Schlachter, Franz Eugen - Jesus liebt uns ganz gewiss

Schlachter, Franz Eugen - Jesus liebt uns ganz gewiss

Der hohe Wert von Jesu Abschiedsreden liegt in dem tiefen, unauslöschlichen Eindruck, den sie auf seine Jünger machten und den wir auch heute noch davon empfangen. Es ist nicht anzunehmen, daß jeder der Jünger jede einzelne Wort, das der Meister an jenem Abend so tiefsinnig sprach, im Gedächtnis behalten habe; dem einen wird dies, dem andern das besonders eindrücklich geblieben sein, und sie werden einander nach seinem Heimgang gegenseitig daran erinnert haben, was ihnen unter dem Beistand des Heiligen Geistes möglich war, der sie laut Jesu Verheißung an alles erinnern sollte, was er ihnen gesagt hatte. Aber die Hauptsache ist nicht die Erinnerung an jedes einzelne Wort, sondern der Eindruck, der davon bleibt, die Wirkung, die es hinterläßt. So auch, wenn wir die Worte Jesu lesen und sie miteinander besprechen.

Was war wohl der Eindruck, der den Jüngern von demjenigen Teil der Abschiedsreden ihres und unseres Herrn geblieben ist, den wir in Joh. 15 finden? Doch wohl der: Jesus liebt uns ganz gewiß! Und das war kein falscher, sondern der richtige Eindruck,, der auch uns bleiben sollte. Denn Jesus hat ausdrücklich gesagt: „Gleichwie mich der Vater liebt, also liebe ich euch; bleibet in meiner Liebe!“ Alles, was er in diesem Kapitel sonst noch gesagt hat, gruppiert sich um diese Versicherung; es dient ihr zur Begründung, zum Beweis, oder ist eine Folgerung daraus. Sehen wir also zu, daß, während wir nun die Rede durchgehen, dieser entscheidende Eindruck uns bleibe!

Als Begründung von Jesu Versicherung an sein Jünger: „Ich liebe euch!“, muß ohne allen Zwang bei näherer Betrachtung das Gleichnis vom Weinstock erscheinen.

In demselben sagt Jesus unzweideutig, daß die Seinigen mit ihm eines Stammes sind. Wie die Rebschosse mit dem Weinstock, so bilden sie mit ihm nur einen einzigen Organismus. Und zwar verdanken sie das ihm, nicht sich selbst, da es ja nicht die Rebschosse sind, welche den Weinstock hervorbringen, sondern umgekehrt. Auch werden die Schosse ihm nicht bloß eingepropft, sondern wachsen aus ihm hervor. Christus hat seine Gläubigen zu dem gemacht, was sie sind, nicht sie sich selbst. Und nun stehen sie mit ihm in einer organischen, lebenden Verbindung; es entströmt von ihm sein Geist in seine Glieder, wie aus dem Weinstock der Saft in die Rebschosse. So wirklich sind die Gläubigen mit Jesus verbunden, wie das Schoß mit dem Rebstock, nicht künstlich, sondern verwachsen, und daher auch die Liebe, wozu noch kommt, daß sie auch alle denselben Pfleger über sich haben; Jesu Vater ist der Weingärtner, der über der Verbindung wacht.

Die Verbindung der Rebschosse mit dem Weinstock ist unumgänglich notwendig zur Fruchtbarkeit; „denn getrennt von mir“, sagt er zu den Jüngern, „könnt ihr nichts tun“, d.h. nach dem Zusammenhang, keine Frucht bringen. Mit ihrer Ohnmacht zum wahrhaft Guten, begründet Jesus seine Liebe zu ihnen. „Ihr habt mich notwendig, so notwendig wie das Rebschoß den Weinstock, oder wie das Kind die Mutter; und wie eine Mutter ihr Kind liebt aus Erbarmen, weil sie weiß, wie elend das Würmchen ohne sie wäre, so liebe ich euch auch.“ Ist das nicht schön, ja rührend, unendlich dankenswert? Ja, darum wollen auch wir uns immer schicken, aus Not und Liebe nach ihm zu blicken.

Haben wir doch auch einen gemeinsamen Lebenszweck mit ihm, eben den, Gott gute Frucht zu bringen, und das verbindet, gemeinsamer Lebenszweck. Jesus liebt uns nun zwar nicht, weil wir fruchtbar sind; aber weil er uns liebt, so wünscht er unsere Fruchtbarkeit.

Zur Erhöhung der Fruchtbarkeit dient die Arbeit des Weingärtners. „Der Vater ist der Weingärtner“ sagt Jesus, und darin ist seine Liebe zu uns auch begründet, daß wir, wie er es hier auf Erden war, in der Hand des Vaters sind. Der Weingärtner reinigt die Reben von den Schmarotzern und schneidet die Schosse zurück zum Zwecke der Fruchtbildung, damit der Saft nicht ins Holz schieße. So muß ein Jünger Jesu gereinigt werden nicht nur von dem, was dem geistlichen Leben schädlich ist, sondern auch von dem Übertreibungen. In unserem kälteren Klima hat das Beschneiden noch einen anderen Zweck. In manchen Gegenden schneidet man die Reben bis zur Schneehöhe über den Boden zurück, um das Erfrieren zu verhindern, während man anderswo den ganzen Weinstock den Winter über flach auf die Erde beugt und zudeckt. Dies ist ein Bild der Erniedrigung und Demütigung, die der Christ sich gefallen lassen muß, die aber für ihn ein Bewahrungsmittel ist, also daher rührt, daß er unter Gottes liebender Fürsorge steht.

Den Beweis nun für die Wahrheit seines Satzes: „Gleichwie mich der Vater liebt, also liebe ich euch“, ist uns Jesus nicht schuldig geblieben.

Den Beweis leistete er gleich am andern Tag durch seinen Opfertod, von dem er am Abend zuvor im Verlauf des Gespräches zu ihnen sprach: „Größere Liebe hat niemand als die, daß er sein Leben läßt für seine Freunde.“ Inwiefern er das tun würde, verstanden die Jünger an jenem Tage noch nicht; sie sollten es aber noch in der gleichen Nacht erfahren, als Jesus zu seinen Häschern sagte: „Suchet ihr denn mich, so lasset diese gehen.“ Nach und nach aber wurde ihnen klar, daß der gute Hirte noch in einem viel tieferen Sinne sein Leben für seine Schafe gelassen hatte, nämlich um für sie das göttliche Zorngericht über die menschliche Sünde zu tragen, damit sie frei ausgehen könnten und Vergebung empfingen. Wer das glaubt und an sich erfährt, trägt den Beweis von Jesu Liebe in seinem Herzen.

Einen weiteren Beweis seiner Liebe gab Jesus seinen Jüngern damit, daß er sie nicht mehr Knechte, sondern Freunde nannte und auch wirklich als solche behandelte. Das ist wahr; es bildet sich mit der Zeit im Umgang mit Jesus ein wirkliches Freundschaftsverhältnis zu ihm aus, das freilich, wie er deutlich sagt, gegenseitig sein muß, indem nicht nur er uns seine Geheimnisse anvertraut, alles, was er von seinem Vater gehört hat, sondern auch wir alles tun, was er uns gebietet, also ihm auch treu sind, da ja Treue unbedingt zur Freundschaft gehört.

Als dritten Beweis seiner Liebe führt Jesus die Erwählung seiner Jünger an, zu der nicht sie den Anstoß gegeben haben, sondern die er aus eigenem Antrieb vorgenommen hat, wie er zu ihnen sagt: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt.“ Wozu? Nicht um zu glänzen und sich über andere hoch erhaben zu dünken, sondern „auf daß ihr hingehet und Frucht bringet,“ also um zu dienen. Erwählung zur Fruchtbarkeit, zu einem nützlichen Leben; ist das nicht ein Beweis, daß uns Jesus liebt? Wäre nicht ein unnützes Leben das Schrecklichste?

Und nun, welche Folgerungen haben wir aus der Tatsache zu ziehen, daß Jesus uns liebt? Es sind ihrer drei, die uns Jesus machen lehrt:

Die Folgerung des Glaubens. Zweimal sagt er ihnen in diesem Kapitel, sie dürften um deswillen, daß er sie liebe, die Erhörung ihrer Gebete erwarten (V. 7,16). Allerdings unter der Bedingung, daß sie in ihm bleiben und seine Worte in ihnen bleiben; dann aber werde ihnen der Vater sicher geben, was sie in seinem Namen bäten. Hier erhebt sich nun die Frage: Stimmt damit die Erfahrung aller Jünger Jesu überein? Es scheint nicht. Etliche bezeugen es, andere aber klagen über das Ausbleiben der Erhörung. Da ist denn zu beachten, ob wirklich alles, um was man gebetet hat, im Namen Jesu verlangt werden kann. War es nach seinem Sinn? Wenn ja, dann ist weiter zu untersuchen, ob der Beter in Jesu geblieben ist, und sein Wort in ihm, und wenn auch das der Fall wäre und die Erhörung dennoch ausgeblieben ist, so gilt es zu beachten, daß Jesus nicht sagt, wann es der Vater geben werde. Wir dürfen ihm keinen Termin setzen, sondern müssen der Stunde warten, welche der Vater seiner Macht vorbehalten hat.

Inzwischen sollten wir ja aus der Liebe Jesu nicht nur die Folgerung des Glaubens, sondern auch diejenige der Liebe ziehen, denn er spricht: „Das gebiete ich euch, daß ihr einander liebet!“ Er zieht diese Folgerungen aus seiner Liebe zu uns; denn die Rebschosse sind ja nicht nur mit dem Weinstock verbunden, sondern durch diesen auch miteinander. Es ist aber wohl zu beachten, daß Jesus diese Liebe nicht nur dem Gutfinden und der Neigung seiner Jünger überläßt, sondern sie ihnen ausdrücklich gebietet.

Endlich lehrt er sie aber auch aus seiner Liebe zu ihnen die Geduld folgern, die Geduld nicht nur miteinander, sondern sogar mit der Welt. Von dieser sollen sie keine Liebe erwarten, da sie ja nicht mehr sind als ihr Herr, der von ihr auch gehaßt wurde. Aber wie er den grundlosen Haß der Welt, der er nur Gutes erwies, geduldig getragen hat, so sollen es auch seine Jünger tun, da sie ja wissen: Es ist unserm Herrn auch nicht besser ergangen, und er liebt uns gleichwohl.

Quelle: Gärtner - Eine Wochenschrift für Gemeinde und Haus 1912

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