von der Recke, Elisa - Das Leben in der Welt, gegenüber dem Leben in Gott.

Heilige Stille der Nacht, du besänftigst, du beruhigst die letzten Bewegungen, welche die Geschäfte des Tages zurückließen; die Aufforderungen des tätigen Lebens schweigen. Ruhe, dieser sanfte Ton in den Gewirren des Lebens, ergießt seine Erquickung über die müden Kräfte. Ungestört kann ich über die Erfahrungen meines entflohenen Tages nachdenken! Mir selbst überlassen, blicke ich, von diesem Standpunkt der Zurückgezogenheit hinüber in das Streben und Leben der Welt. Wie ganz anders erscheinen dem unbefangenen Blicke die Gestalten, welche die lichten Höhen und die dunkeln Niederungen des großen Weltlebens durchwandeln. Selbstsucht, Leidenschaften und Wahn hier unten, wie dort oben, sind die bewegenden Kräfte aller der Sorgen und Bestrebungen, die einander heimlich täuschen, oder offenbar feindlich durchkreuzen. Welche Anstalten werden gemacht, welche Anstrengungen werden aufgeboten! wie viel äußere und innere Ruhe wird aufgeopfert, um zur Ruhe, zu einem unverkümmerten Selbstgenuss zu gelangen; und wenn das Ziel erreicht ist, und die Befriedigung nicht gewährt, die es darzubieten schien, oder nicht in dem Maß gewährt, welches die unersättliche Phantasie mitbrachte: dann tritt sogleich Unmut und Missvergnügen an die Stelle des Genusses; und die Steigerung des Genusses führt Sättigung, Überdruss und Ekel herbei. Die begiervolle Seele nimmt einen neuen Anlauf, die Verwirklichung ihrer phantastischen Wünsche zu erjagen, ohne sich durch frühere Erfahrungen abschrecken zu lassen, die schon oft ihre Erwartungen getäuscht hatten. Da taumelt, wie ein Trunkener, der verwilderte Sinn von einer betäubenden Lust zur andern; die Betäubung schwindet, und eine wüste, drückende Leere bleibt zurück. Der Mensch ist in nichts so beständig, als in der völligen Dahingebung: sich von seinen phantastischen Träumen belügen, und vom äußeren Schimmer täuschen zu lassen. Tief verwundet, ja selbst reuevoll, kehrt er von der Täuschung zurück, nur nicht zu sich selbst. Wie viel Elend ist mit dem Glanz der Hoheit bekleidet! wie groß ist die Zahl der Darbenden, die mitten im Überfluss irdischer Güter, den Anbau eines seligen Lebens vergeblich versuchen! - Die Sehnsucht darnach ist schuldlos, ist gerecht, und hat ihre Vollmacht vom Himmel; aber in der Wahl der Gegenstände, an welche wir sie mit ihren Ansprüchen verweisen, da liegt der Irrtum, der so gern Himmel und Erde vermischt.

Eitle Freuden, werdet ihr
In den ernsten Augenblicken,
Wenn der Tod uns ruft, und wir,
Uns nur haben, noch entzücken?
Werdet ihr zum Gräberhain
Tröstende Begleiter sein?

Ach! wir säen auf den Boden der Vergänglichkeit, um dauernde Früchte zu ernten; wir senden törichte Seufzer in die Luft, als wäre von flüchtigen Winden das Heil, der Friede zu erwarten, welchem nachzustreben wir uns nicht erwehren können!

Ja! wandelbar und flüchtig, wie die Luft, ist alles, womit das Leben der Welt anlockt, reizt, und uns so leicht vergessen lässt, nach dem wahren Heile zu ringen, welches die Frucht eines Lebens für die Ewigkeit ist!

Unvermerkt entflieht die Zeit
Der uns zugezählten Tage,
Und das Wort der Ewigkeit
Tut an uns die große Frage:
„Pilger, wie hast du gelebt?
Hast du dir mein Heil erstrebt?!

Die Erwerbungen irdischer Güter - welchen störenden Zufällen sind sie unterworfen! Die Gefahr des Falles begleitet den Stolz von Stufe zu Stufe, und steht ihm auch dort, im Glanze seiner Erhebung, zur Seite. Aber auch abgesehen von der inneren Nichtigkeit und Leere dessen, was das Leben in der Welt-Glück und Glückseligkeit nennt; abgesehen von dem gemeinen Irrtum, welcher die Herrlichkeiten und Vorzüge des Weltlebens höher zu stellen pflegt, als sie in den Verhältnissen zu unserem wahren Leben zu stehen verdienen, abgesehen von dem allen: so sind die Arten der Erwerbungen solcher Dinge, die das äußere Leben mehr oder minder glänzend und scheinbar glücklich darstellen, nicht selten mit unausbleiblichen Beeinträchtigungen unserer heiligsten Pflichten verknüpft, und eben so führt ein solcher Erwerb einen Nachzug von Qualen herbei, den der geräuschvolle Genuss augenblicklich zu übertäuben, aber nie gänzlich zu entfernen vermag.

Eitle Lust der Sinnlichkeit
Weiß mit täuschenden Gefühlen,
Ach! das Kleinod unserer Zeit
Leicht uns aus der Hand zu spielen!
Und der traurige Gewinn
Dieses Spiels ist leerer Sinn.

Die ungezügelte Leidenschaft, wenn sie einmal Besitz genommen hat von dem unbeschirmten Gemüt, so reißt sie den Menschen fort, und lässt ihn die niedrigsten, die frevelhaftesten Mittel nicht verschmähen, um den Gegenstand ihrer Begier zu erreichen. Der, nach irdischen Gütern Lüsterne wird, seinem Gelüste ganz hingegeben, nicht Anstand nehmen, das Wohlsein Andrer, wenn es die Bedingung des Erfolges ist, aufzuopfern. Der Rangsüchtige, der Ehrgeizige, wird Verstellung, Heuchelei, Verleumdung anwenden - er wird die tiefste Erniedrigung seiner Menschenwürde nicht scheuen; vor keinem Verbrechen wird er erschrecken, um denjenigen zu verdrängen, zu stürzen, der seinem Hinaufstreben entgegen steht. Er kann nicht anders; die mächtige Begierde reißt ihn fort! Die freigelassene Leidenschaft macht den freigeborenen Menschen zum Knecht! Und ist ein solcher Knecht der Besitzer eines Thrones, welche Verheerungen blühender Länder verbreitet er um sich her! welches namenlose Elend der Völker geht von ihm aus! Verwilderte Begierden sind die Quellen, aus welchen sich so viel Jammer ergießt über einzelne Menschen und ganze Völker! Wenn nun aus ihrem eng zusammengezogenen Dasein die müde, selbst oft getäuschte Seele, hinüber blickt in das Leben der Täuschungen: - welch ein Schauplatz der Verwirrungen, der Zwietracht, des Hasses und gegenseitiger Verfolgungen eröffnet sich ihr! Da sieht sie das Licht im Kampf mit den Mächten der Finsternis, die das Reich der Gewalttaten nicht wollen untergehen lassen; sie sieht das verkannte, ewige Recht von verjährtem Unrecht gedrängt und besiegt; da begegnet sie den Erinnerungen ihrer eignen Verirrungen und Fehltritte; da erblickt sie die Spuren der Anfechtungen, die den Frieden ihres Herzens zerstörten; da traten ihr von allen Seiten Veranlassungen entgegen, mit der Mahnung:

Aufstehn musst du, Erdengast,
Von dem irdischen Gelage!
Was du mitzunehmen hast,
Ist das Zeugnis deiner Tage!
Wuchre für die Ewigkeit
Mit dem Kleinod deiner Zeit! -

Wohin, wenn solche Betrachtungen die Seele bewegen, wohin soll die Geängstete sich retten vor den Schmerzgefühlen, die alsdann zu ihr eindringen?

Sie richte sich empor! und eine innere Stimme ruft ihr zu: es ist noch eine Ruh' vorhanden! eine Ruhe, deren Vorgefühl vom Himmel stammt, und den Menschen mitgegeben wurde, damit solches gleich einem tröstenden Engel den Pilgrim an die ewige Heimat erinnere. Diese innere Stimme ist es, welche die schwer geängstete Seele dahin verweist auf das Vertrauen zu dem Vater der Schöpfung, dem die Unermesslichkeit der Welten nicht zu groß, und das Menschenherz nicht zu klein ist, um mit Segnungen jene, wie dieses, zu überschütten, und beider Schicksale zu lenken. Wie oft hat es der einzelne Mensch an sich, wie oft hat er es an ganzen Völkerschaften erfahren, dass die ewige Weisheit die verwickeltesten Verworrenheiten einer solchen Auflösung zuführte, die wir nicht hoffen konnten, ja nicht zu ahnen vermochten! Recht ist alles, was jene ewige Weisheit verfügt; gut alles, was sie uns sendet. Die Torheiten der Menschen und ihre Frevel können die Entwürfe des Allweisen nicht stören! Dieses feste Vertrauen auf jene untrügliche Weisheit, mit väterlicher Milde vereint, kann die Stürme nicht abwehren, die uns überfallen; aber stärken und erheben wird es in uns dem Mut, sie zu überstehen. Dieses Vertrauen kann uns nicht befreien vom Kampf mit den Widerwärtigkeiten unseres irdischen Daseins; aber ausrüsten wird es uns mit Kräften und Waffen, den Sieg zu erringen. Nur die Seele, welche sich ganz in den Gedanken an jene höhere Weisheit versenkt, ist ihrer Ruhe sicher; sie führt ein Leben in Gott! Sie wird den Berührungen von außen nur so viel Eingang verstatten, als Aufforderungen darin enthalten sind, Menschenliebe, Wohlwollen und Nachsicht auszuüben.

Dies Leben in Gott ist nicht ein dumpfes, gedankenloses, blindes Schweben in dunkeln Gefühlen, die gehaltlosen Nebelgestalten nachziehen; es ist ein helles, heiteres Selbstbewusstsein, ein klares, freudiges Anschauen der Gegenwart und Herrlichkeit Gottes; es ist ein lebendiges Erkennen seiner Offenbarungen, die in heiligen Stunden innerlich in unserem Gemüt, und äußerlich in den Wundern der Natur, zu ihm uns erheben. Das Leben in Gott ist die wahre Heimat, die selige Ruhestätte unseres unsterblichen Geistes. Es ist die lichte Höhe, wo die Täuschungen schwinden! Da leuchtet eine helle, geistige Sonne! Die Sonne der Wahrheit, welche die Dinge, die uns umgeben oder begegnen, in ihrer wahren Bedeutung erkennen lässt. Das Erfreuliche, wie das Widerwärtige, selbst die dunkeln Schattenstellen, die Gräber geliebter Freunde, erscheinen im Lichte dieser Sonne als Übergangspunkte an der Grenze des irdischen Daseins. Unruhe, Wechsel und Tod herrschen in dem Leben der Welt: ewigen Frieden und unsterbliches Wesen gewährt uns das Leben in Gott. Hier erhebt mein Geist seinen Blick zu einer hohen Gestalt: Jesus Christus ist es, der uns das Leben in Gott heller, als jemals ein Weiser aufschloss. „Vater im „Himmel, nicht mein Wille, sondern der Deine geschehe!“ So ruft er aus, bei den furchtbarsten Begegnissen seines irdischen Wandels. Vater, Dein Wille geschehe, ist das Wort der Weihe vor dem Eingange zu einem stillen, frommen Leben, - zu einem seligen Leben in Gott!

Hat reine, stille Frömmigkeit
Die Seele sich errungen:
Mit tröstender Zufriedenheit
Fühlt sie sich dann durchdrungen.
Sie traut auf Gott! ihr Glaube spricht:
Der Herr ist meine Zuversicht,
Ich weiß, an wen ich glaube!

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