wichtig machen; sie sucht nicht das Ihre, sie will nicht ungerecht sein, sondern such das, das des andern ist, sucht auch sich in des andern Geschichte und Verhältnisse, in sein Empfinden und seine Bedürfnisse hineinzudenken. Die Liebe läßt sich nicht erbittern und rechnet das Böse nicht zu, d.h. sie läßt sich nicht durch eine unangenehme Erfahrung veranlassen, ihre Gesinnung zu ändern, läßt sich ihr Urteil nicht dadurch trüben und ihr Handeln bestimmen. Sie freut sich nicht, ein Opfer für ihren Witz und ihre Kritik gefunden zu haben oder Zeuge der moralischen Niederlage eines andern zu sein, sie freut sich nicht der Ungerechtigkeit, sondern der Wahrheit, und darum übt sie Selbstzucht an sich, um Licht und Schatten wahrheitsgemäß zu verteilen. Die Liebe trägt alles, sie duldet alles, sie hat einen breiten Rücken und eine feste Stirn, so daß sie geduldig und ausdauernd, voll von Vertrauen und heiligem Optimismus, alles glaubend, alles hoffend, ihr Werk tut. Und so gibt sie diejenige Beweglichkeit, die wir zum Individualisieren bedürfen.

Wenn wir mit solcher weitschauenden, weitherzigen und langmütigen Liebe individualisieren, so werden wir entsprechend dem vorhin betrachteten Vorbild des Herrn und seiner Apostel uns aller Proselytenmacherei enthalten, den Leuten keine Glaubensbekenntnisse aufdrängen, auch nicht einzelne Lehrpunkte.

Wir werden nicht die Jungen bereden; und die Alten, die scher noch neue Wahrheiten annehmen und sich in neue Verhältnisse finden können, sie werden wir nicht quälen mit dem, was sie nicht mehr fassen können. Mir scheint es nicht bedeutungslos, daß in der Geschichte Jesu und der Apostel die elastische und empfängliche Jugend fast ausschließlich es ist, der wir in den Anfängen der Arbeit und in der Gemeinde begegnen. Simeon und Hanna, Zacharias und Elisabeth mögen wohl noch das Heraufsteigen einer neuen Zeit begrüßen, aber an den Umwälzungen, die das Evangelium brachte, sehen wir kaum irgendwo die Alten noch Anteil nehmen.

Wo die Familien- und Erwerbsverhältnisse sehr schwierige sind und es ein großes Maß von Takt und Glauben erfordert, um eine schriftgemäße Stellung zu gewinnen und zu behaupten, werden wir gleichfalls darauf achten müssen, daß die Entschlüsse der einzelnen in der Freiheit reifen. Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt, aber was nicht aus dem Glauben kommt, ist Sünde.

Für jemanden, der in freikirchlichen Kreisen aufgewachsen ist oder in einer kirchlichen Umgebung, in der grell das Wesen der Kirche hervortrat, oder auch für einen, der in der Welt herumgekommen ist und so einen weiteren Blick gewonnen hat, ist es viel leichter, sich einer freien Gemeinde von Gläubigen anzuschließen, als für jemanden, der in verhältnismäßig guten und geordneten kirchlichen Verhältnissen groß wurde. Es ist Unzartheit und Ungerechtigkeit, wenn man das außer acht läßt und vergißt, wie sehr die Trennung von der Kirche für die erschwert wird, die alle Bande der Pietät und der Dankbarkeit, die das Vorbild und die Mißbilligung bewährter Christen hintansetzen müssen, wenn sie den Schritt tun wollen, der sich für andere durch ihre Geburt und Geschichte so einfach ergab.

Und nicht in allen Gemeinden Gläubiger ist das Leben so viel reger, die Liebe so viel wärmer, der Glaube so viel größer, kurz, Wandel und Zeugnis so viel kraftvoller, als in kirchlich-gläubigen Kreisen, daß es dadurch dem Schwankenden leicht gemacht würde zu gunsten der Gemeinden von Gläubigen zu entscheiden. Es ist so viel enges, lieb- und takt- und gedankenloses Wesen in unserer Mitte, daß wir schon um dessen willen allen Grund haben, bescheiden aufzutreten.

Und ich meine, es hieße für manche von uns die eigene Gesichte und heiße, ernste und gewissenhafte Kämpfe verleugnen, wenn wir leicht und hart die richten wollten, die bei sonst klarer Erkenntnis doch zögernd stehen, weil sie, so lange sie in der Kirche stehen, so manche offene Tür haben, die sich ihnen verschließt, wenn sie nicht mehr mit, ja aus der Kirche gehen.

Endlich ist die allgemeine Wahrheit zu berücksichtigen, daß jeder Gedanke, der neu oder erneut in die Welt tritt, Zeit braucht, um sich Bahn zu brechen. Ein gesunder und dauernder Umschwung vollzieht sich nicht mit einem Schlag, und Gott arbeitet nicht nur an den Pionieren der wieder neuentdeckten Wahrheit, sondern auch in denen, die noch unter den alten Verhältnissen und Formen ihm nach ihrer Erkenntnis dienen. Der Heiland nahm vom Vater diejenigen, die ihm der Vater gegeben hatte, und wann sie ihm der Vater gab. Und so werden auch wir uns zuwartend verhalten müssen, wen und wann der Vater uns gibt.

Aber wir haben als Gärtner der von Gott gepflanzten Pflanzen nicht nur darüber zu wachen, daß sie sich in Freiheit, sondern auch, daß sie sich dem ihnen innewohnenden Gesetze entsprechend ihrer eigenen Individualität treu entwickeln.

Für viele Leute ist der Grund zum Eintritt in irgendeine Gemeinde der, daß es ihnen dort „gefallen“ hat, daß es „schön“ war und dergleichen. Ist dies der Ausdruck eines geistlichen Instinkts, dann gut; ist diese Begründung aber nur ganz oberflächlicher Art und aus der seelischen Sphäre allein stammend, so hat sie kaum einen Wert oder Bestand. Aehnlich verhält es sich, wenn die Rücksicht auf Verheiratung oder andere irdische Vorteile zum Gemeindebeitritt führt. Wir werden auch schwachen und unklaren Geschwistern nicht den Eintritt in die Gemeinde versagen wollen, aber wir werden suchen müssen, sie zur Erkenntnis ihrer selbst und der Geringwertigkeit ihrer Beweggründe zu führen unter Hinweis auf das Wort des Herrn vom „Ueberschlagen der Kosten“.

Wir werden wachen müssen, daß nicht jemand auf die Autorität und das Vorbild der Brüder hin, ohne seiner Sache gewiß zu sein, tut und läßt, was andere tun und lassen, oder aus Furcht, nicht für einen vollwertigen Christen zu gelten, sich durch Wort und Tat den Anschein von etwas gibt, was er nicht it. Das gibt Leute wie Ananias und Saphira, die unter dem Druck des Beispieles der anderen mehr scheinen wollten, als bei ihnen innerlich wahr war, und darum zu schanden wurden.

Aber andererseits haben wir uns auch vor der entgegengesetzten Gefahr zu hüten, nämlich vor jenem die Leute machen lassen, was sie wollen, vor jener Gleichgültigkeit und Bequemlichkeit, die sich sehr mit Unrecht mit dem Namen der Freiheit schmückt, vor jener Verwischung und Vermischung, wo man nicht nur grundsatzlos, sondern auch gefühllos ist gegen vieles, was dem Herrn mißfällt und seinem Worte zuwider ist.

Wenn wir auch wohl berücksichtigen wollen das Wort: „Ihr könnt es noch nicht tragen,“ so wollen wir doch uns auch hüten vor jenem gefährlichen „es ist noch nicht Zeit“, das der Herr in Haggai 1 rügt. „Wer auf die Wolken sieht, wird nicht ernten,“ sagt die Schrift, und wer sich dahinter direkt oder indirekt zu verstecken liebt, daß die in dem Neuen Testament niedergelegten Wahrheiten durchschnittlich der Fassungskraft einzelner Kinder Gottes nicht entsprechen, der sehe nur einmal, wie viel der Heiland der Fassungskraft der Leute vor Pfingsten schon zumutete. Er hat mit der Samariterin in einer Weise geredet, daß wir, wenn er uns um Rat gefragt hätte, wohl gesagt hätten, es sei noch nicht Zeit und überschreite ihr Fassungsvermögen, was er ihr sage. Und wie vieles hat er den Jüngern und dem Volk gesagt, das seine Zuhörer nicht auf das erstemal fassen konnten.

Nur wenn wir zur rechten Zeit und zur Unzeit den ganzen Rat Gottes verkündigt haben, freilich in naturgemäßer Verteilung der Milch für die Kindlein und der festen Speise für die Erwachsenen, wenn wir treu und geduldig gestraft, ermahnt und gelehrt haben und uns bewußt sind, nicht, was nützlich ist, mit Fleiß oder Unfleiß zurückgelassen zu haben, nur dann, wenn wir das wie der Apostel öffentlich und in den Häusern getan haben, wenn wir auch sagen können wie er, daß wir jeden einzelnen bei Tag und Nacht mit Tränen ermahnten, und wenn wir ein Beispiel hinterließen, das lauter predigt als Worte, nur wenn wir das nach dem Maß der Gnade, die uns geschenkt ist, taten, können wir so ruhig wie er die Leute dem Herrn und dem Wort seiner Gnade überlassen.

Man muß nur die Pastoralbriefe des Apostels mit ihren Einzelvorschriften an Timotheus und Titus lesen, um zu sehen, wie wenig er denkt, daß man die Leute sich selbst überlassen sollte. Oder wenn man sieht, wie er in Korinth eingreift, die galatischen Irrlehrer mit ihrem falschen Evangelium verflucht, wie er Petrus entgegentritt, oder wie er sich müht, zu immer neuen Tonarten seine Sprache zu wandeln, in immer neuen Gedankengängen zu den Irrenden zu reden, so sehen wir, wie viel für uns bei allem Respekt vor der Freiheit zu tun bleibt. Und darin stimmt sein Beispiel überein mit dem Vorbild des Herrn, der sich eine Geißel flicht, um den Tempel zu reinigen, und es wahrhaftig nicht der individuellen Freiheit der Zebedaiden überließ, ob sie Feuer vom Himmel fallen lassen wollten. Wohl hat er einen Judas seine Wege gehen lassen, hat, so weit uns bekannt, durch kein direktes Tadelwort seine Verantwortung vermehrt, seine Bosheit gesteigert, er brauchte dem klaren Kopf nichts zu sagen, der so genau wußte, wie er reden und handeln mußte, um die Mitjünger zu täuschen und um nie etwas Ungeschicktes zu tun. Aber Simon, der sich selbst nicht kennt, die feurigen Donnerskinder, der einfache, treuherzige Philippus, der bedenkliche Thomas und so manche andere haben Zurechtweisungen vom Herrn erfahren; er ließ sie nicht reden und tun, was sie wollten.

Ja, wenn es galt, eine mühsam errungene und noch immer gefährdete Freiheit zu bewahren, da ließ der Herr den, der ihm folgen wollte, nicht mehr zu den verlassenen Freunden, ja selbst nicht zur trauernden Familie und zur Bahre des Vaters zurück.

Während er vielen das Reden verbot, schickte er den geheilten Gadarener nach Hause, damit er erzähle, wie große Dinge der Herr an ihm getan hat, und er, der sonst so zarte Heiland, zwingt das blutflüssige Weib vor dem ganzen Volk zu verkünden, um welcher Ursache willen sie ihn angerührt hat (Luk. 8,39).

Und auch der Apostel, der Gottes Liebe zu allen Menschen so beredt verkündigt, will, daß sein Schüler einen ketzerischen Menschen meide, daß die Thessalonicher keinen Umgang mit den Ungehorsamen haben, und den Korinthern ruft er zu: Seid nicht im ungleichen Joche mit den Ungläubigen, gehet aus ihrer Mitte, sondert euch ab, denn welchen Zusammenhang hat der Tempel Gottes mit den Ungläubigen?

So setzt denn unsere Aufgabe des Individualisierens voraus eine lebendige Erkenntnis

1. der wachstümlichen Entwicklung und verlangt daher Geduld;

2. des Freiheitsmomentes in der Individualität und verlangt von uns Beweglichkeit;

3. des Gesetzesmomentes und verlangt von uns Festigkeit.

Wenn ich sage, unsere Aufgabe setzt voraus lebendige Erkenntnis und ein entsprechendes Verhalten unsererseits, so kann ich das auch zusammenfassen unter das eine Wort – unsere seelsorgerische Aufgabe fordert von uns, daß wir seien, was wir uns nennen, freie evangelische Christen. Sind die Schriftwahrheiten, die wir verkündigen, wirklich uns in Fleisch und Blut übergegangen, so brauchen wir keine grundsätzliche Anweisung mehr, wie wir die Leute behandeln müssen, denn im Wesen unserer freien evangelischen Grundsätze liegt es, daß wir die Leute auf eine freie evangelische Weise behandeln.

Ich habe gesagt, wir brauchen dann keine grundsätzliche Anweisung mehr, wohl aber bedürfen wir der Anweisung von Fall zu Fall. Und diese empfangen wir von unserm Kirchenregiment, das wir haben, das ist unser Herr selber. Hat er, als er auf Erden wandelte, ob er wohl grundsätzlich klar war, der Gemeinschaft mit seinem Vater nicht entraten können, vom Vater sich die Worte und die Werke geben und zeigen lassen, die er tun sollte, vom Vater, der ihn allezeit hörte, und zu dem er allezeit redete. Ihm nach hat auch sein großer, geistesklarer Apostel geschrieben: „Betet auch für uns, auf daß Gott uns eine Tür des Wortes auftue, um das Geheimnis des Christus zu reden, auf daß ich es offenbare, wie ich es reden soll.“ Darum bedürfen auch wir der Geistes- und Gebetsgemeinschaft mit dem Herrn und bedürfen der Geistes- und Gebetsgemeinschaft unserer Gemeinden. Ich verweile nicht länger bei diesem Punkte, möge ein jeder von uns daheim in seinem Kämmerlein um so länger dabei verweilen!

Nur noch etwas über die Mittel zur Lösung unserer besonderen Aufgabe. Sie ergeben sich aus dem bisherigen. Zunächst nenne ich das Wort.

Das Wort, aus dem wir und unsere Gemeinden gezeugt und genährt sind, enthält und bietet, ob es als Milch oder starke Speise gegeben wird, wie jede irdische gesunde Nahrung, die Grundbestandteile unseres neuen Wesens und ebenso die Grundgesetze des neuen Menschen. Bieten wir das Wort treu dar nach der Gebrauchsanweisung, die das Wort selbst uns gibt, so bedürfen wir keiner künstlichen Mittel.

Wir werden in der Verkündigung zunächst nur wenige einfache Grundwahrheiten einzuprägen haben:

1. Die Autorität des Wortes, aus dem wir geboren sind, als Richtschnur unseres Lebens, als Prüfstein jeder Verkündigung und jeder Frömmigkeitsform, und die hieraus sich ergebende Pflicht, jeder lebendig und kräftig gewordenen Erkenntnis zu folgen, gleichviel, wohin es führe, und gleichviel, was die andern Leute sagen oder tun. Damit fällt alles hin, was nicht im Worte seinen Grund hat.

2. Die Liebe zur Wahrheit und Wahrhaftigkeit in Wort und Wandel und besonders im Verkehr mit dem Herrn. Hieraus ergibt sich die Unterlassung aller unwahren Formen und Reden, Gebärden und Gefühle und ein Sinn, der die Vermischung von Wahrheit und Lüge zu unterscheiden vermag.

3. Die Wahrheit, daß das Wesen der Welt ein von Sünde und Fleisch beherrschtes und darum im Gegensatz zu allem Geist- und Gottgeborenen stehendes ist.

4. Daß die Erlösung eine Erlösung ist nicht bloß von der Schuld, sondern auch von der Macht der Sünde und dem eitlen Wandel nach väterlicher Weise, zu einem innerlich und äußerlich abgesonderten Volk des Eigentums, das eben darum von der Welt abgesondert ist, um das Licht der Welt sein zu können.

Wir müssen den Leuten in erster Linie sagen, was recht und wahr ist, d.h. positive Wahrheiten bringen, das ist die beste Grundlage zur Bekämpfung der Lüge, des Irrtums und der Halbheit. Nicht müssen wir zuerst hundert Dinge als nicht recht und nicht wahr bezeichnen. Eine solche Kampfweise entspricht nicht dem apostolischen Vorbild und dem unseres Herrn. Positive Wahrheiten sind an sich schon Verneinungen des Irrtums, und wo sie gepflanzt und genährt werden, wird durch das Erstarken der Wahrheit der Irrtum verdrängt. So unterhält sich der Herr mit der Samariterin nicht über die Mängel des samaritanischen Gottesdienstes, er begegnet ihr wahr, sagt ihr die Wahrheit über ihr Leben und spricht mit ihr über die Anbetung des Vaters in Geist und Wahrheit. Nicht was Nikodemus alles ablegen müsse sagt ihm der Heiland, sondern daß er neu aus dem Geist geboren werden müsse.

„Tut Buße,“ erschallt der Ruf, aber nicht mit der Begründung, „denn sonst kommt ihr nicht in den Himmel,“ sondern mit dem Lockruf: „denn das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen.“

Und so hält der Apostel den Römern keine Vorlesung über die Mängel des römischen Rechts und des jüdischen Gesetzes, sondern er stärkt und vertieft ihre Erkenntnis von der vollkommenen Gerechtigkeit aus Gnaden.

Und bei den Korinthern hofft er, nicht durch eine vernichtende Kritik der griechischen Philosophiesysteme, sondern durch die törichte Predigt vom Kreuz Christi und durch Gottes heimliche Weisheit die griechische Philosophenweisheit gründlich zu diskreditieren.

Den Ephesern, denen von der Zauberei und dem Verkehr mit unreinen Geistern Gefahr drohte, zeigt er nicht lange die Ohnmacht des Teufels und die Gefährlichkeit der Zauberei, sondern er zeigt ihnen den Reichtum und die Kraft Christi, des über alle Fürstentümer und Gewalten erhabenen Herrn, der sie ins Himmlische versetzt hat.

Und aus seiner Darlegung der Allgenugsamkeit Christi im Kolosserbrief ergibt sich schon von selbst die Haltlosigkeit der Irrlehrer, die Sabbatheiligung, Speisevorschriften und Ehelosigkeit gebieten wollten.

“Durch Offenbarung der Wahrheit empfehlen wir uns an den Gewissen,“ dieser apostolische Grundsatz sei auch unser Leitstern, denn das Licht offenbart und straft durch seine Existenz und sein Wesen schon die Finsternis.

Aber das Wort ist nicht unser einziges Mittel zur Lösung unserer Aufgabe, sondern aus der Voraussetzung, daß wir seien, was wir heißen, nämlich freie evangelische Christen, ergibt sich uns jenes zweite, gewichtige Mittel, ich meine das Vorbild.

Durch das, was wir sind, und die Art, wie wir es sind, durch die Art, wie wir den Leuten begegnen, empfangen sie unmittelbar und unbeabsichtigt Eindrücke von der Wahrheit; Eindrücke, die darum nicht weniger wirksam sind, weil sie unbewußt und unbeabsichtigt von uns ausgehen und unwillkürlich auf andere einen Eindruck machen. Unsere Taten und unser Wandel bieten sich ohne alle Aufdringlichkeit dem Beobachter dar und geben ihm nicht zum Widerspruch Gelegenheit wie das Wort. Wir strafen so, ohne ein Wort zu lehren, oder wenigstens ohne daß wir eine Belehrung zu erteilen scheinen. Diese Eindrücke, die jeder nach seiner individuellen Eigenart aufnimmt, individualisieren sich selbst, wenn ich mich so ausdrücken darf, denn sie werden ohne unsere geschickte Vermittelung dem Individuum direkt mehr oder weniger zuteil.

Und das dritte und letzte Mittel entspricht unserer letzten Voraussetzung. Alle grundsätzliche Klarheit und die ihr entsprechende Persönlichkeit, unser Wort und unser Vorbild mit der vom Herrn erbetenen Anweisung für jeden besonderen Fall, bedarf zu ihrer Vollendung das Gebet.

Haben wir das Gebet bedurft, um Klarheit und Anweisung für uns selber zu bekommen, so bedarf es wiederum des Gebets, wenn unser korrektes Individualisieren gesegnet sein soll. Der fürbittende Heiland du der fürbittende Paulus, der allezeit kämpfend ringt für seine Gemeinden, sie sind uns ein Vorbild und Wegweiser für alle unsere Arbeit und so auch für ein erfolgreiches Individualisieren.

Es ist bezeichnend, daß Petrus in Apostelg. 6 für die Apostel vorbehält: „Wir aber werden im Gebet und im Dienst des Wortes verharren.“ In erster Linie am Gebet. Gibt es keine Prediger und Brüder, die so viel zu tun haben, daß sie zum Gebet wenig Zeit und noch weniger zur stillen Sammlung finden? Darf man über die Mahnung zum Gebet mit einem überlegenen Seitenblick auf die pietistische oder methodistische oder gesetzliche Art eines Bruders zur Tagesordnung übergehen, oder hat ein Luther mit seinem vielen Gebet bei vieler Arbeit und mit seinem vermehrten Gebet bei vermehrter Arbeit, hat Georg Müller und zuerst und zuletzt ein Paulus und unser betender Herr Jesus selber uns nicht etwas zu sagen inbetreff unseres Gebets und unseres Arbeitserfolges?

Das Ziel unseres Individualisierens ist nichts anderes, als daß wir wachend und reinigend, nährend und stärkend jeder Pflanze behilflich sind, sich nach Gottes Gedanken über sie und nach seinen Gaben, die er an sie gelegt hat, zu entwickeln, soweit dies hier unten geschehen kann.

Oder um jenes andere Bild zu gebrauchen: wir haben als Mitarbeiter Gottes darauf zu achten, daß jeder Stein an seinem lebendigen Tempel sich dem Plane des Meisters gemäß gestalten läßt, und bei dieser Arbeit werden wir selbst auch gestaltet nach den Gedanken des Bauherrn.

Unsere Aufgabe ist groß und verantwortungsvoll, ihre Herrlichkeit ist die Entschädigung für ihre Schwierigkeit, und wenn wir zuweilen im Blick auf unsere Unfähigkeit und die Ungefügigkeit des Materials zagen wollen, so wollen wir uns zurufen lassen:

Tu’ du willig nur das Deine,
tu’s im Glauben und Vertrau’n,
Rüste Balken, haue Steine,
Gott der Herr wird bau’n.

Ja, er wird bau’n und wir sehn im Geist schon sein Meisterwerk vollendet, ein großes, einheitliches Werk, in dem doch jedes einzelne Stück seine Eigenart und Eigenschaft hat und seinen besonderen Namen trägt, „den neuen“. Dieser Name wird das von Gott erreichte Ziel und Resultat seines Individualisierens aussprechen, unsere Individualität, unsere wahre, vollendete, geheiligte, das Lamm und den Vater verherrlichende, Gott, in dessen Bild wir geschaffen, einzigartig abbildende und wiederstrahlende Individualität. Und so werden wir Gott verherrlichen: „Ein jegliches nach seiner Art!“

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